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Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.

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Es wäre aber auch möglich, schon mit der Niederlage pst_117.002
Hektors zu schließen. Wo immer sich aber auch die pst_117.003
Lage und die Erzählung dramatisch zuspitzt, die Macht pst_117.004
der Spannung wird wieder gebrochen, als wolle der pst_117.005
Dichter den Hörer bedeuten, der Weg sei wichtiger als pst_117.006
irgendein Ziel. Das heißt: die "Ilias" ist im Ganzen und pst_117.007
Einzelnen vorzüglich episch. Und ebenso die "Odyssee". pst_117.008
Sie findet zwar in der Heimkehr und im Sieg des Helden pst_117.009
über die Freier den lang erwarteten Schluß, von pst_117.010
dem aus kaum eine Fortsetzung möglich ist. Gerade pst_117.011
deshalb aber, weil alles auf den natürlichen Schluß hinläuft, pst_117.012
tut der Dichter das Möglichste, die Spannung pst_117.013
dennoch zu vermeiden. Im ersten Gesang schon beschließen pst_117.014
die Götter, Odysseus endlich heimkehren zu pst_117.015
lassen. Wenn sogar Zeus dem Beschluß zustimmt, so pst_117.016
wissen wir, daß dem Dulder nun nichts Ernstliches pst_117.017
mehr zustoßen kann. Die Versicherung wird dann noch pst_117.018
oft wiederholt, damit sie der Hörer ja nicht vergesse. pst_117.019
Seine gefährlichsten Abenteuer muß Odysseus selbst erzählen, pst_117.020
lebendiger Bürge, daß die Sirenen ihn nicht pst_117.021
verderben, das der Zyklop ihn nicht frißt und das Meer pst_117.022
ihn nicht verschlingt. So beruhigt kann der Hörer alles pst_117.023
mit festem Blick betrachten, was der Vielgewandte erfahren, pst_117.024
die Wunder der fremden Länder und Meere, pst_117.025
der ganzen noch wenig erschlossenen Welt.

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In diesem Sinne haben sich Goethe und Schiller über pst_117.027
das Epos geäußert. Während der langen Kontroverse pst_117.028
spricht Schiller gelegentlich das Gesetz des Epischen mit pst_117.029
den Worten aus:

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"Der Zweck des epischen Dichters liegt schon in jedem pst_117.031
Punkte seiner Bewegung; darum eilen wir nicht ungeduldig

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Es wäre aber auch möglich, schon mit der Niederlage pst_117.002
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der ganzen noch wenig erschlossenen Welt.

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  In diesem Sinne haben sich Goethe und Schiller über pst_117.027
das Epos geäußert. Während der langen Kontroverse pst_117.028
spricht Schiller gelegentlich das Gesetz des Epischen mit pst_117.029
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[117/0121] pst_117.001 Es wäre aber auch möglich, schon mit der Niederlage pst_117.002 Hektors zu schließen. Wo immer sich aber auch die pst_117.003 Lage und die Erzählung dramatisch zuspitzt, die Macht pst_117.004 der Spannung wird wieder gebrochen, als wolle der pst_117.005 Dichter den Hörer bedeuten, der Weg sei wichtiger als pst_117.006 irgendein Ziel. Das heißt: die «Ilias» ist im Ganzen und pst_117.007 Einzelnen vorzüglich episch. Und ebenso die «Odyssee». pst_117.008 Sie findet zwar in der Heimkehr und im Sieg des Helden pst_117.009 über die Freier den lang erwarteten Schluß, von pst_117.010 dem aus kaum eine Fortsetzung möglich ist. Gerade pst_117.011 deshalb aber, weil alles auf den natürlichen Schluß hinläuft, pst_117.012 tut der Dichter das Möglichste, die Spannung pst_117.013 dennoch zu vermeiden. Im ersten Gesang schon beschließen pst_117.014 die Götter, Odysseus endlich heimkehren zu pst_117.015 lassen. Wenn sogar Zeus dem Beschluß zustimmt, so pst_117.016 wissen wir, daß dem Dulder nun nichts Ernstliches pst_117.017 mehr zustoßen kann. Die Versicherung wird dann noch pst_117.018 oft wiederholt, damit sie der Hörer ja nicht vergesse. pst_117.019 Seine gefährlichsten Abenteuer muß Odysseus selbst erzählen, pst_117.020 lebendiger Bürge, daß die Sirenen ihn nicht pst_117.021 verderben, das der Zyklop ihn nicht frißt und das Meer pst_117.022 ihn nicht verschlingt. So beruhigt kann der Hörer alles pst_117.023 mit festem Blick betrachten, was der Vielgewandte erfahren, pst_117.024 die Wunder der fremden Länder und Meere, pst_117.025 der ganzen noch wenig erschlossenen Welt. pst_117.026   In diesem Sinne haben sich Goethe und Schiller über pst_117.027 das Epos geäußert. Während der langen Kontroverse pst_117.028 spricht Schiller gelegentlich das Gesetz des Epischen mit pst_117.029 den Worten aus: pst_117.030   «Der Zweck des epischen Dichters liegt schon in jedem pst_117.031 Punkte seiner Bewegung; darum eilen wir nicht ungeduldig

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Zitationshilfe: Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946, S. 117. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/121>, abgerufen am 21.11.2024.