Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.

Bild:
<< vorherige Seite

pst_118.001
zu einem Ziele, sondern verweilen uns mit Liebe pst_118.002
bei jedem Schritte1."

pst_118.003

Damit dürfte auch Lessing zugleich anerkannt und pst_118.004
berichtigt sein. Als auf die Sprache angewiesener Dichter pst_118.005
schreitet der Epiker fort und folgt dem Nacheinander pst_118.006
der Zeit, im Gegensatz zu dem bildenden Künstler, pst_118.007
der dasteht und das Nebeneinander und Hintereinander pst_118.008
des Raumes erfaßt. Bei jedem Schritt aber hält der Epiker pst_118.009
inne und sieht sich von festem Standpunkt aus pst_118.010
einen festen Gegenstand an. Jetzt dies, jetzt jenes: die pst_118.011
Zeit vergeht, indem der Dichter ein Bild nach dem anderen pst_118.012
wahrnimmt und dem Hörer zeigt. Er wird so lange pst_118.013
verweilen, bis das Bild sich deutlich eingeprägt hat, pst_118.014
aber nicht länger, als der Hörer im Nacheinander der pst_118.015
Worte noch das Nebeneinander, das sie bedeuten, leicht pst_118.016
im Gedächtnis behalten kann. Alles was Lessing an der pst_118.017
Kunst Homers rühmt, läßt sich so erklären, ohne daß pst_118.018
man genötigt wäre, auch den Übertreibungen zuzustimmen, pst_118.019
zu denen ihn der polemische Eifer hinriß.

pst_118.020
4.
pst_118.021

Dasselbe Gesetz hat Schiller auch in die Worte gefaßt:

pst_118.022
pst_118.023

"Die Selbständigkeit seiner Teile macht einen Hauptcharakter pst_118.024
des epischen Gedichtes aus1 ."

pst_118.025

Als selbständige Teile kommen bereits die einzelnen pst_118.026
Verse in Betracht. Ein lyrischer Vers ist nicht selbständig. pst_118.027
Mit einer Zeile wie "Die Fenster glänzten weit"

1 pst_118.028
An Goethe, 21. April 1797.

pst_118.001
zu einem Ziele, sondern verweilen uns mit Liebe pst_118.002
bei jedem Schritte1

pst_118.003

  Damit dürfte auch Lessing zugleich anerkannt und pst_118.004
berichtigt sein. Als auf die Sprache angewiesener Dichter pst_118.005
schreitet der Epiker fort und folgt dem Nacheinander pst_118.006
der Zeit, im Gegensatz zu dem bildenden Künstler, pst_118.007
der dasteht und das Nebeneinander und Hintereinander pst_118.008
des Raumes erfaßt. Bei jedem Schritt aber hält der Epiker pst_118.009
inne und sieht sich von festem Standpunkt aus pst_118.010
einen festen Gegenstand an. Jetzt dies, jetzt jenes: die pst_118.011
Zeit vergeht, indem der Dichter ein Bild nach dem anderen pst_118.012
wahrnimmt und dem Hörer zeigt. Er wird so lange pst_118.013
verweilen, bis das Bild sich deutlich eingeprägt hat, pst_118.014
aber nicht länger, als der Hörer im Nacheinander der pst_118.015
Worte noch das Nebeneinander, das sie bedeuten, leicht pst_118.016
im Gedächtnis behalten kann. Alles was Lessing an der pst_118.017
Kunst Homers rühmt, läßt sich so erklären, ohne daß pst_118.018
man genötigt wäre, auch den Übertreibungen zuzustimmen, pst_118.019
zu denen ihn der polemische Eifer hinriß.

pst_118.020
4.
pst_118.021

  Dasselbe Gesetz hat Schiller auch in die Worte gefaßt:

pst_118.022
pst_118.023

  «Die Selbständigkeit seiner Teile macht einen Hauptcharakter pst_118.024
des epischen Gedichtes aus1

pst_118.025

  Als selbständige Teile kommen bereits die einzelnen pst_118.026
Verse in Betracht. Ein lyrischer Vers ist nicht selbständig. pst_118.027
Mit einer Zeile wie «Die Fenster glänzten weit»

1 pst_118.028
An Goethe, 21. April 1797.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0122" n="118"/><lb n="pst_118.001"/>
zu einem Ziele, sondern verweilen uns mit Liebe <lb n="pst_118.002"/>
bei jedem Schritte<note xml:id="PST_118_1" place="foot" n="1"><lb n="pst_118.028"/>
An Goethe, 21. April 1797.</note></p>
          <lb n="pst_118.003"/>
          <p>  Damit dürfte auch Lessing zugleich anerkannt und <lb n="pst_118.004"/>
berichtigt sein. Als auf die Sprache angewiesener Dichter <lb n="pst_118.005"/>
schreitet der Epiker fort und folgt dem Nacheinander <lb n="pst_118.006"/>
der Zeit, im Gegensatz zu dem bildenden Künstler, <lb n="pst_118.007"/>
der dasteht und das Nebeneinander und Hintereinander <lb n="pst_118.008"/>
des Raumes erfaßt. Bei jedem Schritt aber hält der Epiker <lb n="pst_118.009"/>
inne und sieht sich von festem Standpunkt aus <lb n="pst_118.010"/>
einen festen Gegenstand an. Jetzt dies, jetzt jenes: die <lb n="pst_118.011"/>
Zeit vergeht, indem der Dichter ein Bild nach dem anderen <lb n="pst_118.012"/>
wahrnimmt und dem Hörer zeigt. Er wird so lange <lb n="pst_118.013"/>
verweilen, bis das Bild sich deutlich eingeprägt hat, <lb n="pst_118.014"/>
aber nicht länger, als der Hörer im Nacheinander der <lb n="pst_118.015"/>
Worte noch das Nebeneinander, das sie bedeuten, leicht <lb n="pst_118.016"/>
im Gedächtnis behalten kann. Alles was Lessing an der <lb n="pst_118.017"/>
Kunst Homers rühmt, läßt sich so erklären, ohne daß <lb n="pst_118.018"/>
man genötigt wäre, auch den Übertreibungen zuzustimmen, <lb n="pst_118.019"/>
zu denen ihn der polemische Eifer hinriß.</p>
        </div>
        <div n="2">
          <lb n="pst_118.020"/>
          <head> <hi rendition="#c">4.</hi> </head>
          <lb n="pst_118.021"/>
          <p>  Dasselbe Gesetz hat Schiller auch in die Worte gefaßt:</p>
          <lb n="pst_118.022"/>
          <lb n="pst_118.023"/>
          <p>  «Die Selbständigkeit seiner Teile macht einen Hauptcharakter <lb n="pst_118.024"/>
des epischen Gedichtes aus<note sameAs="#PST_118_1" xml:id="PST_118_1a" place="foot" n="1"/></p>
          <lb n="pst_118.025"/>
          <p>  Als selbständige Teile kommen bereits die einzelnen <lb n="pst_118.026"/>
Verse in Betracht. Ein lyrischer Vers ist nicht selbständig. <lb n="pst_118.027"/>
Mit einer Zeile wie «Die Fenster glänzten weit»
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[118/0122] pst_118.001 zu einem Ziele, sondern verweilen uns mit Liebe pst_118.002 bei jedem Schritte 1.» pst_118.003   Damit dürfte auch Lessing zugleich anerkannt und pst_118.004 berichtigt sein. Als auf die Sprache angewiesener Dichter pst_118.005 schreitet der Epiker fort und folgt dem Nacheinander pst_118.006 der Zeit, im Gegensatz zu dem bildenden Künstler, pst_118.007 der dasteht und das Nebeneinander und Hintereinander pst_118.008 des Raumes erfaßt. Bei jedem Schritt aber hält der Epiker pst_118.009 inne und sieht sich von festem Standpunkt aus pst_118.010 einen festen Gegenstand an. Jetzt dies, jetzt jenes: die pst_118.011 Zeit vergeht, indem der Dichter ein Bild nach dem anderen pst_118.012 wahrnimmt und dem Hörer zeigt. Er wird so lange pst_118.013 verweilen, bis das Bild sich deutlich eingeprägt hat, pst_118.014 aber nicht länger, als der Hörer im Nacheinander der pst_118.015 Worte noch das Nebeneinander, das sie bedeuten, leicht pst_118.016 im Gedächtnis behalten kann. Alles was Lessing an der pst_118.017 Kunst Homers rühmt, läßt sich so erklären, ohne daß pst_118.018 man genötigt wäre, auch den Übertreibungen zuzustimmen, pst_118.019 zu denen ihn der polemische Eifer hinriß. pst_118.020 4. pst_118.021   Dasselbe Gesetz hat Schiller auch in die Worte gefaßt: pst_118.022 pst_118.023   «Die Selbständigkeit seiner Teile macht einen Hauptcharakter pst_118.024 des epischen Gedichtes aus 1 .» pst_118.025   Als selbständige Teile kommen bereits die einzelnen pst_118.026 Verse in Betracht. Ein lyrischer Vers ist nicht selbständig. pst_118.027 Mit einer Zeile wie «Die Fenster glänzten weit» 1 pst_118.028 An Goethe, 21. April 1797. 1

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/122
Zitationshilfe: Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946, S. 118. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/122>, abgerufen am 21.11.2024.