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Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.

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Wort. So muß die Idee von "lyrisch" dem entsprechen, pst_010.002
was man gemeinhin, ohne klaren Begriff, als lyrisch bezeichnet. pst_010.003
Das ist nicht der Durchschnitt dessen, was nach pst_010.004
äußeren Merkmalen Lyrik heißt. Niemand denkt bei "lyrischer pst_010.005
Stimmung", "lyrischem Ton" an ein Epigramm; pst_010.006
doch jedermann denkt dabei an ein Lied. Niemand denkt pst_010.007
bei "epischer Ruhe", "epischer Fülle" an Klopstocks pst_010.008
"Messias". Man denkt am ehesten an Homer, ja nicht pst_010.009
einmal an den ganzen Homer, sondern an vorzüglich epische pst_010.010
Stellen, denen sich andere, mehr dramatische oder pst_010.011
mehr lyrische, anschließen mögen. An solchen Beispielen pst_010.012
müssen die Gattungsbegriffe herausgearbeitet werden.

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Insofern besteht allerdings ein Zusammenhang zwischen pst_010.014
dem Lyrischen und der Lyrik, dem Epischen und pst_010.015
dem Epos, dem Dramatischen und dem Drama. Die pst_010.016
Kardinalbeispiele des Lyrischen werden vermutlich in pst_010.017
der Lyrik, die des Epischen vermutlich in Epen zu finden pst_010.018
sein. Daß aber irgendwo eine Dichtung anzutreffen pst_010.019
sei, die rein lyrisch, rein episch oder dramatisch wäre, pst_010.020
ist nicht von vornherein ausgemacht. Unsere Untersuchung pst_010.021
wird im Gegenteil zu dem Ergebnis gelangen, pst_010.022
daß jede echte Dichtung an allen Gattungsideen in verschiedenen pst_010.023
Graden und Weisen beteiligt ist und daß die pst_010.024
Verschiedenheit des Anteils die unübersehbare Fülle pst_010.025
der historisch gewordenen Arten begründet.

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Man könnte noch fragen, ob die Dreizahl lyrisch - pst_010.027
episch - dramatisch selbstverständlich vorausgesetzt pst_010.028
werden dürfe. Irene Behrens1 hat gezeigt, daß sie erst pst_010.029
am Ende des 18. Jahrhunderts in Deutschland aufgekommen

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Die Lehre von der Einteilung der Dichtkunst, Beihefte zur Zeitschrift pst_010.031
für romanische Philologie 1940.

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Wort. So muß die Idee von «lyrisch» dem entsprechen, pst_010.002
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Das ist nicht der Durchschnitt dessen, was nach pst_010.004
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einmal an den ganzen Homer, sondern an vorzüglich epische pst_010.010
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mehr lyrische, anschließen mögen. An solchen Beispielen pst_010.012
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  Insofern besteht allerdings ein Zusammenhang zwischen pst_010.014
dem Lyrischen und der Lyrik, dem Epischen und pst_010.015
dem Epos, dem Dramatischen und dem Drama. Die pst_010.016
Kardinalbeispiele des Lyrischen werden vermutlich in pst_010.017
der Lyrik, die des Epischen vermutlich in Epen zu finden pst_010.018
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sei, die rein lyrisch, rein episch oder dramatisch wäre, pst_010.020
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wird im Gegenteil zu dem Ergebnis gelangen, pst_010.022
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Graden und Weisen beteiligt ist und daß die pst_010.024
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  Man könnte noch fragen, ob die Dreizahl lyrisch – pst_010.027
episch – dramatisch selbstverständlich vorausgesetzt pst_010.028
werden dürfe. Irene Behrens1 hat gezeigt, daß sie erst pst_010.029
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Zitationshilfe: Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946, S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/14>, abgerufen am 28.04.2024.