Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.pst_167.001 pst_167.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0171" n="167"/><lb n="pst_167.001"/> und unterschieden sein, auf einem erhöhten <lb n="pst_167.002"/> oder anders ausgezeichneten Podium stehen, Kothurn <lb n="pst_167.003"/> und Maske tragen oder über eine Rampe hinweg die <lb n="pst_167.004"/> Masse des Publikums erschüttern. Die Bühne in irgendeiner <lb n="pst_167.005"/> Form, und sei es nur die Rednerbühne, wird vom <lb n="pst_167.006"/> pathetischen Stil mit unausweichlicher Konsequenz gefordert. <lb n="pst_167.007"/> Der erste Mensch, der auf einen Stein, auf eine <lb n="pst_167.008"/> Erhöhung gesprungen ist, um einigen Leuten zuzusprechen, <lb n="pst_167.009"/> um ihnen zu zeigen, daß er voraus sei, hat <lb n="pst_167.010"/> schon die Bühne vorbereitet. Die Rampe, oder was immer <lb n="pst_167.011"/> es sein mag, läßt die Täuschung nicht aufkommen, <lb n="pst_167.012"/> daß bereits Einigkeit bestehe, wenn der Redner zu <lb n="pst_167.013"/> sprechen beginnt. Augenfällig zeigt sie, was noch geleistet <lb n="pst_167.014"/> werden, wie weit der träge Hörer sich noch erheben <lb n="pst_167.015"/> muß; sie aktiviert die pathetische Kraft. Wenn neuere <lb n="pst_167.016"/> Theaterdichter also die Rampe beseitigen wollen, so <lb n="pst_167.017"/> heißt das nur, daß ihnen der Sinn für die pathetische <lb n="pst_167.018"/> Rede abgeht, daß sie vom Theater anderes, vielleicht <lb n="pst_167.019"/> gar lyrische Wirkungen oder epische Schaustellungen <lb n="pst_167.020"/> erwarten. Auch auf diese Weise können bühnenfähige <lb n="pst_167.021"/> Stücke entstehen. Und manches ist hier möglich, was <lb n="pst_167.022"/> sich in pathetischer Dichtung verbietet: psychologische <lb n="pst_167.023"/> Feinheit in der Mimik zum Beispiel, in der Stimme, <lb n="pst_167.024"/> zarte Andeutungen im Dialog. Dergleichen büßt über <lb n="pst_167.025"/> die Rampe hinweg, je schroffer sie ist, an Wirkung ein. <lb n="pst_167.026"/> Goethes «Tasso», die Dramen Ibsens sind nur als Kammerspiele <lb n="pst_167.027"/> möglich. Wenn die Rampe auch da noch, obgleich <lb n="pst_167.028"/> nur als schmale Linie, bestehen bleibt, so ist ihr <lb n="pst_167.029"/> stilistischer Wert verändert. Sie scheidet die Welt des <lb n="pst_167.030"/> künstlerischen Scheins von der Wirklichkeit und darf <lb n="pst_167.031"/> darum gerade nicht überspielt werden. Der pathetische </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [167/0171]
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und unterschieden sein, auf einem erhöhten pst_167.002
oder anders ausgezeichneten Podium stehen, Kothurn pst_167.003
und Maske tragen oder über eine Rampe hinweg die pst_167.004
Masse des Publikums erschüttern. Die Bühne in irgendeiner pst_167.005
Form, und sei es nur die Rednerbühne, wird vom pst_167.006
pathetischen Stil mit unausweichlicher Konsequenz gefordert. pst_167.007
Der erste Mensch, der auf einen Stein, auf eine pst_167.008
Erhöhung gesprungen ist, um einigen Leuten zuzusprechen, pst_167.009
um ihnen zu zeigen, daß er voraus sei, hat pst_167.010
schon die Bühne vorbereitet. Die Rampe, oder was immer pst_167.011
es sein mag, läßt die Täuschung nicht aufkommen, pst_167.012
daß bereits Einigkeit bestehe, wenn der Redner zu pst_167.013
sprechen beginnt. Augenfällig zeigt sie, was noch geleistet pst_167.014
werden, wie weit der träge Hörer sich noch erheben pst_167.015
muß; sie aktiviert die pathetische Kraft. Wenn neuere pst_167.016
Theaterdichter also die Rampe beseitigen wollen, so pst_167.017
heißt das nur, daß ihnen der Sinn für die pathetische pst_167.018
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gar lyrische Wirkungen oder epische Schaustellungen pst_167.020
erwarten. Auch auf diese Weise können bühnenfähige pst_167.021
Stücke entstehen. Und manches ist hier möglich, was pst_167.022
sich in pathetischer Dichtung verbietet: psychologische pst_167.023
Feinheit in der Mimik zum Beispiel, in der Stimme, pst_167.024
zarte Andeutungen im Dialog. Dergleichen büßt über pst_167.025
die Rampe hinweg, je schroffer sie ist, an Wirkung ein. pst_167.026
Goethes «Tasso», die Dramen Ibsens sind nur als Kammerspiele pst_167.027
möglich. Wenn die Rampe auch da noch, obgleich pst_167.028
nur als schmale Linie, bestehen bleibt, so ist ihr pst_167.029
stilistischer Wert verändert. Sie scheidet die Welt des pst_167.030
künstlerischen Scheins von der Wirklichkeit und darf pst_167.031
darum gerade nicht überspielt werden. Der pathetische
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(2015-09-30T09:54:39Z)
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