Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.

Bild:
<< vorherige Seite

pst_192.001
klagt an, der andere verteidigt. So wird im Drama und pst_192.002
im Gericht das Leben nicht dargestellt, sondern beurteilt.

pst_192.003
pst_192.004

Deshalb drängt das Drama von innen heraus auch zur pst_192.005
äußern Form des Gerichts, wie eine große Zahl von Bühnenwerken pst_192.006
verschiedener Zeiten bezeugt. Die aischyleische pst_192.007
Orestie gipfelt in der gewaltigen Szene vor dem pst_192.008
athenischen Areopag, wo die Götter und die Menschen pst_192.009
vor Gericht gezogen werden und die Plädoyers der nächtigen pst_192.010
und der hellen Mächte und zumal Athenes Urteilsspruch pst_192.011
rückwirkend erst den gesamten Verlauf vom pst_192.012
Auszug nach Troia bis zum Tod Agamemnons und pst_192.013
Klytaimnestras erklären. Im "König Ödipus" hat Sophokles pst_192.014
die bedeutendste Möglichkeit dramatischer Poesie pst_192.015
entdeckt: der Held tritt auf als schuldiger Richter; pst_192.016
die Leidenschaft des Fragens, das Pathos des Rechts zerstört pst_192.017
zuletzt ihn selbst. Auch in "Antigone" findet ein pst_192.018
Gericht, ein menschliches zuerst durch Kreon, dann das pst_192.019
göttliche, von Teiresias angekündigte, statt. In der Barocktragödie pst_192.020
erscheint nicht selten der Fürst, um den pst_192.021
Streit zu schlichten. Kleist, im "Zerbrochenen Krug", pst_192.022
hat das alte Thema ins Komische gewendet und im pst_192.023
"Prinz Friedrich von Homburg" das Urteil über den unbesonnenen pst_192.024
Jüngling aus den Händen der buchstabentreuen, pst_192.025
"eulengleichen" Richter genommen und einem pst_192.026
höheren Gericht, dem Kurfürsten als dem Sprecher des pst_192.027
Herrn, unterbreitet. Ibsen endlich hat sein Dichten pst_192.028
selbst ein "Gerichtstag halten" genannt, und wenn er pst_192.029
auch auf der Bühne kaum je ein Gerichtsverfahren pst_192.030
durchführt, so redigiert er doch meist das Geschehen pst_192.031
wie für die Akten eines Prozesses.

pst_192.001
klagt an, der andere verteidigt. So wird im Drama und pst_192.002
im Gericht das Leben nicht dargestellt, sondern beurteilt.

pst_192.003
pst_192.004

  Deshalb drängt das Drama von innen heraus auch zur pst_192.005
äußern Form des Gerichts, wie eine große Zahl von Bühnenwerken pst_192.006
verschiedener Zeiten bezeugt. Die aischyleische pst_192.007
Orestie gipfelt in der gewaltigen Szene vor dem pst_192.008
athenischen Areopag, wo die Götter und die Menschen pst_192.009
vor Gericht gezogen werden und die Plädoyers der nächtigen pst_192.010
und der hellen Mächte und zumal Athenes Urteilsspruch pst_192.011
rückwirkend erst den gesamten Verlauf vom pst_192.012
Auszug nach Troia bis zum Tod Agamemnons und pst_192.013
Klytaimnestras erklären. Im «König Ödipus» hat Sophokles pst_192.014
die bedeutendste Möglichkeit dramatischer Poesie pst_192.015
entdeckt: der Held tritt auf als schuldiger Richter; pst_192.016
die Leidenschaft des Fragens, das Pathos des Rechts zerstört pst_192.017
zuletzt ihn selbst. Auch in «Antigone» findet ein pst_192.018
Gericht, ein menschliches zuerst durch Kreon, dann das pst_192.019
göttliche, von Teiresias angekündigte, statt. In der Barocktragödie pst_192.020
erscheint nicht selten der Fürst, um den pst_192.021
Streit zu schlichten. Kleist, im «Zerbrochenen Krug», pst_192.022
hat das alte Thema ins Komische gewendet und im pst_192.023
«Prinz Friedrich von Homburg» das Urteil über den unbesonnenen pst_192.024
Jüngling aus den Händen der buchstabentreuen, pst_192.025
«eulengleichen» Richter genommen und einem pst_192.026
höheren Gericht, dem Kurfürsten als dem Sprecher des pst_192.027
Herrn, unterbreitet. Ibsen endlich hat sein Dichten pst_192.028
selbst ein «Gerichtstag halten» genannt, und wenn er pst_192.029
auch auf der Bühne kaum je ein Gerichtsverfahren pst_192.030
durchführt, so redigiert er doch meist das Geschehen pst_192.031
wie für die Akten eines Prozesses.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0196" n="192"/><lb n="pst_192.001"/>
klagt an, der andere verteidigt. So wird im Drama und <lb n="pst_192.002"/>
im Gericht das Leben nicht dargestellt, sondern beurteilt.</p>
          <lb n="pst_192.003"/>
          <lb n="pst_192.004"/>
          <p>  Deshalb drängt das Drama von innen heraus auch zur <lb n="pst_192.005"/>
äußern Form des Gerichts, wie eine große Zahl von Bühnenwerken <lb n="pst_192.006"/>
verschiedener Zeiten bezeugt. Die aischyleische <lb n="pst_192.007"/>
Orestie gipfelt in der gewaltigen Szene vor dem <lb n="pst_192.008"/>
athenischen Areopag, wo die Götter und die Menschen <lb n="pst_192.009"/>
vor Gericht gezogen werden und die Plädoyers der nächtigen <lb n="pst_192.010"/>
und der hellen Mächte und zumal Athenes Urteilsspruch <lb n="pst_192.011"/>
rückwirkend erst den gesamten Verlauf vom <lb n="pst_192.012"/>
Auszug nach Troia bis zum Tod Agamemnons und <lb n="pst_192.013"/>
Klytaimnestras erklären. Im «König Ödipus» hat Sophokles <lb n="pst_192.014"/>
die bedeutendste Möglichkeit dramatischer Poesie <lb n="pst_192.015"/>
entdeckt: der Held tritt auf als schuldiger Richter; <lb n="pst_192.016"/>
die Leidenschaft des Fragens, das Pathos des Rechts zerstört <lb n="pst_192.017"/>
zuletzt ihn selbst. Auch in «Antigone» findet ein <lb n="pst_192.018"/>
Gericht, ein menschliches zuerst durch Kreon, dann das <lb n="pst_192.019"/>
göttliche, von Teiresias angekündigte, statt. In der Barocktragödie <lb n="pst_192.020"/>
erscheint nicht selten der Fürst, um den <lb n="pst_192.021"/>
Streit zu schlichten. Kleist, im «Zerbrochenen Krug», <lb n="pst_192.022"/>
hat das alte Thema ins Komische gewendet und im <lb n="pst_192.023"/>
«Prinz Friedrich von Homburg» das Urteil über den unbesonnenen <lb n="pst_192.024"/>
Jüngling aus den Händen der buchstabentreuen, <lb n="pst_192.025"/>
«eulengleichen» Richter genommen und einem <lb n="pst_192.026"/>
höheren Gericht, dem Kurfürsten als dem Sprecher des <lb n="pst_192.027"/>
Herrn, unterbreitet. Ibsen endlich hat sein Dichten <lb n="pst_192.028"/>
selbst ein «Gerichtstag halten» genannt, und wenn er <lb n="pst_192.029"/>
auch auf der Bühne kaum je ein Gerichtsverfahren <lb n="pst_192.030"/>
durchführt, so redigiert er doch meist das Geschehen <lb n="pst_192.031"/>
wie für die Akten eines Prozesses.</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[192/0196] pst_192.001 klagt an, der andere verteidigt. So wird im Drama und pst_192.002 im Gericht das Leben nicht dargestellt, sondern beurteilt. pst_192.003 pst_192.004   Deshalb drängt das Drama von innen heraus auch zur pst_192.005 äußern Form des Gerichts, wie eine große Zahl von Bühnenwerken pst_192.006 verschiedener Zeiten bezeugt. Die aischyleische pst_192.007 Orestie gipfelt in der gewaltigen Szene vor dem pst_192.008 athenischen Areopag, wo die Götter und die Menschen pst_192.009 vor Gericht gezogen werden und die Plädoyers der nächtigen pst_192.010 und der hellen Mächte und zumal Athenes Urteilsspruch pst_192.011 rückwirkend erst den gesamten Verlauf vom pst_192.012 Auszug nach Troia bis zum Tod Agamemnons und pst_192.013 Klytaimnestras erklären. Im «König Ödipus» hat Sophokles pst_192.014 die bedeutendste Möglichkeit dramatischer Poesie pst_192.015 entdeckt: der Held tritt auf als schuldiger Richter; pst_192.016 die Leidenschaft des Fragens, das Pathos des Rechts zerstört pst_192.017 zuletzt ihn selbst. Auch in «Antigone» findet ein pst_192.018 Gericht, ein menschliches zuerst durch Kreon, dann das pst_192.019 göttliche, von Teiresias angekündigte, statt. In der Barocktragödie pst_192.020 erscheint nicht selten der Fürst, um den pst_192.021 Streit zu schlichten. Kleist, im «Zerbrochenen Krug», pst_192.022 hat das alte Thema ins Komische gewendet und im pst_192.023 «Prinz Friedrich von Homburg» das Urteil über den unbesonnenen pst_192.024 Jüngling aus den Händen der buchstabentreuen, pst_192.025 «eulengleichen» Richter genommen und einem pst_192.026 höheren Gericht, dem Kurfürsten als dem Sprecher des pst_192.027 Herrn, unterbreitet. Ibsen endlich hat sein Dichten pst_192.028 selbst ein «Gerichtstag halten» genannt, und wenn er pst_192.029 auch auf der Bühne kaum je ein Gerichtsverfahren pst_192.030 durchführt, so redigiert er doch meist das Geschehen pst_192.031 wie für die Akten eines Prozesses.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/196
Zitationshilfe: Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946, S. 192. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/196>, abgerufen am 24.11.2024.