Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.pst_019.001 "Viel Wandrer lustig schwenken pst_019.024 Die Hüt' im Morgenstrahl ..." pst_019.025 "Weg, du Traum! so gold du bist; pst_019.026 Hier auch Lieb und Leben ist ..." pst_019.027 pst_019.028"Was soll all der Schmerz und Lust?" In epischen Versen fiele dergleichen auf; in lyrischen pst_019.029 pst_019.001 «Viel Wandrer lustig schwenken pst_019.024 Die Hüt' im Morgenstrahl ...» pst_019.025 «Weg, du Traum! so gold du bist; pst_019.026 Hier auch Lieb und Leben ist ...» pst_019.027 pst_019.028«Was soll all der Schmerz und Lust?» In epischen Versen fiele dergleichen auf; in lyrischen pst_019.029 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0023" n="19"/><lb n="pst_019.001"/> bestimmt. Beim Singen nämlich wird die melodische <lb n="pst_019.002"/> Kurve, der Rhythmus herausgearbeitet. Auf die Satzinhalte <lb n="pst_019.003"/> achtet der Hörer weniger; ja sogar der Singende <lb n="pst_019.004"/> selbst weiß manchmal nicht recht, wovon im Text die <lb n="pst_019.005"/> Rede ist. Liebe – Tod – Wasser, irgendein holdes Ungefähr <lb n="pst_019.006"/> genügt ihm. Dazwischen singt er gedankenlos <lb n="pst_019.007"/> fort und ist doch völlig bei der Sache. Er wäre verletzt, <lb n="pst_019.008"/> wenn ihm bedeutet würde, er habe das Lied nicht verstanden. <lb n="pst_019.009"/> Freilich wird er so dem Ganzen des Kunstwerks <lb n="pst_019.010"/> nicht gerecht. Denn auch die Wort- und Satzbedeutungen <lb n="pst_019.011"/> gehören selbstverständlich zum Lied. Nicht die Musik <lb n="pst_019.012"/> der Worte allein und nicht ihre Bedeutung allein, <lb n="pst_019.013"/> sondern beide als eines machen das Wunder der Lyrik <lb n="pst_019.014"/> aus. Dennoch ist es nicht zu verübeln, wenn einer sich <lb n="pst_019.015"/> mehr der unmittelbaren Wirkung der Musik überläßt. <lb n="pst_019.016"/> Denn schon der Dichter ist leicht bereit, dem Musikalischen <lb n="pst_019.017"/> einen gewissen Vorrang zuzugestehen. Er weicht <lb n="pst_019.018"/> gelegentlich von den Gesetzen und Gepflogenheiten der <lb n="pst_019.019"/> auf den Sinn gerichteten Sprache ab, dem Tonfall oder <lb n="pst_019.020"/> dem Reim zulieb. Das Endungs-e wird synkopiert, die <lb n="pst_019.021"/> Folge der Worte verändert, grammatisch Unentbehrliches <lb n="pst_019.022"/> ausgelassen:</p> <lb n="pst_019.023"/> <lg> <l>«Viel Wandrer lustig schwenken</l> <lb n="pst_019.024"/> <l>Die Hüt' im Morgenstrahl ...» </l> </lg> <lg> <lb n="pst_019.025"/> <l>«Weg, du Traum! so gold du bist;</l> <lb n="pst_019.026"/> <l>Hier auch Lieb und Leben ist ...» </l> </lg> <lg> <lb n="pst_019.027"/> <l>«Was soll all der Schmerz und Lust?»</l> </lg> <lb n="pst_019.028"/> <p> In epischen Versen fiele dergleichen auf; in lyrischen <lb n="pst_019.029"/> nimmt man es ohne Anstoß hin, weil die musikalischen </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [19/0023]
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bestimmt. Beim Singen nämlich wird die melodische pst_019.002
Kurve, der Rhythmus herausgearbeitet. Auf die Satzinhalte pst_019.003
achtet der Hörer weniger; ja sogar der Singende pst_019.004
selbst weiß manchmal nicht recht, wovon im Text die pst_019.005
Rede ist. Liebe – Tod – Wasser, irgendein holdes Ungefähr pst_019.006
genügt ihm. Dazwischen singt er gedankenlos pst_019.007
fort und ist doch völlig bei der Sache. Er wäre verletzt, pst_019.008
wenn ihm bedeutet würde, er habe das Lied nicht verstanden. pst_019.009
Freilich wird er so dem Ganzen des Kunstwerks pst_019.010
nicht gerecht. Denn auch die Wort- und Satzbedeutungen pst_019.011
gehören selbstverständlich zum Lied. Nicht die Musik pst_019.012
der Worte allein und nicht ihre Bedeutung allein, pst_019.013
sondern beide als eines machen das Wunder der Lyrik pst_019.014
aus. Dennoch ist es nicht zu verübeln, wenn einer sich pst_019.015
mehr der unmittelbaren Wirkung der Musik überläßt. pst_019.016
Denn schon der Dichter ist leicht bereit, dem Musikalischen pst_019.017
einen gewissen Vorrang zuzugestehen. Er weicht pst_019.018
gelegentlich von den Gesetzen und Gepflogenheiten der pst_019.019
auf den Sinn gerichteten Sprache ab, dem Tonfall oder pst_019.020
dem Reim zulieb. Das Endungs-e wird synkopiert, die pst_019.021
Folge der Worte verändert, grammatisch Unentbehrliches pst_019.022
ausgelassen:
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«Viel Wandrer lustig schwenken pst_019.024
Die Hüt' im Morgenstrahl ...»
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«Weg, du Traum! so gold du bist; pst_019.026
Hier auch Lieb und Leben ist ...»
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«Was soll all der Schmerz und Lust?»
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In epischen Versen fiele dergleichen auf; in lyrischen pst_019.029
nimmt man es ohne Anstoß hin, weil die musikalischen
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(2015-09-30T09:54:39Z)
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