Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.pst_018.001 "Keine Quelle pst_018.005 pst_018.008So tief und schnelle pst_018.006 Als der Liebe pst_018.007 Reißende Welle." Dem dunklen "u" entspricht das "e", dem "nd" das pst_018.009 Wenn aber die Übertragung lyrischer Verse fast unmöglich pst_018.019 Dieser Rest ist die Musik, die Sprache ohne Worte, pst_018.029 pst_018.001 «Keine Quelle pst_018.005 pst_018.008So tief und schnelle pst_018.006 Als der Liebe pst_018.007 Reißende Welle.» Dem dunklen «u» entspricht das «e», dem «nd» das pst_018.009 Wenn aber die Übertragung lyrischer Verse fast unmöglich pst_018.019 Dieser Rest ist die Musik, die Sprache ohne Worte, pst_018.029 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0022" n="18"/><lb n="pst_018.001"/> profunda, furibunda» die Brunnentiefe des Gefühls, <lb n="pst_018.002"/> aus der das Unerhörte, das wir selbst nicht kennen, aufsteigen <lb n="pst_018.003"/> kann. Die deutsche Übersetzung lautet:</p> <lb n="pst_018.004"/> <lg> <l>«Keine Quelle</l> <lb n="pst_018.005"/> <l>So tief und schnelle</l> <lb n="pst_018.006"/> <l>Als der Liebe</l> <lb n="pst_018.007"/> <l>Reißende Welle.»</l> </lg> <lb n="pst_018.008"/> <p>Dem dunklen «u» entspricht das «e», dem «nd» das <lb n="pst_018.009"/> verdoppelte «l». Wir meinen wieder, das Wasser zu <lb n="pst_018.010"/> hören, aber nun nicht die Brunnentiefe, sondern die <lb n="pst_018.011"/> eilig strömende Flut. Und dies ist eine andere Liebe, <lb n="pst_018.012"/> nicht verhaltene Dämonie, sondern hinreißende Leidenschaft. <lb n="pst_018.013"/> Dem entsprechen die neuen oder veränderten <lb n="pst_018.014"/> Wortbedeutungen. «Schnelle» stand nicht im lateinischen <lb n="pst_018.015"/> Text, auch «reißende» nicht. Der Einklang <lb n="pst_018.016"/> von Laut und Bedeutung ist also ebenso rein wie im <lb n="pst_018.017"/> Original. Das Ganze jedoch ist völlig verwandelt.</p> <lb n="pst_018.018"/> <p> Wenn aber die Übertragung lyrischer Verse fast unmöglich <lb n="pst_018.019"/> ist, ist sie auch eher entbehrlich als die von epischen <lb n="pst_018.020"/> und dramatischen Versen. Denn jedermann <lb n="pst_018.021"/> glaubt doch etwas zu fühlen oder zu ahnen, auch wenn <lb n="pst_018.022"/> er die fremde Sprache nicht kennt. Er hört die Laute <lb n="pst_018.023"/> und Rhythmen und wird, diesseits des diskursiven Verstehens, <lb n="pst_018.024"/> von der Stimmung des Dichters berührt. Die <lb n="pst_018.025"/> Möglichkeit einer Verständigung ohne Begriffe deutet <lb n="pst_018.026"/> sich an. Ein Rest des paradiesischen Daseins scheint im <lb n="pst_018.027"/> Lyrischen bewahrt.</p> <lb n="pst_018.028"/> <p> Dieser Rest ist die Musik, die Sprache ohne Worte, <lb n="pst_018.029"/> die auch mit Worten angestimmt werden kann. Der <lb n="pst_018.030"/> Dichter selber gibt das zu im Lied, das er für den Gesang </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [18/0022]
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profunda, furibunda» die Brunnentiefe des Gefühls, pst_018.002
aus der das Unerhörte, das wir selbst nicht kennen, aufsteigen pst_018.003
kann. Die deutsche Übersetzung lautet:
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«Keine Quelle pst_018.005
So tief und schnelle pst_018.006
Als der Liebe pst_018.007
Reißende Welle.»
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Dem dunklen «u» entspricht das «e», dem «nd» das pst_018.009
verdoppelte «l». Wir meinen wieder, das Wasser zu pst_018.010
hören, aber nun nicht die Brunnentiefe, sondern die pst_018.011
eilig strömende Flut. Und dies ist eine andere Liebe, pst_018.012
nicht verhaltene Dämonie, sondern hinreißende Leidenschaft. pst_018.013
Dem entsprechen die neuen oder veränderten pst_018.014
Wortbedeutungen. «Schnelle» stand nicht im lateinischen pst_018.015
Text, auch «reißende» nicht. Der Einklang pst_018.016
von Laut und Bedeutung ist also ebenso rein wie im pst_018.017
Original. Das Ganze jedoch ist völlig verwandelt.
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Wenn aber die Übertragung lyrischer Verse fast unmöglich pst_018.019
ist, ist sie auch eher entbehrlich als die von epischen pst_018.020
und dramatischen Versen. Denn jedermann pst_018.021
glaubt doch etwas zu fühlen oder zu ahnen, auch wenn pst_018.022
er die fremde Sprache nicht kennt. Er hört die Laute pst_018.023
und Rhythmen und wird, diesseits des diskursiven Verstehens, pst_018.024
von der Stimmung des Dichters berührt. Die pst_018.025
Möglichkeit einer Verständigung ohne Begriffe deutet pst_018.026
sich an. Ein Rest des paradiesischen Daseins scheint im pst_018.027
Lyrischen bewahrt.
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Dieser Rest ist die Musik, die Sprache ohne Worte, pst_018.029
die auch mit Worten angestimmt werden kann. Der pst_018.030
Dichter selber gibt das zu im Lied, das er für den Gesang
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