Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.pst_230.001 pst_230.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0234" n="230"/><lb n="pst_230.001"/> In der falschen Anwendung des Zeichens besteht der <lb n="pst_230.002"/> Irrtum und der Betrug. Was ihn ermöglicht, ist der Abstand, <lb n="pst_230.003"/> den der Geist von den Dingen nimmt. Eine warnende <lb n="pst_230.004"/> Stimme ruft ihn zurück. Der Mann erkennt, <lb n="pst_230.005"/> warum ihn ein unermeßliches Sehnen zur Frau hinzieht. <lb n="pst_230.006"/> Jede Gebärde der Liebe, der Kuß, der Verzicht <lb n="pst_230.007"/> auf die freie, aufrechte Haltung, das Hinsinken und die <lb n="pst_230.008"/> Vereinigung, in der ihn ein Vergessen alles gegenständlich <lb n="pst_230.009"/> gewordenen Lebens und damit seines Selbst überkommt, <lb n="pst_230.010"/> auf daß er es neu aus dem Ursprung gewinne: <lb n="pst_230.011"/> jede Gebärde zeugt davon, wie viel der Geist der Seele <lb n="pst_230.012"/> schuldet. Ähnlich ist es mit dem Erinnern der frühesten <lb n="pst_230.013"/> Tage der Kindheit bestellt, da unser Geist unkräftig, <lb n="pst_230.014"/> aber die Seele umso reicher war. Wer nicht mehr aus <lb n="pst_230.015"/> der Tiefe solcher Erinnerung schöpfen kann und keine <lb n="pst_230.016"/> Liebe erfahren durfte, verarmt. Wer freilich nur in der <lb n="pst_230.017"/> Erinnerung bleibt, vermag sich selber nicht zu fassen <lb n="pst_230.018"/> und anderen sich nicht mitzuteilen; der ist, ein dumpfer <lb n="pst_230.019"/> Geist, auf wenige Gleichgestimmte angewiesen und <lb n="pst_230.020"/> unzugänglich für den Anspruch einer sicher verbürgten <lb n="pst_230.021"/> Gemeinschaft. Denn verbürgt, gefestigt wird eine Gemeinschaft <lb n="pst_230.022"/> nur im dramatischen Geist, in explizit erfaßter <lb n="pst_230.023"/> Welt, wo jedermann <hi rendition="#g">weiß,</hi> worum es geht, und <lb n="pst_230.024"/> Worte des Glaubens und allgemein verbindliche Gesetze <lb n="pst_230.025"/> ausgeprägt sind. Der Prinz von Homburg kennt <lb n="pst_230.026"/> den Weg vom lyrischen zum dramatischen Sein, von <lb n="pst_230.027"/> der träumerischen Individualität zum Selbst, das Träger <lb n="pst_230.028"/> gemeinsamen Geistes ist. Wenn man absieht von der <lb n="pst_230.029"/> moralischen Basis seiner Problemstellung, hat auch <lb n="pst_230.030"/> Schiller in den «Briefen über die ästhetische Erziehung <lb n="pst_230.031"/> des Menschen» dasselbe auszusprechen versucht. Die </p> </div> </body> </text> </TEI> [230/0234]
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In der falschen Anwendung des Zeichens besteht der pst_230.002
Irrtum und der Betrug. Was ihn ermöglicht, ist der Abstand, pst_230.003
den der Geist von den Dingen nimmt. Eine warnende pst_230.004
Stimme ruft ihn zurück. Der Mann erkennt, pst_230.005
warum ihn ein unermeßliches Sehnen zur Frau hinzieht. pst_230.006
Jede Gebärde der Liebe, der Kuß, der Verzicht pst_230.007
auf die freie, aufrechte Haltung, das Hinsinken und die pst_230.008
Vereinigung, in der ihn ein Vergessen alles gegenständlich pst_230.009
gewordenen Lebens und damit seines Selbst überkommt, pst_230.010
auf daß er es neu aus dem Ursprung gewinne: pst_230.011
jede Gebärde zeugt davon, wie viel der Geist der Seele pst_230.012
schuldet. Ähnlich ist es mit dem Erinnern der frühesten pst_230.013
Tage der Kindheit bestellt, da unser Geist unkräftig, pst_230.014
aber die Seele umso reicher war. Wer nicht mehr aus pst_230.015
der Tiefe solcher Erinnerung schöpfen kann und keine pst_230.016
Liebe erfahren durfte, verarmt. Wer freilich nur in der pst_230.017
Erinnerung bleibt, vermag sich selber nicht zu fassen pst_230.018
und anderen sich nicht mitzuteilen; der ist, ein dumpfer pst_230.019
Geist, auf wenige Gleichgestimmte angewiesen und pst_230.020
unzugänglich für den Anspruch einer sicher verbürgten pst_230.021
Gemeinschaft. Denn verbürgt, gefestigt wird eine Gemeinschaft pst_230.022
nur im dramatischen Geist, in explizit erfaßter pst_230.023
Welt, wo jedermann weiß, worum es geht, und pst_230.024
Worte des Glaubens und allgemein verbindliche Gesetze pst_230.025
ausgeprägt sind. Der Prinz von Homburg kennt pst_230.026
den Weg vom lyrischen zum dramatischen Sein, von pst_230.027
der träumerischen Individualität zum Selbst, das Träger pst_230.028
gemeinsamen Geistes ist. Wenn man absieht von der pst_230.029
moralischen Basis seiner Problemstellung, hat auch pst_230.030
Schiller in den «Briefen über die ästhetische Erziehung pst_230.031
des Menschen» dasselbe auszusprechen versucht. Die
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(2015-09-30T09:54:39Z)
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