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Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.

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auch die große Uneinigkeit in der Würdigung von pst_054.002
Gedichten. Die Meister der Klassik und Romantik sind pst_054.003
heute zwar allem Zweifel entrückt. Doch über neue, pst_054.004
noch unausgewiesene Dichter entbrennt jeweils ein pst_054.005
Streit, der in umso seltsamere Formen ausartet, als niemand pst_054.006
Gründe annehmen will. Der Unerfahrene wird pst_054.007
Gedichte immer wieder überschätzen. Er meint, so pst_054.008
fühle er ungefähr auch; also seien die Verse gut. Doch pst_054.009
echte lyrische Poesie ist einzigartig, unwiederholbar. pst_054.010
Sie schließt, ein individuum ineffabile, völlig neue, pst_054.011
noch niemals dagewesene Stimmungen auf. Und dennoch pst_054.012
muß sie vernehmlich sein und den Leser mit der pst_054.013
Einsicht beglücken, daß seine Seele reicher ist, als er pst_054.014
selber bis jetzt geahnt hat. Gegensätzlichen Ansprüchen pst_054.015
also muß die lyrische Dichtung genügen. Erfahrene Leser pst_054.016
finden darum fast alles, was ihnen gezeigt wird, pst_054.017
schlecht. Stoßen sie auf ein gutes Gedicht, so möchten pst_054.018
sie Mirakel schreien - mit Fug und Recht! Denn ein pst_054.019
unerklärliches Wunder ist jeder echte lyrische Vers, der pst_054.020
sich durch Jahrtausende erhält. Alles Gemeinschaftbildende, pst_054.021
wohlbegründete Wahrheit, überredende Kraft pst_054.022
oder Evidenz geht ihm ab. Er ist das Privateste, Allerbesonderste, pst_054.023
was sich auf Erden finden läßt. Dennoch pst_054.024
vereint er die Hörenden inniger als jedwedes andere pst_054.025
Wort. Sofern aber alle echte Dichtung in die Tiefe des pst_054.026
Lyrischen hinabreicht und die Feuchte dieses Ursprungs pst_054.027
an ihr glänzt (vergleiche Seite 223), gründet alle Dichtung pst_054.028
im Unergründlichen, einem "sunder warumbe" pst_054.029
eigener Art, wo keine Erklärung der Schönheit und der pst_054.030
Richtigkeit mehr möglich, aber auch keine Erklärung pst_054.031
mehr nötig ist.

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auch die große Uneinigkeit in der Würdigung von pst_054.002
Gedichten. Die Meister der Klassik und Romantik sind pst_054.003
heute zwar allem Zweifel entrückt. Doch über neue, pst_054.004
noch unausgewiesene Dichter entbrennt jeweils ein pst_054.005
Streit, der in umso seltsamere Formen ausartet, als niemand pst_054.006
Gründe annehmen will. Der Unerfahrene wird pst_054.007
Gedichte immer wieder überschätzen. Er meint, so pst_054.008
fühle er ungefähr auch; also seien die Verse gut. Doch pst_054.009
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Sie schließt, ein individuum ineffabile, völlig neue, pst_054.011
noch niemals dagewesene Stimmungen auf. Und dennoch pst_054.012
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Einsicht beglücken, daß seine Seele reicher ist, als er pst_054.014
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finden darum fast alles, was ihnen gezeigt wird, pst_054.017
schlecht. Stoßen sie auf ein gutes Gedicht, so möchten pst_054.018
sie Mirakel schreien – mit Fug und Recht! Denn ein pst_054.019
unerklärliches Wunder ist jeder echte lyrische Vers, der pst_054.020
sich durch Jahrtausende erhält. Alles Gemeinschaftbildende, pst_054.021
wohlbegründete Wahrheit, überredende Kraft pst_054.022
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[54/0058] pst_054.001 auch die große Uneinigkeit in der Würdigung von pst_054.002 Gedichten. Die Meister der Klassik und Romantik sind pst_054.003 heute zwar allem Zweifel entrückt. Doch über neue, pst_054.004 noch unausgewiesene Dichter entbrennt jeweils ein pst_054.005 Streit, der in umso seltsamere Formen ausartet, als niemand pst_054.006 Gründe annehmen will. Der Unerfahrene wird pst_054.007 Gedichte immer wieder überschätzen. Er meint, so pst_054.008 fühle er ungefähr auch; also seien die Verse gut. Doch pst_054.009 echte lyrische Poesie ist einzigartig, unwiederholbar. pst_054.010 Sie schließt, ein individuum ineffabile, völlig neue, pst_054.011 noch niemals dagewesene Stimmungen auf. Und dennoch pst_054.012 muß sie vernehmlich sein und den Leser mit der pst_054.013 Einsicht beglücken, daß seine Seele reicher ist, als er pst_054.014 selber bis jetzt geahnt hat. Gegensätzlichen Ansprüchen pst_054.015 also muß die lyrische Dichtung genügen. Erfahrene Leser pst_054.016 finden darum fast alles, was ihnen gezeigt wird, pst_054.017 schlecht. Stoßen sie auf ein gutes Gedicht, so möchten pst_054.018 sie Mirakel schreien – mit Fug und Recht! Denn ein pst_054.019 unerklärliches Wunder ist jeder echte lyrische Vers, der pst_054.020 sich durch Jahrtausende erhält. Alles Gemeinschaftbildende, pst_054.021 wohlbegründete Wahrheit, überredende Kraft pst_054.022 oder Evidenz geht ihm ab. Er ist das Privateste, Allerbesonderste, pst_054.023 was sich auf Erden finden läßt. Dennoch pst_054.024 vereint er die Hörenden inniger als jedwedes andere pst_054.025 Wort. Sofern aber alle echte Dichtung in die Tiefe des pst_054.026 Lyrischen hinabreicht und die Feuchte dieses Ursprungs pst_054.027 an ihr glänzt (vergleiche Seite 223), gründet alle Dichtung pst_054.028 im Unergründlichen, einem «sunder warumbe» pst_054.029 eigener Art, wo keine Erklärung der Schönheit und der pst_054.030 Richtigkeit mehr möglich, aber auch keine Erklärung pst_054.031 mehr nötig ist.

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Zitationshilfe: Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946, S. 54. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/58>, abgerufen am 27.11.2024.