pst_057.001 dem herrschenden Geschmack, der nur angenehm gekitzelt, pst_057.002 nicht ergriffen, nicht kräftig gerührt, nicht erhoben pst_057.003 sein will. Alles Schmelzende wird daher vorgezogen, pst_057.004 und wenn noch so großer Lärm in einem Konzertsaal pst_057.005 ist, so wird plötzlich alles Ohr, wenn eine schmelzende pst_057.006 Passage vorgetragen wird. Ein bis ins Tierische gehender pst_057.007 Ausdruck der Sinnlichkeit erscheint dann gewöhnlich pst_057.008 auf allen Gesichtern, die trunkenen Augen schwimmen, pst_057.009 der offene Mund ist ganz Begierde, ein wollüstiges pst_057.010 Zittern ergreift den ganzen Körper, der Atem ist schnell pst_057.011 und schwach, kurz alle Symptome der Berauschung pst_057.012 stellen sich ein: zum deutlichen Beweise, daß die Sinne pst_057.013 schwelgen, der Geist aber oder das Prinzip der Freiheit pst_057.014 im Menschen der Gewalt des sinnlichen Eindrucks zum pst_057.015 Raube wird1."
pst_057.016
Und lyrisch ist jene Musik der Sprache, die Herder, pst_057.017 ganz ähnlich wie Schiller, aber mit hochbegeisterten pst_057.018 Worten beschreibt:
pst_057.019
"Diese Töne, diese Gebärden, jene einfachen Gänge pst_057.020 der Melodie, diese plötzliche Wendung, diese dämmernde pst_057.021 Stimme - was weiß ich mehr? Bei Kindern und pst_057.022 dem Volk der Sinne, bei Weibern, bei Leuten von zartem pst_057.023 Gefühl, bei Kranken, Einsamen, Betrübten, würken pst_057.024 sie tausendmal mehr, als die Wahrheit selbst würken pst_057.025 würde, wenn ihr leise, feine Stimme vom Himmel pst_057.026 tönte. Diese Worte, dieser Ton, die Wendung dieser pst_057.027 grausenden Romanze usw. drangen in unsrer Kindheit, pst_057.028 da wir sie das erstemal hörten, ich weiß nicht, mit welchem pst_057.029 Heere von Nebenbegriffen des Schauders, der
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Und lyrisch ist jene Musik der Sprache, die Herder, pst_057.017 ganz ähnlich wie Schiller, aber mit hochbegeisterten pst_057.018 Worten beschreibt:
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«Diese Töne, diese Gebärden, jene einfachen Gänge pst_057.020 der Melodie, diese plötzliche Wendung, diese dämmernde pst_057.021 Stimme – was weiß ich mehr? Bei Kindern und pst_057.022 dem Volk der Sinne, bei Weibern, bei Leuten von zartem pst_057.023 Gefühl, bei Kranken, Einsamen, Betrübten, würken pst_057.024 sie tausendmal mehr, als die Wahrheit selbst würken pst_057.025 würde, wenn ihr leise, feine Stimme vom Himmel pst_057.026 tönte. Diese Worte, dieser Ton, die Wendung dieser pst_057.027 grausenden Romanze usw. drangen in unsrer Kindheit, pst_057.028 da wir sie das erstemal hörten, ich weiß nicht, mit welchem pst_057.029 Heere von Nebenbegriffen des Schauders, der
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ganz ähnlich wie Schiller, aber mit hochbegeisterten pst_057.018
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«Diese Töne, diese Gebärden, jene einfachen Gänge pst_057.020
der Melodie, diese plötzliche Wendung, diese dämmernde pst_057.021
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1910, Bd. XVII, S. 402.
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Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946, S. 57. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/61>, abgerufen am 17.02.2025.
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