pst_060.001 es sich noch und bewegt den Dichter und uns mit jener pst_060.002 Magie, die Goethes Lied "An den Mond" ausstrahlt, pst_060.003 die, nüchterner, Keller in "Jugendgedenken" preist:
pst_060.004
"Ich will spiegeln mich in jenen Tagen,pst_060.005 Die wie Lindenwipfelwehn entflohn,pst_060.006 Wo die Silbersaite, angeschlagen,pst_060.007 Klar, doch bebend, gab den ersten Ton,pst_060.008 Der mein Leben lang,pst_060.009 Erst heut noch, widerklang,pst_060.010 Ob die Saite längst zerrissen schon."
pst_060.011
Vergangenes als Gegenstand einer Erzählung gehört pst_060.012 dem Gedächtnis an. Vergangenes als Thema des Lyrischen pst_060.013 ist ein Schatz der Erinnerung. So sagt der alte pst_060.014 Goethe: "Ich statuiere keine Erinnerung"1 und meint pst_060.015 damit, er räume dem Vergangenen keine Macht über pst_060.016 die Gegenwart ein. Die lyrischen Momente aber aus pst_060.017 Goethes späteren Jahren entstammen alle doch der Erinnerung, pst_060.018 "Dem aufgehenden Vollmond" zum Beispiel, pst_060.019 wo die Begegnung mit Marianne von Willemer, pst_060.020 die mehr als zehn Jahre zurückliegt, wieder die Seele pst_060.021 erfüllt, oder schon jenes Divan-Gedicht:
pst_060.022
"Und da duftet's wie vor alters,pst_060.023 Da wir noch von Liebe litten ..."
pst_060.024
Düfte gehören mehr als optische Eindrücke der Erinnerung pst_060.025 an. Es kann geschehen, daß wir einen Duft nicht pst_060.026 im Gedächtnis behalten, wohl aber in der Erinnerung. pst_060.027 Wenn er wieder aufsteigt, ist plötzlich ein längst vergangenes
1pst_060.028 Zu F. O. Müller, 4. November 1823.
pst_060.001 es sich noch und bewegt den Dichter und uns mit jener pst_060.002 Magie, die Goethes Lied «An den Mond» ausstrahlt, pst_060.003 die, nüchterner, Keller in «Jugendgedenken» preist:
pst_060.004
«Ich will spiegeln mich in jenen Tagen,pst_060.005 Die wie Lindenwipfelwehn entflohn,pst_060.006 Wo die Silbersaite, angeschlagen,pst_060.007 Klar, doch bebend, gab den ersten Ton,pst_060.008 Der mein Leben lang,pst_060.009 Erst heut noch, widerklang,pst_060.010 Ob die Saite längst zerrissen schon.»
pst_060.011
Vergangenes als Gegenstand einer Erzählung gehört pst_060.012 dem Gedächtnis an. Vergangenes als Thema des Lyrischen pst_060.013 ist ein Schatz der Erinnerung. So sagt der alte pst_060.014 Goethe: «Ich statuiere keine Erinnerung»1 und meint pst_060.015 damit, er räume dem Vergangenen keine Macht über pst_060.016 die Gegenwart ein. Die lyrischen Momente aber aus pst_060.017 Goethes späteren Jahren entstammen alle doch der Erinnerung, pst_060.018 «Dem aufgehenden Vollmond» zum Beispiel, pst_060.019 wo die Begegnung mit Marianne von Willemer, pst_060.020 die mehr als zehn Jahre zurückliegt, wieder die Seele pst_060.021 erfüllt, oder schon jenes Divan-Gedicht:
pst_060.022
«Und da duftet's wie vor alters,pst_060.023 Da wir noch von Liebe litten ...»
pst_060.024
Düfte gehören mehr als optische Eindrücke der Erinnerung pst_060.025 an. Es kann geschehen, daß wir einen Duft nicht pst_060.026 im Gedächtnis behalten, wohl aber in der Erinnerung. pst_060.027 Wenn er wieder aufsteigt, ist plötzlich ein längst vergangenes
1pst_060.028 Zu F. O. Müller, 4. November 1823.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0064"n="60"/><lbn="pst_060.001"/>
es sich noch und bewegt den Dichter und uns mit jener <lbn="pst_060.002"/>
Magie, die Goethes Lied «An den Mond» ausstrahlt, <lbn="pst_060.003"/>
die, nüchterner, Keller in «Jugendgedenken» preist:</p><lbn="pst_060.004"/><lg><l>«Ich will spiegeln mich in jenen Tagen,</l><lbn="pst_060.005"/><l>Die wie Lindenwipfelwehn entflohn,</l><lbn="pst_060.006"/><l>Wo die Silbersaite, angeschlagen,</l><lbn="pst_060.007"/><l>Klar, doch bebend, gab den ersten Ton,</l><lbn="pst_060.008"/><l> Der mein Leben lang,</l><lbn="pst_060.009"/><l> Erst heut noch, widerklang,</l><lbn="pst_060.010"/><l>Ob die Saite längst zerrissen schon.»</l></lg><lbn="pst_060.011"/><p> Vergangenes als Gegenstand einer Erzählung gehört <lbn="pst_060.012"/>
dem Gedächtnis an. Vergangenes als Thema des Lyrischen <lbn="pst_060.013"/>
ist ein Schatz der Erinnerung. So sagt der alte <lbn="pst_060.014"/>
Goethe: «Ich statuiere keine Erinnerung»<notexml:id="PST_060_1"place="foot"n="1"><lbn="pst_060.028"/>
Zu F. O. Müller, 4. November 1823.</note> und meint <lbn="pst_060.015"/>
damit, er räume dem Vergangenen keine Macht über <lbn="pst_060.016"/>
die Gegenwart ein. Die lyrischen Momente aber aus <lbn="pst_060.017"/>
Goethes späteren Jahren entstammen alle doch der Erinnerung, <lbn="pst_060.018"/>
«Dem aufgehenden Vollmond» zum Beispiel, <lbn="pst_060.019"/>
wo die Begegnung mit Marianne von Willemer, <lbn="pst_060.020"/>
die mehr als zehn Jahre zurückliegt, wieder die Seele <lbn="pst_060.021"/>
erfüllt, oder schon jenes Divan-Gedicht:</p><lbn="pst_060.022"/><lg><l>«Und da duftet's wie vor alters,</l><lbn="pst_060.023"/><l>Da wir noch von Liebe litten ...»</l></lg><lbn="pst_060.024"/><p>Düfte gehören mehr als optische Eindrücke der Erinnerung <lbn="pst_060.025"/>
an. Es kann geschehen, daß wir einen Duft nicht <lbn="pst_060.026"/>
im Gedächtnis behalten, wohl aber in der Erinnerung. <lbn="pst_060.027"/>
Wenn er wieder aufsteigt, ist plötzlich ein längst vergangenes
</p></div></div></body></text></TEI>
[60/0064]
pst_060.001
es sich noch und bewegt den Dichter und uns mit jener pst_060.002
Magie, die Goethes Lied «An den Mond» ausstrahlt, pst_060.003
die, nüchterner, Keller in «Jugendgedenken» preist:
pst_060.004
«Ich will spiegeln mich in jenen Tagen, pst_060.005
Die wie Lindenwipfelwehn entflohn, pst_060.006
Wo die Silbersaite, angeschlagen, pst_060.007
Klar, doch bebend, gab den ersten Ton, pst_060.008
Der mein Leben lang, pst_060.009
Erst heut noch, widerklang, pst_060.010
Ob die Saite längst zerrissen schon.»
pst_060.011
Vergangenes als Gegenstand einer Erzählung gehört pst_060.012
dem Gedächtnis an. Vergangenes als Thema des Lyrischen pst_060.013
ist ein Schatz der Erinnerung. So sagt der alte pst_060.014
Goethe: «Ich statuiere keine Erinnerung» 1 und meint pst_060.015
damit, er räume dem Vergangenen keine Macht über pst_060.016
die Gegenwart ein. Die lyrischen Momente aber aus pst_060.017
Goethes späteren Jahren entstammen alle doch der Erinnerung, pst_060.018
«Dem aufgehenden Vollmond» zum Beispiel, pst_060.019
wo die Begegnung mit Marianne von Willemer, pst_060.020
die mehr als zehn Jahre zurückliegt, wieder die Seele pst_060.021
erfüllt, oder schon jenes Divan-Gedicht:
pst_060.022
«Und da duftet's wie vor alters, pst_060.023
Da wir noch von Liebe litten ...»
pst_060.024
Düfte gehören mehr als optische Eindrücke der Erinnerung pst_060.025
an. Es kann geschehen, daß wir einen Duft nicht pst_060.026
im Gedächtnis behalten, wohl aber in der Erinnerung. pst_060.027
Wenn er wieder aufsteigt, ist plötzlich ein längst vergangenes
1 pst_060.028
Zu F. O. Müller, 4. November 1823.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:
Bogensignaturen: keine Angabe;
Druckfehler: keine Angabe;
fremdsprachliches Material: gekennzeichnet;
Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;
Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage;
i/j in Fraktur: wie Vorlage;
I/J in Fraktur: wie Vorlage;
Kolumnentitel: nicht übernommen;
Kustoden: nicht übernommen;
langes s (ſ): wie Vorlage;
Normalisierungen: keine;
rundes r (ꝛ): wie Vorlage;
Seitenumbrüche markiert: ja;
Silbentrennung: nicht übernommen;
u/v bzw. U/V: wie Vorlage;
Vokale mit übergest. e: wie Vorlage;
Vollständigkeit: vollständig erfasst;
Zeichensetzung: wie Vorlage;
Zeilenumbrüche markiert: ja;
Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946, S. 60. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/64>, abgerufen am 16.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.