Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.pst_066.001 Was die Stimmung erschließt, ist nicht "gegenwärtig", pst_066.022 1 pst_066.030
Vgl. dazu: O. F. Bollnow: Das Wesen der Stimmungen, Frankfurt pst_066.031 am Main 1941, S. 17-36. pst_066.001 Was die Stimmung erschließt, ist nicht «gegenwärtig», pst_066.022 1 pst_066.030
Vgl. dazu: O. F. Bollnow: Das Wesen der Stimmungen, Frankfurt pst_066.031 am Main 1941, S. 17–36. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0070" n="66"/><lb n="pst_066.001"/> Gegenstand der Beobachtung. Ursprünglich aber ist <lb n="pst_066.002"/> eine Stimmung gerade nichts, was «in» uns besteht. <lb n="pst_066.003"/> Sondern in der Stimmung sind wir in ausgezeichneter <lb n="pst_066.004"/> Weise «draußen», nicht den Dingen gegenüber, sondern <lb n="pst_066.005"/> <hi rendition="#g">in</hi> ihnen und sie in uns. Die Stimmung erschließt <lb n="pst_066.006"/> das Dasein unmittelbarer als jede Anschauung oder <lb n="pst_066.007"/> jedes Begreifen. Wir sind gestimmt, das heißt, durchwaltet <lb n="pst_066.008"/> vom Entzücken des Frühlings oder verloren an <lb n="pst_066.009"/> die Angst des Dunkels, liebestrunken oder beklommen, <lb n="pst_066.010"/> immer aber «eingenommen» von dem, was uns als <lb n="pst_066.011"/> körperlichen Wesen – in Raum oder Zeit – gegenübersteht. <lb n="pst_066.012"/> Es ist darum sinnvoll, daß die Sprache ebenso von <lb n="pst_066.013"/> der Stimmung des Abends wie von der Stimmung der <lb n="pst_066.014"/> Seele redet<note xml:id="PST_066_1" place="foot" n="1"><lb n="pst_066.030"/> Vgl. dazu: O. F. Bollnow: Das Wesen der Stimmungen, Frankfurt <lb n="pst_066.031"/> am Main 1941, S. 17–36.</note>. Beide sind ununterscheidbar eins. Durchaus <lb n="pst_066.015"/> bewährt sich Amiels Wort «Un paysage quelconque <lb n="pst_066.016"/> est un état de l'âme». Nicht nur von Landschaften gilt <lb n="pst_066.017"/> dieses Wort. Alles Seiende vielmehr ist in der Stimmung <lb n="pst_066.018"/> nicht Gegenstand, sondern Zustand. Zuständlichkeit <lb n="pst_066.019"/> ist die Seinsart von Mensch und Natur in der lyrischen <lb n="pst_066.020"/> Poesie.</p> <lb n="pst_066.021"/> <p> Was die Stimmung erschließt, ist nicht «gegenwärtig», <lb n="pst_066.022"/> weder längst verrauschter Scherz und Kuß, noch <lb n="pst_066.023"/> der Nebelglanz, der jetzt eben, da der Dichter spricht, <lb n="pst_066.024"/> Busch und Tal füllt. Denn der Begriff «gegenwärtig» <lb n="pst_066.025"/> soll buchstäblich genommen werden. Er soll ein Gegenüber <lb n="pst_066.026"/> bezeichnen. So dürfen wir sagen, daß der Erzähler <lb n="pst_066.027"/> Vergangenes vergegenwärtigt. Der lyrische Dichter <lb n="pst_066.028"/> vergegenwärtigt das Vergangene so wenig wie das, was <lb n="pst_066.029"/> jetzt geschieht. Beides vielmehr ist ihm gleich nah und </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [66/0070]
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Gegenstand der Beobachtung. Ursprünglich aber ist pst_066.002
eine Stimmung gerade nichts, was «in» uns besteht. pst_066.003
Sondern in der Stimmung sind wir in ausgezeichneter pst_066.004
Weise «draußen», nicht den Dingen gegenüber, sondern pst_066.005
in ihnen und sie in uns. Die Stimmung erschließt pst_066.006
das Dasein unmittelbarer als jede Anschauung oder pst_066.007
jedes Begreifen. Wir sind gestimmt, das heißt, durchwaltet pst_066.008
vom Entzücken des Frühlings oder verloren an pst_066.009
die Angst des Dunkels, liebestrunken oder beklommen, pst_066.010
immer aber «eingenommen» von dem, was uns als pst_066.011
körperlichen Wesen – in Raum oder Zeit – gegenübersteht. pst_066.012
Es ist darum sinnvoll, daß die Sprache ebenso von pst_066.013
der Stimmung des Abends wie von der Stimmung der pst_066.014
Seele redet 1. Beide sind ununterscheidbar eins. Durchaus pst_066.015
bewährt sich Amiels Wort «Un paysage quelconque pst_066.016
est un état de l'âme». Nicht nur von Landschaften gilt pst_066.017
dieses Wort. Alles Seiende vielmehr ist in der Stimmung pst_066.018
nicht Gegenstand, sondern Zustand. Zuständlichkeit pst_066.019
ist die Seinsart von Mensch und Natur in der lyrischen pst_066.020
Poesie.
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Was die Stimmung erschließt, ist nicht «gegenwärtig», pst_066.022
weder längst verrauschter Scherz und Kuß, noch pst_066.023
der Nebelglanz, der jetzt eben, da der Dichter spricht, pst_066.024
Busch und Tal füllt. Denn der Begriff «gegenwärtig» pst_066.025
soll buchstäblich genommen werden. Er soll ein Gegenüber pst_066.026
bezeichnen. So dürfen wir sagen, daß der Erzähler pst_066.027
Vergangenes vergegenwärtigt. Der lyrische Dichter pst_066.028
vergegenwärtigt das Vergangene so wenig wie das, was pst_066.029
jetzt geschieht. Beides vielmehr ist ihm gleich nah und
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Vgl. dazu: O. F. Bollnow: Das Wesen der Stimmungen, Frankfurt pst_066.031
am Main 1941, S. 17–36.
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