Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Stéenhof, Frieda: Die Moral des Feminismus. In: Ethische Kultur (1907). S. 106–109.

Bild:
<< vorherige Seite
letzte Seite

freien, weil sie für sie Ursache und Ziel des Fortschritts darin
besteht, möglichst glückliche Daseinsbedingungen zu schaffen.
Die Menschheit hat stets darnach gestrebt, ob man es nun
anerkennen will oder nicht. Nur in dem Maße, als unser
eigenes Fortschreiten das irdische Dasein der Menschheit ver-
bessert, sprechen wir von einem "Fortschritt der Kultur".

Anderenfalls sagen wir: Die Kultur sank - die Kultur
verschwand - die Willkür herrschte.

Der Feminismus glaubt an keinen wirklichen Fortschritt,
dessen Weg nicht durch die Wissenschaft und die Frucht des
Denkens geebnet wird.

Deshalb will er alle Klassen, alle Geschlechter und jeden
Einzelnen an das Denken gewöhnen, und daß sie ihren Ge-
danken Achtung verschaffen. Für Frauen und nicht wahl-
berechtigte Männer ist diese Achtung zunächst von dem Er-
ringen des Wahlrechts abhängig; ohne dieses ist es un-
möglich, seinen Gedanken und seinem Willen Respekt zu
verschaffen.

Ohne abgeklärte Geistesarbeit ist es auch mit dem
Besitz des Wahlrechts nicht möglich, die Menschheit für zweck-
mäßige Methoden zur Kunst des Lebens zu vereinigen. Erst
dann, wenn der Verstand kultiviert genug ist, werden wir
die Errungenschaften anzuwenden verstehen, die die Wissen-
schaften uns gebracht haben.

Wir werden wissen, daß jede Entwickelung bestimmten
Gesetzen folgt, daß keine Umgestaltung als Wunder vom
Himmel fällt, oder der Theaterstreich eines geschickten Regisseurs
ist, selbst wenn es manchmal den Anschein davon hat.

Keine Klasse, weder die der Proletarier in ihrer
Armut, noch die der Frauen in ihrer Schwäche, kann
sich zur Höhe des Lebens aufschwingen, bevor sie ihre Denk-
fähigkeit erhöht hat. Aeußere Umwälzungen können ohne
intellektuelle Vorarbeiten nicht dauernd sein.

Jede Zivilisation hängt davon ab, daß das Jndividuum
ein klares Bewußtsein von sich selbst und der Welt bekommt.

Der Feminismus will nicht zugeben, daß die Un-
wissenheit
, bei wem es auch immer sei, eine Tugend
wäre, folglich auch nicht bei der Frau. Der Feminismus
will rationell der Vernunft gemäß wirken.

Er liebt die Aufklärung.

Seine Moral ist nur ein anderer Name für lux
- Licht!



[irrelevantes Material - 30 Zeilen fehlen][Spaltenumbruch][irrelevantes Material - 75 Zeilen fehlen][Spaltenumbruch] [Ende Spaltensatz]

freien, weil sie für sie Ursache und Ziel des Fortschritts darin
besteht, möglichst glückliche Daseinsbedingungen zu schaffen.
Die Menschheit hat stets darnach gestrebt, ob man es nun
anerkennen will oder nicht. Nur in dem Maße, als unser
eigenes Fortschreiten das irdische Dasein der Menschheit ver-
bessert, sprechen wir von einem „Fortschritt der Kultur“.

Anderenfalls sagen wir: Die Kultur sank – die Kultur
verschwand – die Willkür herrschte.

Der Feminismus glaubt an keinen wirklichen Fortschritt,
dessen Weg nicht durch die Wissenschaft und die Frucht des
Denkens geebnet wird.

Deshalb will er alle Klassen, alle Geschlechter und jeden
Einzelnen an das Denken gewöhnen, und daß sie ihren Ge-
danken Achtung verschaffen. Für Frauen und nicht wahl-
berechtigte Männer ist diese Achtung zunächst von dem Er-
ringen des Wahlrechts abhängig; ohne dieses ist es un-
möglich, seinen Gedanken und seinem Willen Respekt zu
verschaffen.

Ohne abgeklärte Geistesarbeit ist es auch mit dem
Besitz des Wahlrechts nicht möglich, die Menschheit für zweck-
mäßige Methoden zur Kunst des Lebens zu vereinigen. Erst
dann, wenn der Verstand kultiviert genug ist, werden wir
die Errungenschaften anzuwenden verstehen, die die Wissen-
schaften uns gebracht haben.

Wir werden wissen, daß jede Entwickelung bestimmten
Gesetzen folgt, daß keine Umgestaltung als Wunder vom
Himmel fällt, oder der Theaterstreich eines geschickten Regisseurs
ist, selbst wenn es manchmal den Anschein davon hat.

Keine Klasse, weder die der Proletarier in ihrer
Armut, noch die der Frauen in ihrer Schwäche, kann
sich zur Höhe des Lebens aufschwingen, bevor sie ihre Denk-
fähigkeit erhöht hat. Aeußere Umwälzungen können ohne
intellektuelle Vorarbeiten nicht dauernd sein.

Jede Zivilisation hängt davon ab, daß das Jndividuum
ein klares Bewußtsein von sich selbst und der Welt bekommt.

Der Feminismus will nicht zugeben, daß die Un-
wissenheit
, bei wem es auch immer sei, eine Tugend
wäre, folglich auch nicht bei der Frau. Der Feminismus
will rationell der Vernunft gemäß wirken.

Er liebt die Aufklärung.

Seine Moral ist nur ein anderer Name für ߝ lux
– Licht!



[irrelevantes Material – 30 Zeilen fehlen][Spaltenumbruch][irrelevantes Material – 75 Zeilen fehlen][Spaltenumbruch] [Ende Spaltensatz]
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0004" n="109"/>
freien, weil sie für sie Ursache und Ziel des Fortschritts darin<lb/>
besteht, möglichst glückliche Daseinsbedingungen zu schaffen.<lb/>
Die Menschheit hat stets darnach gestrebt, ob man es nun<lb/>
anerkennen will oder nicht. Nur in dem Maße, als unser<lb/>
eigenes Fortschreiten das irdische Dasein der Menschheit ver-<lb/>
bessert, sprechen wir von einem &#x201E;Fortschritt der Kultur&#x201C;.</p><lb/>
        <p>Anderenfalls sagen wir: Die Kultur sank &#x2013; die Kultur<lb/>
verschwand &#x2013; die Willkür herrschte.</p><lb/>
        <p>Der Feminismus glaubt an keinen wirklichen Fortschritt,<lb/>
dessen Weg nicht durch die Wissenschaft und die Frucht des<lb/>
Denkens geebnet wird.</p><lb/>
        <p>Deshalb will er alle Klassen, alle Geschlechter und jeden<lb/>
Einzelnen an das Denken gewöhnen, und daß sie ihren Ge-<lb/>
danken Achtung verschaffen. Für Frauen und nicht wahl-<lb/>
berechtigte Männer ist diese Achtung zunächst von dem Er-<lb/>
ringen des <hi rendition="#g">Wahlrechts</hi> abhängig; ohne dieses ist es un-<lb/>
möglich, seinen Gedanken und seinem Willen Respekt zu<lb/>
verschaffen.</p><lb/>
        <p>Ohne abgeklärte Geistesarbeit ist es auch <hi rendition="#g">mit</hi> dem<lb/>
Besitz des Wahlrechts nicht möglich, die Menschheit für zweck-<lb/>
mäßige Methoden zur Kunst des Lebens zu vereinigen. Erst<lb/>
dann, wenn der Verstand kultiviert genug ist, werden wir<lb/>
die Errungenschaften anzuwenden verstehen, die die Wissen-<lb/>
schaften uns gebracht haben.</p><lb/>
        <p>Wir werden wissen, daß jede Entwickelung bestimmten<lb/>
Gesetzen folgt, daß keine Umgestaltung als Wunder vom<lb/>
Himmel fällt, oder der Theaterstreich eines geschickten Regisseurs<lb/>
ist, selbst wenn es manchmal den Anschein davon hat.</p><lb/>
        <p>Keine Klasse, weder die der <hi rendition="#g">Proletarier</hi> in ihrer<lb/><hi rendition="#g">Armut</hi>, noch die der <hi rendition="#g">Frauen</hi> in ihrer <hi rendition="#g">Schwäche</hi>, kann<lb/>
sich zur Höhe des Lebens aufschwingen, bevor sie ihre Denk-<lb/>
fähigkeit erhöht hat. Aeußere Umwälzungen können ohne<lb/>
intellektuelle Vorarbeiten nicht dauernd sein.</p><lb/>
        <p>Jede Zivilisation hängt davon ab, daß das Jndividuum<lb/>
ein klares Bewußtsein von sich selbst und der Welt bekommt.</p><lb/>
        <p>Der Feminismus will nicht zugeben, daß die <hi rendition="#g">Un-<lb/>
wissenheit</hi>, bei wem es auch immer sei, eine Tugend<lb/>
wäre, folglich auch nicht bei der Frau. Der Feminismus<lb/>
will rationell der Vernunft gemäß wirken.</p><lb/>
        <p>Er liebt die Aufklärung.</p><lb/>
        <p>Seine Moral ist nur ein anderer Name für &#x07DD; <hi rendition="#aq">lux</hi><lb/>
&#x2013; Licht!</p><lb/>
      </div>
      <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
      <gap reason="insignificant" unit="lines" quantity="30"/>
      <cb/>
      <gap reason="insignificant" unit="lines" quantity="75"/>
      <cb/>
      <cb type="end"/>
    </body>
  </text>
</TEI>
[109/0004] freien, weil sie für sie Ursache und Ziel des Fortschritts darin besteht, möglichst glückliche Daseinsbedingungen zu schaffen. Die Menschheit hat stets darnach gestrebt, ob man es nun anerkennen will oder nicht. Nur in dem Maße, als unser eigenes Fortschreiten das irdische Dasein der Menschheit ver- bessert, sprechen wir von einem „Fortschritt der Kultur“. Anderenfalls sagen wir: Die Kultur sank – die Kultur verschwand – die Willkür herrschte. Der Feminismus glaubt an keinen wirklichen Fortschritt, dessen Weg nicht durch die Wissenschaft und die Frucht des Denkens geebnet wird. Deshalb will er alle Klassen, alle Geschlechter und jeden Einzelnen an das Denken gewöhnen, und daß sie ihren Ge- danken Achtung verschaffen. Für Frauen und nicht wahl- berechtigte Männer ist diese Achtung zunächst von dem Er- ringen des Wahlrechts abhängig; ohne dieses ist es un- möglich, seinen Gedanken und seinem Willen Respekt zu verschaffen. Ohne abgeklärte Geistesarbeit ist es auch mit dem Besitz des Wahlrechts nicht möglich, die Menschheit für zweck- mäßige Methoden zur Kunst des Lebens zu vereinigen. Erst dann, wenn der Verstand kultiviert genug ist, werden wir die Errungenschaften anzuwenden verstehen, die die Wissen- schaften uns gebracht haben. Wir werden wissen, daß jede Entwickelung bestimmten Gesetzen folgt, daß keine Umgestaltung als Wunder vom Himmel fällt, oder der Theaterstreich eines geschickten Regisseurs ist, selbst wenn es manchmal den Anschein davon hat. Keine Klasse, weder die der Proletarier in ihrer Armut, noch die der Frauen in ihrer Schwäche, kann sich zur Höhe des Lebens aufschwingen, bevor sie ihre Denk- fähigkeit erhöht hat. Aeußere Umwälzungen können ohne intellektuelle Vorarbeiten nicht dauernd sein. Jede Zivilisation hängt davon ab, daß das Jndividuum ein klares Bewußtsein von sich selbst und der Welt bekommt. Der Feminismus will nicht zugeben, daß die Un- wissenheit, bei wem es auch immer sei, eine Tugend wäre, folglich auch nicht bei der Frau. Der Feminismus will rationell der Vernunft gemäß wirken. Er liebt die Aufklärung. Seine Moral ist nur ein anderer Name für ߝ lux – Licht! ______________________________ ___________________________________________________________________________

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Texte der ersten Frauenbewegung, betreut von Anna Pfundt und Thomas Gloning, JLU Gießen : Bereitstellung der Texttranskription. (2021-03-10T13:14:35Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Anna Pfundt, Juliane Nau: Bearbeitung der digitalen Edition. (2021-03-10T13:14:35Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: keine Angabe; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; i/j in Fraktur: keine Angabe; Kolumnentitel: keine Angabe; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine Angabe; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: wie Vorlage; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/steenhof_moral_1907
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/steenhof_moral_1907/4
Zitationshilfe: Stéenhof, Frieda: Die Moral des Feminismus. In: Ethische Kultur (1907). S. 106–109, S. 109. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steenhof_moral_1907/4>, abgerufen am 21.11.2024.