Theil der Wissenschaft, der seit fünfzig, ja eigentlich seit dreihundert Jahren so stabil gewesen wäre, ja so wenig Fortschritte gemacht hätte, als die Rechtswissenschaft. Im Großen und Ganzen gibt es nur Einen Punkt, auf dem wir weiter gekommen sind, und das ist die Rechtsgeschichte der alten Zeit. Im Uebrigen stehen wir da, wo im vorigen Jahrhundert Selchow und Runde, in unserem Makeldey und Wennig-Ingenheim standen. Der große Impuls, den der geniale Thibaut gegeben, ist erfolglos geblieben. Doch das ist nicht die Hauptsache, weil es nur die Consequenz der Hauptsache ist. Die aber besteht in der sehr ernsten Thatsache, daß wir, mitten in einem Leben, das nach allen Seiten hin seine Blüthen einer neuen Zukunft entgegen treibt, mit unserem ganzen juristischen Bewußtsein wesentlich noch im Corpus Juris und den Pandekten stecken. Es ist fast unglaublich, daß fast an allen deutschen Universitäten das Maß der Kenntniß des römischen Rechts als das Maß der juristischen Bildung gilt; daß die Pan- dekten die Hauptsache des Studiums sind, daß das römische Recht die Literatur beherrscht, und daß man alles, was ihm nicht ange- hört, als Sache zweiter Ordnung betrachtet. Und wenn man für das römische Recht noch irgend eine Vorstellung von der Grenz- bestimmung dessen hätte, was aus ihm gilt und nicht gilt, oder eine Vorstellung von seinem Verhältniß zum deutschen Privatrecht, oder eine Vorstellung von der Geschichte eben dieses römischen Rechts seit den letzten zwei Jahrhunderten! Ist es nicht wunder- bar, daß unsre jungen Männer mehr wissen von Atilius und Plautius, von Ulpian und Hermogenian, als von Leyser, Stryk, Pothier, Merlin, Blackstone und andern Männern, auf deren Schultern unsere Rechtsbildung steht? Ist es nicht wunderbar, daß es die erste Aufgabe jedes deutschen Juristen ist, sich mit Servius Tullius und den zwölf Tafeln auf möglichst guten Fuß zu setzen, daß man die Weisthümer, Bannrechte und Regalien, die eben so wenig jetzt noch existiren wie das Edictum perpetuum, genau kennen muß, daß aber in ganz Deutschland keine einzige Universität und keine einzige Vorlesung existiren, wo der junge Mann auch nur die gegen- wärtige Civilgesetzgebung eben dieses ganzen Deutsch- lands kennen lernen könnte. Deutschlands gegenwärtiges
Theil der Wiſſenſchaft, der ſeit fünfzig, ja eigentlich ſeit dreihundert Jahren ſo ſtabil geweſen wäre, ja ſo wenig Fortſchritte gemacht hätte, als die Rechtswiſſenſchaft. Im Großen und Ganzen gibt es nur Einen Punkt, auf dem wir weiter gekommen ſind, und das iſt die Rechtsgeſchichte der alten Zeit. Im Uebrigen ſtehen wir da, wo im vorigen Jahrhundert Selchow und Runde, in unſerem Makeldey und Wennig-Ingenheim ſtanden. Der große Impuls, den der geniale Thibaut gegeben, iſt erfolglos geblieben. Doch das iſt nicht die Hauptſache, weil es nur die Conſequenz der Hauptſache iſt. Die aber beſteht in der ſehr ernſten Thatſache, daß wir, mitten in einem Leben, das nach allen Seiten hin ſeine Blüthen einer neuen Zukunft entgegen treibt, mit unſerem ganzen juriſtiſchen Bewußtſein weſentlich noch im Corpus Juris und den Pandekten ſtecken. Es iſt faſt unglaublich, daß faſt an allen deutſchen Univerſitäten das Maß der Kenntniß des römiſchen Rechts als das Maß der juriſtiſchen Bildung gilt; daß die Pan- dekten die Hauptſache des Studiums ſind, daß das römiſche Recht die Literatur beherrſcht, und daß man alles, was ihm nicht ange- hört, als Sache zweiter Ordnung betrachtet. Und wenn man für das römiſche Recht noch irgend eine Vorſtellung von der Grenz- beſtimmung deſſen hätte, was aus ihm gilt und nicht gilt, oder eine Vorſtellung von ſeinem Verhältniß zum deutſchen Privatrecht, oder eine Vorſtellung von der Geſchichte eben dieſes römiſchen Rechts ſeit den letzten zwei Jahrhunderten! Iſt es nicht wunder- bar, daß unſre jungen Männer mehr wiſſen von Atilius und Plautius, von Ulpian und Hermogenian, als von Leyſer, Stryk, Pothier, Merlin, Blackſtone und andern Männern, auf deren Schultern unſere Rechtsbildung ſteht? Iſt es nicht wunderbar, daß es die erſte Aufgabe jedes deutſchen Juriſten iſt, ſich mit Servius Tullius und den zwölf Tafeln auf möglichſt guten Fuß zu ſetzen, daß man die Weisthümer, Bannrechte und Regalien, die eben ſo wenig jetzt noch exiſtiren wie das Edictum perpetuum, genau kennen muß, daß aber in ganz Deutſchland keine einzige Univerſität und keine einzige Vorleſung exiſtiren, wo der junge Mann auch nur die gegen- wärtige Civilgeſetzgebung eben dieſes ganzen Deutſch- lands kennen lernen könnte. Deutſchlands gegenwärtiges
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[IV/0010]
Theil der Wiſſenſchaft, der ſeit fünfzig, ja eigentlich ſeit dreihundert
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es nur Einen Punkt, auf dem wir weiter gekommen ſind, und
das iſt die Rechtsgeſchichte der alten Zeit. Im Uebrigen ſtehen
wir da, wo im vorigen Jahrhundert Selchow und Runde, in
unſerem Makeldey und Wennig-Ingenheim ſtanden. Der
große Impuls, den der geniale Thibaut gegeben, iſt erfolglos
geblieben. Doch das iſt nicht die Hauptſache, weil es nur die
Conſequenz der Hauptſache iſt. Die aber beſteht in der ſehr ernſten
Thatſache, daß wir, mitten in einem Leben, das nach allen Seiten
hin ſeine Blüthen einer neuen Zukunft entgegen treibt, mit unſerem
ganzen juriſtiſchen Bewußtſein weſentlich noch im Corpus Juris
und den Pandekten ſtecken. Es iſt faſt unglaublich, daß faſt an
allen deutſchen Univerſitäten das Maß der Kenntniß des römiſchen
Rechts als das Maß der juriſtiſchen Bildung gilt; daß die Pan-
dekten die Hauptſache des Studiums ſind, daß das römiſche Recht
die Literatur beherrſcht, und daß man alles, was ihm nicht ange-
hört, als Sache zweiter Ordnung betrachtet. Und wenn man für
das römiſche Recht noch irgend eine Vorſtellung von der Grenz-
beſtimmung deſſen hätte, was aus ihm gilt und nicht gilt, oder
eine Vorſtellung von ſeinem Verhältniß zum deutſchen Privatrecht,
oder eine Vorſtellung von der Geſchichte eben dieſes römiſchen
Rechts ſeit den letzten zwei Jahrhunderten! Iſt es nicht wunder-
bar, daß unſre jungen Männer mehr wiſſen von Atilius und
Plautius, von Ulpian und Hermogenian, als von Leyſer,
Stryk, Pothier, Merlin, Blackſtone und andern Männern,
auf deren Schultern unſere Rechtsbildung ſteht? Iſt es nicht
wunderbar, daß es die erſte Aufgabe jedes deutſchen Juriſten iſt,
ſich mit Servius Tullius und den zwölf Tafeln auf möglichſt
guten Fuß zu ſetzen, daß man die Weisthümer, Bannrechte und
Regalien, die eben ſo wenig jetzt noch exiſtiren wie das Edictum
perpetuum, genau kennen muß, daß aber in ganz Deutſchland
keine einzige Univerſität und keine einzige Vorleſung
exiſtiren, wo der junge Mann auch nur die gegen-
wärtige Civilgeſetzgebung eben dieſes ganzen Deutſch-
lands kennen lernen könnte. Deutſchlands gegenwärtiges
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Stein, Lorenz von: Handbuch der Verwaltungslehre und des Verwaltungsrechts: mit Vergleichung der Literatur und Gesetzgebung von Frankreich, England und Deutschland; als Grundlage für Vorlesungen. Stuttgart, 1870, S. IV. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_handbuch_1870/10>, abgerufen am 23.11.2024.
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