Recht existirt auf den deutschen Rechtsfakultäten nicht; an der Stelle des deutschen Rechts steht das Pandektenwesen, an der Stelle der organischen Auffassung desselben die Casuistik, und das was die deutschen Juristen zu einem Ganzen macht -- die Quelle des deutschen Rechtsbewußtseins, der deutschen einheitlichen Rechts- bildung ist -- das Recht der Römer, von dem drei Viertel absolut unbrauchbar für uns sind, und wo man bei dem letzten Viertel nicht mehr weiß, was noch für uns einen Werth haben kann, was nicht. Daß dabei von einem Verständniß der französischen und englischen Rechtsbildung keine Rede ist, ist in einem Volke natür- lich leicht klar, wo der Preuße nicht lernt, was in Sachsen, der Sachse nicht was in Bayern, der Bayer nicht was in Württem- berg und keiner von ihnen was in Oesterreich gilt. Und während diese Leute sitzen und ihre Antiquitäten tradiren, geht das gewal- tige Leben unsrer Zeit über sie hinweg, verbindet die Völker und Länder, läßt nirgends eine Absonderung und Abgeschlossenheit zu; jeder junge Geschäftsmann sucht Frankreich und England, jeder Techniker weiß Bescheid von der Ostsee bis zum Mittelmeer, aber der Jurist, an seine Pandekten gekettet, ward erzogen und gegängelt von der Vorstellung, daß er neben diesen Pandekten nicht einmal die Kenntniß der in seinem Vaterlande geltenden Gesetzbücher, geschweige denn der Rechtsbildung und der Literatur unseres Jahr- hunderts bedürfe, um ein "tüchtiger" Jurist zu sein. Während in diesem sich selbst in hundert Commissionen prüfenden und testi- renden Volke hundertmal an Einem Tage die Frage nach der lex Aquilia oder Rhodia vorkommt -- wir fragen, ob auch nur ein einzigesmal seit hundert Jahren in Preußen bei einem Examen eine Frage nach dem bayrischen oder österreichischen Landrecht vorge- kommen, oder nach irgend einem nichtpreußischen Recht diesseits oder jenseits der Mainlinie oder umgekehrt? Und dann fragt man noch, weßhalb die Franzosen uns in der Weise achten und behandeln, wie man etwas Unverständliches behandelt?
Und dennoch ist das nur Eine Seite der Sache. Die zweite nicht weniger ernste ist die, welche sich dem öffentlichen Leben und seinem Recht zuwendet. Und hier wieder wollen wir nicht vom eigentlichen Staatsrecht reden. Es ist ein eigenes Ding mit dem Staatsrecht unserer Zeit, vor allem mit dem deutschen Staatsrecht,
Recht exiſtirt auf den deutſchen Rechtsfakultäten nicht; an der Stelle des deutſchen Rechts ſteht das Pandektenweſen, an der Stelle der organiſchen Auffaſſung deſſelben die Caſuiſtik, und das was die deutſchen Juriſten zu einem Ganzen macht — die Quelle des deutſchen Rechtsbewußtſeins, der deutſchen einheitlichen Rechts- bildung iſt — das Recht der Römer, von dem drei Viertel abſolut unbrauchbar für uns ſind, und wo man bei dem letzten Viertel nicht mehr weiß, was noch für uns einen Werth haben kann, was nicht. Daß dabei von einem Verſtändniß der franzöſiſchen und engliſchen Rechtsbildung keine Rede iſt, iſt in einem Volke natür- lich leicht klar, wo der Preuße nicht lernt, was in Sachſen, der Sachſe nicht was in Bayern, der Bayer nicht was in Württem- berg und keiner von ihnen was in Oeſterreich gilt. Und während dieſe Leute ſitzen und ihre Antiquitäten tradiren, geht das gewal- tige Leben unſrer Zeit über ſie hinweg, verbindet die Völker und Länder, läßt nirgends eine Abſonderung und Abgeſchloſſenheit zu; jeder junge Geſchäftsmann ſucht Frankreich und England, jeder Techniker weiß Beſcheid von der Oſtſee bis zum Mittelmeer, aber der Juriſt, an ſeine Pandekten gekettet, ward erzogen und gegängelt von der Vorſtellung, daß er neben dieſen Pandekten nicht einmal die Kenntniß der in ſeinem Vaterlande geltenden Geſetzbücher, geſchweige denn der Rechtsbildung und der Literatur unſeres Jahr- hunderts bedürfe, um ein „tüchtiger“ Juriſt zu ſein. Während in dieſem ſich ſelbſt in hundert Commiſſionen prüfenden und teſti- renden Volke hundertmal an Einem Tage die Frage nach der lex Aquilia oder Rhodia vorkommt — wir fragen, ob auch nur ein einzigesmal ſeit hundert Jahren in Preußen bei einem Examen eine Frage nach dem bayriſchen oder öſterreichiſchen Landrecht vorge- kommen, oder nach irgend einem nichtpreußiſchen Recht dieſſeits oder jenſeits der Mainlinie oder umgekehrt? Und dann fragt man noch, weßhalb die Franzoſen uns in der Weiſe achten und behandeln, wie man etwas Unverſtändliches behandelt?
Und dennoch iſt das nur Eine Seite der Sache. Die zweite nicht weniger ernſte iſt die, welche ſich dem öffentlichen Leben und ſeinem Recht zuwendet. Und hier wieder wollen wir nicht vom eigentlichen Staatsrecht reden. Es iſt ein eigenes Ding mit dem Staatsrecht unſerer Zeit, vor allem mit dem deutſchen Staatsrecht,
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[V/0011]
Recht exiſtirt auf den deutſchen Rechtsfakultäten nicht; an der
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die deutſchen Juriſten zu einem Ganzen macht — die Quelle des
deutſchen Rechtsbewußtſeins, der deutſchen einheitlichen Rechts-
bildung iſt — das Recht der Römer, von dem drei Viertel abſolut
unbrauchbar für uns ſind, und wo man bei dem letzten Viertel
nicht mehr weiß, was noch für uns einen Werth haben kann, was
nicht. Daß dabei von einem Verſtändniß der franzöſiſchen und
engliſchen Rechtsbildung keine Rede iſt, iſt in einem Volke natür-
lich leicht klar, wo der Preuße nicht lernt, was in Sachſen, der
Sachſe nicht was in Bayern, der Bayer nicht was in Württem-
berg und keiner von ihnen was in Oeſterreich gilt. Und während
dieſe Leute ſitzen und ihre Antiquitäten tradiren, geht das gewal-
tige Leben unſrer Zeit über ſie hinweg, verbindet die Völker und
Länder, läßt nirgends eine Abſonderung und Abgeſchloſſenheit zu;
jeder junge Geſchäftsmann ſucht Frankreich und England, jeder
Techniker weiß Beſcheid von der Oſtſee bis zum Mittelmeer, aber
der Juriſt, an ſeine Pandekten gekettet, ward erzogen und gegängelt
von der Vorſtellung, daß er neben dieſen Pandekten nicht einmal
die Kenntniß der in ſeinem Vaterlande geltenden Geſetzbücher,
geſchweige denn der Rechtsbildung und der Literatur unſeres Jahr-
hunderts bedürfe, um ein „tüchtiger“ Juriſt zu ſein. Während
in dieſem ſich ſelbſt in hundert Commiſſionen prüfenden und teſti-
renden Volke hundertmal an Einem Tage die Frage nach der lex
Aquilia oder Rhodia vorkommt — wir fragen, ob auch nur ein
einzigesmal ſeit hundert Jahren in Preußen bei einem Examen eine
Frage nach dem bayriſchen oder öſterreichiſchen Landrecht vorge-
kommen, oder nach irgend einem nichtpreußiſchen Recht dieſſeits
oder jenſeits der Mainlinie oder umgekehrt? Und dann fragt
man noch, weßhalb die Franzoſen uns in der Weiſe achten und
behandeln, wie man etwas Unverſtändliches behandelt?
Und dennoch iſt das nur Eine Seite der Sache. Die zweite
nicht weniger ernſte iſt die, welche ſich dem öffentlichen Leben und
ſeinem Recht zuwendet. Und hier wieder wollen wir nicht vom
eigentlichen Staatsrecht reden. Es iſt ein eigenes Ding mit dem
Staatsrecht unſerer Zeit, vor allem mit dem deutſchen Staatsrecht,
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Stein, Lorenz von: Handbuch der Verwaltungslehre und des Verwaltungsrechts: mit Vergleichung der Literatur und Gesetzgebung von Frankreich, England und Deutschland; als Grundlage für Vorlesungen. Stuttgart, 1870, S. V. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_handbuch_1870/11>, abgerufen am 28.01.2025.
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