und viele Gründe erklären, weßhalb man dasselbe in seinen einzelnen positiven Bestimmungen für unwichtig erklären muß; denn das positive Recht wechselt und die Principien stehen nicht fest. Allein ein anderes ist gewiß. Das, was sich namentlich in Deutschland am stärksten entwickelt, ist das System und der Organismus der Selbstverwaltung, mit ihr der beständige Drang, die Aufgaben der Verwaltung der alten Bureaukratie zu entziehen. Um das zu können, muß man Eins, man muß nicht bloß das Recht, man muß auch die Fähigkeit haben zu verwalten. Diese Fähigkeit hat aber ihre Voraussetzungen, wie jede andere. Sie fordert Arbeit und Kenntnisse. Und eben deßhalb, wo immer die Selbstverwaltung auftritt, wendet sie sich zunächst an die, denen man in öffentlichen Dingen die meisten Kenntnisse zutraut. Das aber sind die Rechts- kundigen aller Art. Und was haben die Rechtskundigen gelernt? Von welchen Gesichtspunkten gehen sie aus? Was ist die Basis ihrer Kenntnisse? Wir bedauern, sagen zu müssen, daß die Bil- dung für das öffentliche Leben in Deutschland für die meisten Fach- juristen mitten in der gewaltigen Zeit, in der wir stehen, sich nach wie vor wesentlich auf jenes römische Recht, auf Institutionen und Pandekten beschränkt, von denen nicht einmal das Verhältniß zum übrigen positiven bürgerlichen Recht klar ist. Mit dem römischen Recht ausgerüstet, tritt der Fachjurist in die Gemeindevertretung, in den Kreis und Landtag, in den Reichs- und Bundestag. Hier aber handelt es sich um etwas anderes als um Titus und Sem- pronius; hier treten die praktischen Fragen des öffentlichen Lebens auf; hier ist es das Gemeindewesen, das Gewerbe, das Vereins- wesen, die Wege, Brücken, die Grundbücher, das Gesundheits- wesen und hundert andere Dinge, welche eine verständige Erledigung fordern, eine Erledigung, von der nicht etwa ein Beweisinterlocut oder ein Endurtheil im Proceß zwischen jenem Titus und Sem- pronius, sondern das Wohl und Wehe vieler Menschen, ja ganzer Körper und Staaten abhängen. Und was hilft ihm hier der Geist des römischen Rechts, den er anruft, wo das Wort ihn im Stiche läßt, und den er nicht zu beherrschen weiß, wenn er erscheint? Was nützen ihm Institutionen und Pandekten, die ja nicht einmal ein lateinisches Wort für die Hauptbegriffe haben, um die es sich handelt? Kann jemand die Gemeinde, das Gewerbe, die Gesundheits-
und viele Gründe erklären, weßhalb man daſſelbe in ſeinen einzelnen poſitiven Beſtimmungen für unwichtig erklären muß; denn das poſitive Recht wechſelt und die Principien ſtehen nicht feſt. Allein ein anderes iſt gewiß. Das, was ſich namentlich in Deutſchland am ſtärkſten entwickelt, iſt das Syſtem und der Organismus der Selbſtverwaltung, mit ihr der beſtändige Drang, die Aufgaben der Verwaltung der alten Bureaukratie zu entziehen. Um das zu können, muß man Eins, man muß nicht bloß das Recht, man muß auch die Fähigkeit haben zu verwalten. Dieſe Fähigkeit hat aber ihre Vorausſetzungen, wie jede andere. Sie fordert Arbeit und Kenntniſſe. Und eben deßhalb, wo immer die Selbſtverwaltung auftritt, wendet ſie ſich zunächſt an die, denen man in öffentlichen Dingen die meiſten Kenntniſſe zutraut. Das aber ſind die Rechts- kundigen aller Art. Und was haben die Rechtskundigen gelernt? Von welchen Geſichtspunkten gehen ſie aus? Was iſt die Baſis ihrer Kenntniſſe? Wir bedauern, ſagen zu müſſen, daß die Bil- dung für das öffentliche Leben in Deutſchland für die meiſten Fach- juriſten mitten in der gewaltigen Zeit, in der wir ſtehen, ſich nach wie vor weſentlich auf jenes römiſche Recht, auf Inſtitutionen und Pandekten beſchränkt, von denen nicht einmal das Verhältniß zum übrigen poſitiven bürgerlichen Recht klar iſt. Mit dem römiſchen Recht ausgerüſtet, tritt der Fachjuriſt in die Gemeindevertretung, in den Kreis und Landtag, in den Reichs- und Bundestag. Hier aber handelt es ſich um etwas anderes als um Titus und Sem- pronius; hier treten die praktiſchen Fragen des öffentlichen Lebens auf; hier iſt es das Gemeindeweſen, das Gewerbe, das Vereins- weſen, die Wege, Brücken, die Grundbücher, das Geſundheits- weſen und hundert andere Dinge, welche eine verſtändige Erledigung fordern, eine Erledigung, von der nicht etwa ein Beweisinterlocut oder ein Endurtheil im Proceß zwiſchen jenem Titus und Sem- pronius, ſondern das Wohl und Wehe vieler Menſchen, ja ganzer Körper und Staaten abhängen. Und was hilft ihm hier der Geiſt des römiſchen Rechts, den er anruft, wo das Wort ihn im Stiche läßt, und den er nicht zu beherrſchen weiß, wenn er erſcheint? Was nützen ihm Inſtitutionen und Pandekten, die ja nicht einmal ein lateiniſches Wort für die Hauptbegriffe haben, um die es ſich handelt? Kann jemand die Gemeinde, das Gewerbe, die Geſundheits-
<TEI><text><front><divn="1"><p><pbfacs="#f0012"n="VI"/>
und viele Gründe erklären, weßhalb man daſſelbe in ſeinen einzelnen<lb/>
poſitiven Beſtimmungen für unwichtig erklären muß; denn das<lb/>
poſitive Recht wechſelt und die Principien ſtehen nicht feſt. Allein<lb/>
ein anderes iſt gewiß. Das, was ſich namentlich in Deutſchland<lb/>
am ſtärkſten entwickelt, iſt das Syſtem und der Organismus der<lb/>
Selbſtverwaltung, mit ihr der beſtändige Drang, die Aufgaben<lb/>
der Verwaltung der alten Bureaukratie zu entziehen. Um das zu<lb/>
können, muß man Eins, man muß nicht bloß das Recht, man<lb/>
muß auch die Fähigkeit haben zu verwalten. Dieſe Fähigkeit hat<lb/>
aber ihre Vorausſetzungen, wie jede andere. Sie fordert Arbeit<lb/>
und Kenntniſſe. Und eben deßhalb, wo immer die Selbſtverwaltung<lb/>
auftritt, wendet ſie ſich zunächſt an die, denen man in öffentlichen<lb/>
Dingen die meiſten Kenntniſſe zutraut. Das aber ſind die Rechts-<lb/>
kundigen aller Art. Und <hirendition="#g">was</hi> haben die Rechtskundigen gelernt?<lb/>
Von welchen Geſichtspunkten gehen ſie aus? Was iſt die Baſis<lb/>
ihrer Kenntniſſe? Wir bedauern, ſagen zu müſſen, daß die Bil-<lb/>
dung für das öffentliche Leben in Deutſchland für die meiſten Fach-<lb/>
juriſten mitten in der gewaltigen Zeit, in der wir ſtehen, ſich nach<lb/>
wie vor weſentlich auf jenes römiſche Recht, auf Inſtitutionen und<lb/>
Pandekten beſchränkt, von denen nicht einmal das Verhältniß zum<lb/>
übrigen poſitiven bürgerlichen Recht klar iſt. Mit dem römiſchen<lb/>
Recht ausgerüſtet, tritt der Fachjuriſt in die Gemeindevertretung,<lb/>
in den Kreis und Landtag, in den Reichs- und Bundestag. Hier<lb/>
aber handelt es ſich um etwas anderes als um Titus und Sem-<lb/>
pronius; hier treten die praktiſchen Fragen des öffentlichen Lebens<lb/>
auf; hier iſt es das Gemeindeweſen, das Gewerbe, das Vereins-<lb/>
weſen, die Wege, Brücken, die Grundbücher, das Geſundheits-<lb/>
weſen und hundert andere Dinge, welche eine verſtändige Erledigung<lb/>
fordern, eine Erledigung, von der nicht etwa ein Beweisinterlocut<lb/>
oder ein Endurtheil im Proceß zwiſchen jenem Titus und Sem-<lb/>
pronius, ſondern das Wohl und Wehe vieler Menſchen, ja ganzer<lb/>
Körper und Staaten abhängen. Und was hilft ihm hier der Geiſt<lb/>
des römiſchen Rechts, den er anruft, wo das Wort ihn im Stiche<lb/>
läßt, und den er nicht zu beherrſchen weiß, wenn er erſcheint?<lb/>
Was nützen ihm Inſtitutionen und Pandekten, die ja nicht einmal<lb/>
ein lateiniſches Wort für die Hauptbegriffe haben, um die es ſich<lb/>
handelt? Kann jemand die Gemeinde, das Gewerbe, die Geſundheits-<lb/></p></div></front></text></TEI>
[VI/0012]
und viele Gründe erklären, weßhalb man daſſelbe in ſeinen einzelnen
poſitiven Beſtimmungen für unwichtig erklären muß; denn das
poſitive Recht wechſelt und die Principien ſtehen nicht feſt. Allein
ein anderes iſt gewiß. Das, was ſich namentlich in Deutſchland
am ſtärkſten entwickelt, iſt das Syſtem und der Organismus der
Selbſtverwaltung, mit ihr der beſtändige Drang, die Aufgaben
der Verwaltung der alten Bureaukratie zu entziehen. Um das zu
können, muß man Eins, man muß nicht bloß das Recht, man
muß auch die Fähigkeit haben zu verwalten. Dieſe Fähigkeit hat
aber ihre Vorausſetzungen, wie jede andere. Sie fordert Arbeit
und Kenntniſſe. Und eben deßhalb, wo immer die Selbſtverwaltung
auftritt, wendet ſie ſich zunächſt an die, denen man in öffentlichen
Dingen die meiſten Kenntniſſe zutraut. Das aber ſind die Rechts-
kundigen aller Art. Und was haben die Rechtskundigen gelernt?
Von welchen Geſichtspunkten gehen ſie aus? Was iſt die Baſis
ihrer Kenntniſſe? Wir bedauern, ſagen zu müſſen, daß die Bil-
dung für das öffentliche Leben in Deutſchland für die meiſten Fach-
juriſten mitten in der gewaltigen Zeit, in der wir ſtehen, ſich nach
wie vor weſentlich auf jenes römiſche Recht, auf Inſtitutionen und
Pandekten beſchränkt, von denen nicht einmal das Verhältniß zum
übrigen poſitiven bürgerlichen Recht klar iſt. Mit dem römiſchen
Recht ausgerüſtet, tritt der Fachjuriſt in die Gemeindevertretung,
in den Kreis und Landtag, in den Reichs- und Bundestag. Hier
aber handelt es ſich um etwas anderes als um Titus und Sem-
pronius; hier treten die praktiſchen Fragen des öffentlichen Lebens
auf; hier iſt es das Gemeindeweſen, das Gewerbe, das Vereins-
weſen, die Wege, Brücken, die Grundbücher, das Geſundheits-
weſen und hundert andere Dinge, welche eine verſtändige Erledigung
fordern, eine Erledigung, von der nicht etwa ein Beweisinterlocut
oder ein Endurtheil im Proceß zwiſchen jenem Titus und Sem-
pronius, ſondern das Wohl und Wehe vieler Menſchen, ja ganzer
Körper und Staaten abhängen. Und was hilft ihm hier der Geiſt
des römiſchen Rechts, den er anruft, wo das Wort ihn im Stiche
läßt, und den er nicht zu beherrſchen weiß, wenn er erſcheint?
Was nützen ihm Inſtitutionen und Pandekten, die ja nicht einmal
ein lateiniſches Wort für die Hauptbegriffe haben, um die es ſich
handelt? Kann jemand die Gemeinde, das Gewerbe, die Geſundheits-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Stein, Lorenz von: Handbuch der Verwaltungslehre und des Verwaltungsrechts: mit Vergleichung der Literatur und Gesetzgebung von Frankreich, England und Deutschland; als Grundlage für Vorlesungen. Stuttgart, 1870, S. VI. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_handbuch_1870/12>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.