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Stein, Lorenz von: Handbuch der Verwaltungslehre und des Verwaltungsrechts: mit Vergleichung der Literatur und Gesetzgebung von Frankreich, England und Deutschland; als Grundlage für Vorlesungen. Stuttgart, 1870.

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wirthschaftlicher Noth entgegen. Da nun beginnt namentlich seit der
Mitte unseres Jahrhunderts, die neue Bewegung auf dem Gebiete des
Vereinslebens; der Credit wird eine der Hauptgegenstände der Vereins-
unternehmungen; mit ihnen verschwindet nun auch der letzte Halt für
Zins- und Wuchergesetz, und auf allen Punkten in Europa wird die
Capitalsbewegung vollständig freigegeben, so daß die letzten Reste des
früheren Standpunktes mit dem vollständigen Siege der staatsbürger-
lichen Gesellschaft nach einander beseitigt werden. Es ist einer der
größten Siege, den die letztere durch ihr Vereinswesen in der Geschichte
errungen hat; mit ihm gibt es kein öffentliches Recht des Dar-
lehens mehr
, sondern nur noch ein Privatrecht desselben.

Die Literatur und Gesetzgebung über Zins und Wucher ist so reich, daß
man sie nur dann beherrscht, wenn man sie von dem obigen Standpunkt aus
als einen in sich wesentlichen Entwicklungsproceß betrachtet (s. Stein in
Haimerls Magazin Bd. XIV. Heft 3, als erster Versuch, die Wuchergesetz-
gebung auf die gesellschaftlichen Besitzverhältnisse zurückzuführen). Sehr gute,
aber vom Standpunkt der Vertheidigung des Wuchers aufgefaßte Geschichte der
Gesetzgebung bei Th. Rizy, über Zins- und Wuchergesetze 1859. S. 35 ff.
Die großen Epochen der legislativen Entwicklung sind folgende. Aelteste Zeit:
äußerste Strenge der Schuldgesetze: der Schuldner ward Knecht "zu Hand und
Halfter" (Sachsenspiegel III. 39; Grimm, Reichsalterthümer S. 612 ff.).
Zweite Epoche. Standpunkt der Kirche: Verdammung nicht bloß des Wuchers,
sondern der Zinszahlung überhaupt (C. 2. X. de pignoribus, Buckle, Hist.
of Civ. I.
215); daneben große Unsicherheit in den Bestimmungen der Landes-
herrn über die Berechtigung Zins zu nehmen; Auffassung und Verleihung der
letzteren als Privilegium, namentlich an die Juden (s. Rizy a. a. O.
S. 69 ff.). Dritte Epoche: seit dem sechzehnten Jahrhundert mit der Ent-
wicklung des Verkehrs die Nothwendigkeit, allgemein gültige Bestimmungen
dafür aufzustellen. Gesetzlicher Zinsfuß in Frankreich von 81/2 Proc. (1567)
bis auf 5 Proc. (Ord. Dec. 1655 auf 5 Proc.). -- In England durch 37.
Henry III. 9. das verzinsliche Darlehen mit 10 Proc. bestätigt durch 13. Elis. 9;
bis das Stat. 12. Ann. 16 einerseits den gesetzlichen Zins auf 5 Procent fest-
stellt, andererseits aber strenge Wucherstrafen ausspricht (völlige Ungültigkeit
der Verträge und dreifacher Betrag des Darlehens). Stephens, New Com-
mentaries 182. v. II.
141. -- In Deutschland nach manchen örtlichen
Bewegungen (Oesterreich bei Rizy S. 76 ff.) die allgemeine Feststellung des
5proc. Zinsfußes im Reichsabschd. von 1654. Die vierte Epoche ward ein-
geleitet durch die neue nationalökonomische Anschauung der Engländer, von
Culpepper (A treaty against the high rate of usery 1623); Chill
(s. Roscher, Geschichte der englischen Nationalökonomie 1851) und namentlich
Locke, fortgesetzt durch die Physiokraten, vorzüglich Turgot, Mem. sur les
prets d'argent a interet
1769 (Econ. fr. Daire V. 278) und durch Adam
Smith
eigentlich definitiv begründet, der den Zins als Preis des Capital-

wirthſchaftlicher Noth entgegen. Da nun beginnt namentlich ſeit der
Mitte unſeres Jahrhunderts, die neue Bewegung auf dem Gebiete des
Vereinslebens; der Credit wird eine der Hauptgegenſtände der Vereins-
unternehmungen; mit ihnen verſchwindet nun auch der letzte Halt für
Zins- und Wuchergeſetz, und auf allen Punkten in Europa wird die
Capitalsbewegung vollſtändig freigegeben, ſo daß die letzten Reſte des
früheren Standpunktes mit dem vollſtändigen Siege der ſtaatsbürger-
lichen Geſellſchaft nach einander beſeitigt werden. Es iſt einer der
größten Siege, den die letztere durch ihr Vereinsweſen in der Geſchichte
errungen hat; mit ihm gibt es kein öffentliches Recht des Dar-
lehens mehr
, ſondern nur noch ein Privatrecht deſſelben.

Die Literatur und Geſetzgebung über Zins und Wucher iſt ſo reich, daß
man ſie nur dann beherrſcht, wenn man ſie von dem obigen Standpunkt aus
als einen in ſich weſentlichen Entwicklungsproceß betrachtet (ſ. Stein in
Haimerls Magazin Bd. XIV. Heft 3, als erſter Verſuch, die Wuchergeſetz-
gebung auf die geſellſchaftlichen Beſitzverhältniſſe zurückzuführen). Sehr gute,
aber vom Standpunkt der Vertheidigung des Wuchers aufgefaßte Geſchichte der
Geſetzgebung bei Th. Rizy, über Zins- und Wuchergeſetze 1859. S. 35 ff.
Die großen Epochen der legislativen Entwicklung ſind folgende. Aelteſte Zeit:
äußerſte Strenge der Schuldgeſetze: der Schuldner ward Knecht „zu Hand und
Halfter“ (Sachſenſpiegel III. 39; Grimm, Reichsalterthümer S. 612 ff.).
Zweite Epoche. Standpunkt der Kirche: Verdammung nicht bloß des Wuchers,
ſondern der Zinszahlung überhaupt (C. 2. X. de pignoribus, Buckle, Hist.
of Civ. I.
215); daneben große Unſicherheit in den Beſtimmungen der Landes-
herrn über die Berechtigung Zins zu nehmen; Auffaſſung und Verleihung der
letzteren als Privilegium, namentlich an die Juden (ſ. Rizy a. a. O.
S. 69 ff.). Dritte Epoche: ſeit dem ſechzehnten Jahrhundert mit der Ent-
wicklung des Verkehrs die Nothwendigkeit, allgemein gültige Beſtimmungen
dafür aufzuſtellen. Geſetzlicher Zinsfuß in Frankreich von 8½ Proc. (1567)
bis auf 5 Proc. (Ord. Dec. 1655 auf 5 Proc.). — In England durch 37.
Henry III. 9. das verzinsliche Darlehen mit 10 Proc. beſtätigt durch 13. Elis. 9;
bis das Stat. 12. Ann. 16 einerſeits den geſetzlichen Zins auf 5 Procent feſt-
ſtellt, andererſeits aber ſtrenge Wucherſtrafen ausſpricht (völlige Ungültigkeit
der Verträge und dreifacher Betrag des Darlehens). Stephens, New Com-
mentaries 182. v. II.
141. — In Deutſchland nach manchen örtlichen
Bewegungen (Oeſterreich bei Rizy S. 76 ff.) die allgemeine Feſtſtellung des
5proc. Zinsfußes im Reichsabſchd. von 1654. Die vierte Epoche ward ein-
geleitet durch die neue nationalökonomiſche Anſchauung der Engländer, von
Culpepper (A treaty against the high rate of usery 1623); Chill
(ſ. Roſcher, Geſchichte der engliſchen Nationalökonomie 1851) und namentlich
Locke, fortgeſetzt durch die Phyſiokraten, vorzüglich Turgot, Mém. sur les
prêts d’argent à interêt
1769 (Econ. fr. Daire V. 278) und durch Adam
Smith
eigentlich definitiv begründet, der den Zins als Preis des Capital-

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[256/0280] wirthſchaftlicher Noth entgegen. Da nun beginnt namentlich ſeit der Mitte unſeres Jahrhunderts, die neue Bewegung auf dem Gebiete des Vereinslebens; der Credit wird eine der Hauptgegenſtände der Vereins- unternehmungen; mit ihnen verſchwindet nun auch der letzte Halt für Zins- und Wuchergeſetz, und auf allen Punkten in Europa wird die Capitalsbewegung vollſtändig freigegeben, ſo daß die letzten Reſte des früheren Standpunktes mit dem vollſtändigen Siege der ſtaatsbürger- lichen Geſellſchaft nach einander beſeitigt werden. Es iſt einer der größten Siege, den die letztere durch ihr Vereinsweſen in der Geſchichte errungen hat; mit ihm gibt es kein öffentliches Recht des Dar- lehens mehr, ſondern nur noch ein Privatrecht deſſelben. Die Literatur und Geſetzgebung über Zins und Wucher iſt ſo reich, daß man ſie nur dann beherrſcht, wenn man ſie von dem obigen Standpunkt aus als einen in ſich weſentlichen Entwicklungsproceß betrachtet (ſ. Stein in Haimerls Magazin Bd. XIV. Heft 3, als erſter Verſuch, die Wuchergeſetz- gebung auf die geſellſchaftlichen Beſitzverhältniſſe zurückzuführen). Sehr gute, aber vom Standpunkt der Vertheidigung des Wuchers aufgefaßte Geſchichte der Geſetzgebung bei Th. Rizy, über Zins- und Wuchergeſetze 1859. S. 35 ff. Die großen Epochen der legislativen Entwicklung ſind folgende. Aelteſte Zeit: äußerſte Strenge der Schuldgeſetze: der Schuldner ward Knecht „zu Hand und Halfter“ (Sachſenſpiegel III. 39; Grimm, Reichsalterthümer S. 612 ff.). Zweite Epoche. Standpunkt der Kirche: Verdammung nicht bloß des Wuchers, ſondern der Zinszahlung überhaupt (C. 2. X. de pignoribus, Buckle, Hist. of Civ. I. 215); daneben große Unſicherheit in den Beſtimmungen der Landes- herrn über die Berechtigung Zins zu nehmen; Auffaſſung und Verleihung der letzteren als Privilegium, namentlich an die Juden (ſ. Rizy a. a. O. S. 69 ff.). Dritte Epoche: ſeit dem ſechzehnten Jahrhundert mit der Ent- wicklung des Verkehrs die Nothwendigkeit, allgemein gültige Beſtimmungen dafür aufzuſtellen. Geſetzlicher Zinsfuß in Frankreich von 8½ Proc. (1567) bis auf 5 Proc. (Ord. Dec. 1655 auf 5 Proc.). — In England durch 37. Henry III. 9. das verzinsliche Darlehen mit 10 Proc. beſtätigt durch 13. Elis. 9; bis das Stat. 12. Ann. 16 einerſeits den geſetzlichen Zins auf 5 Procent feſt- ſtellt, andererſeits aber ſtrenge Wucherſtrafen ausſpricht (völlige Ungültigkeit der Verträge und dreifacher Betrag des Darlehens). Stephens, New Com- mentaries 182. v. II. 141. — In Deutſchland nach manchen örtlichen Bewegungen (Oeſterreich bei Rizy S. 76 ff.) die allgemeine Feſtſtellung des 5proc. Zinsfußes im Reichsabſchd. von 1654. Die vierte Epoche ward ein- geleitet durch die neue nationalökonomiſche Anſchauung der Engländer, von Culpepper (A treaty against the high rate of usery 1623); Chill (ſ. Roſcher, Geſchichte der engliſchen Nationalökonomie 1851) und namentlich Locke, fortgeſetzt durch die Phyſiokraten, vorzüglich Turgot, Mém. sur les prêts d’argent à interêt 1769 (Econ. fr. Daire V. 278) und durch Adam Smith eigentlich definitiv begründet, der den Zins als Preis des Capital-

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Handbuch der Verwaltungslehre und des Verwaltungsrechts: mit Vergleichung der Literatur und Gesetzgebung von Frankreich, England und Deutschland; als Grundlage für Vorlesungen. Stuttgart, 1870, S. 256. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_handbuch_1870/280>, abgerufen am 22.11.2024.