Hand. In der ersten Zeit der Geschlechterordnung nun, wo die großen Grundbesitzer die Darleiher für die kleinen waren, wie in Rom und Deutschland, ward jenes Recht zur Sicherung und Ausdehnung der Classenherrschaft der besitzenden über die mittlere und niedere Classe gebraucht; es stimmte mit ihrem Interesse, und daher die furchtbare Härte aller ältesten Schuldgesetze. Als aber das Capital sich neben dem Grundbesitze selbständig hinstellt, und auch die herrschende Classe Dar- lehen gegen Zins empfängt, fühlt dieselbe wiederum sich in der Hand der Geldbesitzer, und die rechtliche Auffassung kehrt sich um. So ent- steht die Ansicht, daß gar kein Zins gegeben werden solle; als sich nun das Capital weigert, Darlehen ohne Zins zu geben, entstehen die gesetzlichen Zinsfüße einerseits und andererseits die Vorstellung, daß jedes Darlehen gegen einen hohen Zins ein (gesellschaftliches) Unrecht sei (usuraria pravitas). Beide Elemente gewinnen nun die feste Gestalt der Zins- und Wucher gesetzgebung mit dem Auftreten der selbständigen Regierungsgewalt in den verschiedenen Staaten Euro- pas, namentlich mit dem sechzehnten und siebenzehnten Jahrhundert, weil eben die Regierungen allenthalben noch auf ständischen Grundlagen ruhen und von ihnen umgeben sind. An diese Gesetzgebungen schließt sich eine weitläuftige Wucherjurisprudenz, die bis auf die neueste Zeit dauert. Unterdessen entwickeln sich Handel und Gewerbe. In dem jungen Unternehmen wird die Möglichkeit des Verdienstes mit dem ge- liehenen Capital so groß, die Zahlung so wichtig, und die Sicherheit der Darlehen oft so unbestimmbar, daß ein gesetzlicher Zinsfuß zu einer wirthschaftlichen Unmöglichkeit wird. Somit beginnt der Kampf gegen den gesetzlichen Zinsfuß, der sich aber noch auf das Gebiet der wirthschaftlichen Unternehmungen beschränkt, während derselbe sich im Realcredit noch unangegriffen erhält. Diese Epoche dauert bis zum Anfang unseres Jahrhunderts. Jetzt aber ist die ständische Gesellschaft im Wesentlichen bewältigt, die öffentliche Stellung beruht nicht mehr auf dem Grundbesitz, das ganze volkswirthschaftliche Leben ist bereits von der Nothwendigkeit des Credits durchdrungen, und der gesetzliche Zinsfuß, mehr noch aber die eigentliche Wuchergesetzgebung treten in scharfen Gegensatz zu dem ersten Bedürfniß der sich neuentwickelnden Gesellschaftsordnung, der freien Bewegung von Credit und Capital, die durch die beständig steigende Creditbenützung der Grundbesitzer den Grundbesitz auch wirthschaftlich allen andern Gebieten gleichstellt. Jetzt wird die Zinsgesetzgebung in ihrem Fundamente angegriffen; der volks- wirthschaftliche Widerspruch, der in ihr liegt, wird der Ausgangs- punkt des Kampfes; aber noch steht der völligen Freiheit der Capitals- bewegung die Furcht vor ihren Folgen, namentlich in den Fällen
Hand. In der erſten Zeit der Geſchlechterordnung nun, wo die großen Grundbeſitzer die Darleiher für die kleinen waren, wie in Rom und Deutſchland, ward jenes Recht zur Sicherung und Ausdehnung der Claſſenherrſchaft der beſitzenden über die mittlere und niedere Claſſe gebraucht; es ſtimmte mit ihrem Intereſſe, und daher die furchtbare Härte aller älteſten Schuldgeſetze. Als aber das Capital ſich neben dem Grundbeſitze ſelbſtändig hinſtellt, und auch die herrſchende Claſſe Dar- lehen gegen Zins empfängt, fühlt dieſelbe wiederum ſich in der Hand der Geldbeſitzer, und die rechtliche Auffaſſung kehrt ſich um. So ent- ſteht die Anſicht, daß gar kein Zins gegeben werden ſolle; als ſich nun das Capital weigert, Darlehen ohne Zins zu geben, entſtehen die geſetzlichen Zinsfüße einerſeits und andererſeits die Vorſtellung, daß jedes Darlehen gegen einen hohen Zins ein (geſellſchaftliches) Unrecht ſei (usuraria pravitas). Beide Elemente gewinnen nun die feſte Geſtalt der Zins- und Wucher geſetzgebung mit dem Auftreten der ſelbſtändigen Regierungsgewalt in den verſchiedenen Staaten Euro- pas, namentlich mit dem ſechzehnten und ſiebenzehnten Jahrhundert, weil eben die Regierungen allenthalben noch auf ſtändiſchen Grundlagen ruhen und von ihnen umgeben ſind. An dieſe Geſetzgebungen ſchließt ſich eine weitläuftige Wucherjurisprudenz, die bis auf die neueſte Zeit dauert. Unterdeſſen entwickeln ſich Handel und Gewerbe. In dem jungen Unternehmen wird die Möglichkeit des Verdienſtes mit dem ge- liehenen Capital ſo groß, die Zahlung ſo wichtig, und die Sicherheit der Darlehen oft ſo unbeſtimmbar, daß ein geſetzlicher Zinsfuß zu einer wirthſchaftlichen Unmöglichkeit wird. Somit beginnt der Kampf gegen den geſetzlichen Zinsfuß, der ſich aber noch auf das Gebiet der wirthſchaftlichen Unternehmungen beſchränkt, während derſelbe ſich im Realcredit noch unangegriffen erhält. Dieſe Epoche dauert bis zum Anfang unſeres Jahrhunderts. Jetzt aber iſt die ſtändiſche Geſellſchaft im Weſentlichen bewältigt, die öffentliche Stellung beruht nicht mehr auf dem Grundbeſitz, das ganze volkswirthſchaftliche Leben iſt bereits von der Nothwendigkeit des Credits durchdrungen, und der geſetzliche Zinsfuß, mehr noch aber die eigentliche Wuchergeſetzgebung treten in ſcharfen Gegenſatz zu dem erſten Bedürfniß der ſich neuentwickelnden Geſellſchaftsordnung, der freien Bewegung von Credit und Capital, die durch die beſtändig ſteigende Creditbenützung der Grundbeſitzer den Grundbeſitz auch wirthſchaftlich allen andern Gebieten gleichſtellt. Jetzt wird die Zinsgeſetzgebung in ihrem Fundamente angegriffen; der volks- wirthſchaftliche Widerſpruch, der in ihr liegt, wird der Ausgangs- punkt des Kampfes; aber noch ſteht der völligen Freiheit der Capitals- bewegung die Furcht vor ihren Folgen, namentlich in den Fällen
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Hand. In der erſten Zeit der Geſchlechterordnung nun, wo die großen
Grundbeſitzer die Darleiher für die kleinen waren, wie in Rom und
Deutſchland, ward jenes Recht zur Sicherung und Ausdehnung der
Claſſenherrſchaft der beſitzenden über die mittlere und niedere Claſſe
gebraucht; es ſtimmte mit ihrem Intereſſe, und daher die furchtbare
Härte aller älteſten Schuldgeſetze. Als aber das Capital ſich neben dem
Grundbeſitze ſelbſtändig hinſtellt, und auch die herrſchende Claſſe Dar-
lehen gegen Zins empfängt, fühlt dieſelbe wiederum ſich in der Hand
der Geldbeſitzer, und die rechtliche Auffaſſung kehrt ſich um. So ent-
ſteht die Anſicht, daß gar kein Zins gegeben werden ſolle; als ſich
nun das Capital weigert, Darlehen ohne Zins zu geben, entſtehen die
geſetzlichen Zinsfüße einerſeits und andererſeits die Vorſtellung,
daß jedes Darlehen gegen einen hohen Zins ein (geſellſchaftliches)
Unrecht ſei (usuraria pravitas). Beide Elemente gewinnen nun die
feſte Geſtalt der Zins- und Wucher geſetzgebung mit dem Auftreten
der ſelbſtändigen Regierungsgewalt in den verſchiedenen Staaten Euro-
pas, namentlich mit dem ſechzehnten und ſiebenzehnten Jahrhundert,
weil eben die Regierungen allenthalben noch auf ſtändiſchen Grundlagen
ruhen und von ihnen umgeben ſind. An dieſe Geſetzgebungen ſchließt
ſich eine weitläuftige Wucherjurisprudenz, die bis auf die neueſte
Zeit dauert. Unterdeſſen entwickeln ſich Handel und Gewerbe. In dem
jungen Unternehmen wird die Möglichkeit des Verdienſtes mit dem ge-
liehenen Capital ſo groß, die Zahlung ſo wichtig, und die Sicherheit
der Darlehen oft ſo unbeſtimmbar, daß ein geſetzlicher Zinsfuß zu
einer wirthſchaftlichen Unmöglichkeit wird. Somit beginnt der Kampf
gegen den geſetzlichen Zinsfuß, der ſich aber noch auf das Gebiet der
wirthſchaftlichen Unternehmungen beſchränkt, während derſelbe ſich im
Realcredit noch unangegriffen erhält. Dieſe Epoche dauert bis zum
Anfang unſeres Jahrhunderts. Jetzt aber iſt die ſtändiſche Geſellſchaft
im Weſentlichen bewältigt, die öffentliche Stellung beruht nicht mehr
auf dem Grundbeſitz, das ganze volkswirthſchaftliche Leben iſt bereits
von der Nothwendigkeit des Credits durchdrungen, und der geſetzliche
Zinsfuß, mehr noch aber die eigentliche Wuchergeſetzgebung treten in
ſcharfen Gegenſatz zu dem erſten Bedürfniß der ſich neuentwickelnden
Geſellſchaftsordnung, der freien Bewegung von Credit und Capital,
die durch die beſtändig ſteigende Creditbenützung der Grundbeſitzer den
Grundbeſitz auch wirthſchaftlich allen andern Gebieten gleichſtellt. Jetzt
wird die Zinsgeſetzgebung in ihrem Fundamente angegriffen; der volks-
wirthſchaftliche Widerſpruch, der in ihr liegt, wird der Ausgangs-
punkt des Kampfes; aber noch ſteht der völligen Freiheit der Capitals-
bewegung die Furcht vor ihren Folgen, namentlich in den Fällen
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Stein, Lorenz von: Handbuch der Verwaltungslehre und des Verwaltungsrechts: mit Vergleichung der Literatur und Gesetzgebung von Frankreich, England und Deutschland; als Grundlage für Vorlesungen. Stuttgart, 1870, S. 255. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_handbuch_1870/279>, abgerufen am 22.11.2024.
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