der Werth des Einzelnen nicht mehr zu durchbrechen vermag. So wie daher das Princip der staatsbürgerlichen Gesellschaft zur Geltung ge- langt, so entsteht ein Proceß, der den Adel bekämpft; und in diesem Proceß nimmt der Staat vermöge seiner Regierung eine hochwichtige Stellung ein. Derselbe hat zwei Epochen. In der ersten wird dem Adel das Vorrecht genommen; in der zweiten wird der Adel als solcher angegriffen. Die erste hat wieder zwei Hauptrichtungen. Einer- seits fordert die steigende Wichtigkeit der Regierungsaufgaben, daß die herrschenden Stellungen ohne Rücksicht auf das Geschlecht von den Fähigsten besetzt werden; das thun die Regierungen, seitdem sich mit dem siebzehnten Jahrhundert die Staatsidee von der Geschlechter- und Ständeherrschaft frei macht, und das Staatsoberhaupt sich demselben gegenüber einen durch eigene Tüchtigkeit dazu berufenen Amtsorga- nismus um sich bilden muß. Mit dem neunzehnten Jahrhundert tritt dieser Proceß in ein neues Stadium, den Kampf gegen das Adels- recht in den Verfassungen. Hier entwickelt sich eine Reihe von Er- scheinungen, welche der Verfassungsgeschichte angehören, und die wir als den Unterschied der ständischen von der staatsbürger- lichen Vertretung, und die Frage nach dem Oberhause bezeichnen. Es ist der Kampf der individuellen Berechtigung zur Vertretung des Volkes mit der auf Geburt und Besitz beruhenden; das daraus ent- stehende Recht ist das Verfassungsrecht, das hier nicht zu erörtern ist. Die zweite Richtung ist aber eine wesentlich andere. Sie enthält die Aufhebung aller persönlichen Vorrechte des Adels, und die volle Gleichstellung desselben mit den Nichtadelichen. In diesem Kampf hat die staatsbürgerliche Gesellschaft bereits in England, Frankreich und Oesterreich den vollen Sieg gewonnen; der Rest des besonderen "Adelsrechts" in den übrigen Staaten bildet in der That nur noch den Schein von besonderen Rechten, und auch dieser verschwindet mit jedem Tage mehr. Als Schlußpunkt dieser Epoche erscheint somit der Satz, daß der Adel nur noch eine Thatsache und kein Recht ist; aus dem ursprünglichen "Adel" sind jetzt "Geschlechter" geworden, und die Prädikate bedeuten nur noch "Geschlechter-Prädikate". Daraus folgt allerdings, daß diese Prädikate nicht willkürlich angenommen werden können, da eine Familie noch kein Geschlecht ist. Die weitere Folge ist die "Verleihung" derselben durch das Staatsoberhaupt, die als Beginn der Geschlechterordnung betrachtet werden muß, indem sie den Zufall der Geburt vertritt, und daher sich von selbst verliert, wenn die Familie nicht fähig ist, ein Geschlecht zu bilden. Es soll aber dem auf diese Weise zuerkannten Recht auf Führung des Prädi- kats kein Verbot zur Seite stehen; nur darf natürlich eine rechtliche
der Werth des Einzelnen nicht mehr zu durchbrechen vermag. So wie daher das Princip der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft zur Geltung ge- langt, ſo entſteht ein Proceß, der den Adel bekämpft; und in dieſem Proceß nimmt der Staat vermöge ſeiner Regierung eine hochwichtige Stellung ein. Derſelbe hat zwei Epochen. In der erſten wird dem Adel das Vorrecht genommen; in der zweiten wird der Adel als ſolcher angegriffen. Die erſte hat wieder zwei Hauptrichtungen. Einer- ſeits fordert die ſteigende Wichtigkeit der Regierungsaufgaben, daß die herrſchenden Stellungen ohne Rückſicht auf das Geſchlecht von den Fähigſten beſetzt werden; das thun die Regierungen, ſeitdem ſich mit dem ſiebzehnten Jahrhundert die Staatsidee von der Geſchlechter- und Ständeherrſchaft frei macht, und das Staatsoberhaupt ſich demſelben gegenüber einen durch eigene Tüchtigkeit dazu berufenen Amtsorga- nismus um ſich bilden muß. Mit dem neunzehnten Jahrhundert tritt dieſer Proceß in ein neues Stadium, den Kampf gegen das Adels- recht in den Verfaſſungen. Hier entwickelt ſich eine Reihe von Er- ſcheinungen, welche der Verfaſſungsgeſchichte angehören, und die wir als den Unterſchied der ſtändiſchen von der ſtaatsbürger- lichen Vertretung, und die Frage nach dem Oberhauſe bezeichnen. Es iſt der Kampf der individuellen Berechtigung zur Vertretung des Volkes mit der auf Geburt und Beſitz beruhenden; das daraus ent- ſtehende Recht iſt das Verfaſſungsrecht, das hier nicht zu erörtern iſt. Die zweite Richtung iſt aber eine weſentlich andere. Sie enthält die Aufhebung aller perſönlichen Vorrechte des Adels, und die volle Gleichſtellung deſſelben mit den Nichtadelichen. In dieſem Kampf hat die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft bereits in England, Frankreich und Oeſterreich den vollen Sieg gewonnen; der Reſt des beſonderen „Adelsrechts“ in den übrigen Staaten bildet in der That nur noch den Schein von beſonderen Rechten, und auch dieſer verſchwindet mit jedem Tage mehr. Als Schlußpunkt dieſer Epoche erſcheint ſomit der Satz, daß der Adel nur noch eine Thatſache und kein Recht iſt; aus dem urſprünglichen „Adel“ ſind jetzt „Geſchlechter“ geworden, und die Prädikate bedeuten nur noch „Geſchlechter-Prädikate“. Daraus folgt allerdings, daß dieſe Prädikate nicht willkürlich angenommen werden können, da eine Familie noch kein Geſchlecht iſt. Die weitere Folge iſt die „Verleihung“ derſelben durch das Staatsoberhaupt, die als Beginn der Geſchlechterordnung betrachtet werden muß, indem ſie den Zufall der Geburt vertritt, und daher ſich von ſelbſt verliert, wenn die Familie nicht fähig iſt, ein Geſchlecht zu bilden. Es ſoll aber dem auf dieſe Weiſe zuerkannten Recht auf Führung des Prädi- kats kein Verbot zur Seite ſtehen; nur darf natürlich eine rechtliche
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der Werth des Einzelnen nicht mehr zu durchbrechen vermag. So wie
daher das Princip der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft zur Geltung ge-
langt, ſo entſteht ein Proceß, der den Adel bekämpft; und in dieſem
Proceß nimmt der Staat vermöge ſeiner Regierung eine hochwichtige
Stellung ein. Derſelbe hat zwei Epochen. In der erſten wird dem
Adel das Vorrecht genommen; in der zweiten wird der Adel als
ſolcher angegriffen. Die erſte hat wieder zwei Hauptrichtungen. Einer-
ſeits fordert die ſteigende Wichtigkeit der Regierungsaufgaben, daß die
herrſchenden Stellungen ohne Rückſicht auf das Geſchlecht von den
Fähigſten beſetzt werden; das thun die Regierungen, ſeitdem ſich mit
dem ſiebzehnten Jahrhundert die Staatsidee von der Geſchlechter- und
Ständeherrſchaft frei macht, und das Staatsoberhaupt ſich demſelben
gegenüber einen durch eigene Tüchtigkeit dazu berufenen Amtsorga-
nismus um ſich bilden muß. Mit dem neunzehnten Jahrhundert
tritt dieſer Proceß in ein neues Stadium, den Kampf gegen das Adels-
recht in den Verfaſſungen. Hier entwickelt ſich eine Reihe von Er-
ſcheinungen, welche der Verfaſſungsgeſchichte angehören, und die
wir als den Unterſchied der ſtändiſchen von der ſtaatsbürger-
lichen Vertretung, und die Frage nach dem Oberhauſe bezeichnen.
Es iſt der Kampf der individuellen Berechtigung zur Vertretung des
Volkes mit der auf Geburt und Beſitz beruhenden; das daraus ent-
ſtehende Recht iſt das Verfaſſungsrecht, das hier nicht zu erörtern iſt.
Die zweite Richtung iſt aber eine weſentlich andere. Sie enthält die
Aufhebung aller perſönlichen Vorrechte des Adels, und die volle
Gleichſtellung deſſelben mit den Nichtadelichen. In dieſem Kampf
hat die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft bereits in England, Frankreich
und Oeſterreich den vollen Sieg gewonnen; der Reſt des beſonderen
„Adelsrechts“ in den übrigen Staaten bildet in der That nur noch
den Schein von beſonderen Rechten, und auch dieſer verſchwindet mit
jedem Tage mehr. Als Schlußpunkt dieſer Epoche erſcheint ſomit der
Satz, daß der Adel nur noch eine Thatſache und kein Recht iſt;
aus dem urſprünglichen „Adel“ ſind jetzt „Geſchlechter“ geworden, und
die Prädikate bedeuten nur noch „Geſchlechter-Prädikate“. Daraus
folgt allerdings, daß dieſe Prädikate nicht willkürlich angenommen
werden können, da eine Familie noch kein Geſchlecht iſt. Die weitere
Folge iſt die „Verleihung“ derſelben durch das Staatsoberhaupt, die
als Beginn der Geſchlechterordnung betrachtet werden muß, indem ſie
den Zufall der Geburt vertritt, und daher ſich von ſelbſt verliert,
wenn die Familie nicht fähig iſt, ein Geſchlecht zu bilden. Es ſoll
aber dem auf dieſe Weiſe zuerkannten Recht auf Führung des Prädi-
kats kein Verbot zur Seite ſtehen; nur darf natürlich eine rechtliche
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Stein, Lorenz von: Handbuch der Verwaltungslehre und des Verwaltungsrechts: mit Vergleichung der Literatur und Gesetzgebung von Frankreich, England und Deutschland; als Grundlage für Vorlesungen. Stuttgart, 1870, S. 407. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_handbuch_1870/431>, abgerufen am 22.11.2024.
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