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Stein, Lorenz von: Handbuch der Verwaltungslehre und des Verwaltungsrechts: mit Vergleichung der Literatur und Gesetzgebung von Frankreich, England und Deutschland; als Grundlage für Vorlesungen. Stuttgart, 1870.

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Zu dem Ende muß man in der Armuth ihren wirthschaftlichen
und ihren gesellschaftlichen Begriff scheiden.

Die Armuth als wirthschaftlicher Begriff enthält denjenigen
Zustand, in welchem der Mangel an den nothwendigen Existenzmitteln
für das Dasein und Leben der Persönlichkeit gefahrbringend wird.

Die Armuth als socialer Begriff bedeutet den Zustand des
Einzelnen, in welchem ihm alle Mittel fehlen, um, auch bei voller
Erwerbskraft, zu einer selbständigen gesellschaftlichen Stellung zu ge-
langen, und in die aufsteigende Classenbewegung einzutreten.

Aeußerlich decken sich daher die beiden Begriffe der wirthschaftlichen
und gesellschaftlichen Armuth beinahe ganz. Allein ihrem Wesen nach
sind sie tief verschieden. Denn bei der wirthschaftlichen Armuth liegt
der Grund derselben in dem Mangel der Persönlichkeit, bei der gesell-
schaftlichen Armuth in der Störung der Classenbewegung. Es ist kein
Zweifel, daß beide Zustände einen Widerspruch mit den höchsten For-
derungen des Gesammtlebens enthalten. Allein der wesentlich verschie-
dene Inhalt derselben erzeugt daher auch eine wesentlich verschiedene
Aufgabe für die Gesammtheit gegenüber beiden Zuständen. Und bei
der ersteren Gleichartigkeit beider gelangt jener wesentliche Unterschied
erst dann zur Erscheinung, wenn der Staat beginnt, seine Grundsätze
und Organe der Verwaltung auf sie anzuwenden. Erst dann wird es
klar, daß es falsch ist, beides zugleich als "Armenwesen" zu bezeichnen
und für beide von denselben Gesichtspunkten aus dasselbe zu fordern.
Mit der Scheidung der wirthschaftlichen von der gesellschaftlichen Ar-
muth erst kann die wissenschaftliche Bearbeitung und die praktische
rationelle Behandlung beginnen, indem sich Begriff und Inhalt der
gesellschaftlichen Armuth als das Gebiet der Verwaltung der gesell-
schaftlichen Entwicklung
von demjenigen loslöst, was wir die
wirthschaftliche Armuth nennen.

Diese rein wirthschaftliche Armuth nun oder der für die Erhaltung
der Persönlichkeit selbst gefahrbringende Mangel an Unterhaltsmitteln
ist nun in erster Reihe im Widerspruch mit der Persönlichkeit selbst.
Daher muß das, was der Einzelne seinem Wesen nach für sich thut,
um nicht dem Mangel zu erliegen, von Seite Aller für den geschehen,
der dem Mangel zu unterliegen droht. Und die Organisirung dieser
Hülfe gegen Mangel als regelmäßige Aufgabe der Verwaltung ist das
Armenwesen.

Das Armenwesen hat daher zu seinem Inhalt nicht die Herstellung
der Bedingungen für die aufsteigende Classenbewegung der niedersten
Classe, sondern nur die Hingabe der Mittel, um den Einzelnen gegen
Mangel zu schützen. Sein allgemeinstes Princip ist daher, dem Ein-

Zu dem Ende muß man in der Armuth ihren wirthſchaftlichen
und ihren geſellſchaftlichen Begriff ſcheiden.

Die Armuth als wirthſchaftlicher Begriff enthält denjenigen
Zuſtand, in welchem der Mangel an den nothwendigen Exiſtenzmitteln
für das Daſein und Leben der Perſönlichkeit gefahrbringend wird.

Die Armuth als ſocialer Begriff bedeutet den Zuſtand des
Einzelnen, in welchem ihm alle Mittel fehlen, um, auch bei voller
Erwerbskraft, zu einer ſelbſtändigen geſellſchaftlichen Stellung zu ge-
langen, und in die aufſteigende Claſſenbewegung einzutreten.

Aeußerlich decken ſich daher die beiden Begriffe der wirthſchaftlichen
und geſellſchaftlichen Armuth beinahe ganz. Allein ihrem Weſen nach
ſind ſie tief verſchieden. Denn bei der wirthſchaftlichen Armuth liegt
der Grund derſelben in dem Mangel der Perſönlichkeit, bei der geſell-
ſchaftlichen Armuth in der Störung der Claſſenbewegung. Es iſt kein
Zweifel, daß beide Zuſtände einen Widerſpruch mit den höchſten For-
derungen des Geſammtlebens enthalten. Allein der weſentlich verſchie-
dene Inhalt derſelben erzeugt daher auch eine weſentlich verſchiedene
Aufgabe für die Geſammtheit gegenüber beiden Zuſtänden. Und bei
der erſteren Gleichartigkeit beider gelangt jener weſentliche Unterſchied
erſt dann zur Erſcheinung, wenn der Staat beginnt, ſeine Grundſätze
und Organe der Verwaltung auf ſie anzuwenden. Erſt dann wird es
klar, daß es falſch iſt, beides zugleich als „Armenweſen“ zu bezeichnen
und für beide von denſelben Geſichtspunkten aus daſſelbe zu fordern.
Mit der Scheidung der wirthſchaftlichen von der geſellſchaftlichen Ar-
muth erſt kann die wiſſenſchaftliche Bearbeitung und die praktiſche
rationelle Behandlung beginnen, indem ſich Begriff und Inhalt der
geſellſchaftlichen Armuth als das Gebiet der Verwaltung der geſell-
ſchaftlichen Entwicklung
von demjenigen loslöst, was wir die
wirthſchaftliche Armuth nennen.

Dieſe rein wirthſchaftliche Armuth nun oder der für die Erhaltung
der Perſönlichkeit ſelbſt gefahrbringende Mangel an Unterhaltsmitteln
iſt nun in erſter Reihe im Widerſpruch mit der Perſönlichkeit ſelbſt.
Daher muß das, was der Einzelne ſeinem Weſen nach für ſich thut,
um nicht dem Mangel zu erliegen, von Seite Aller für den geſchehen,
der dem Mangel zu unterliegen droht. Und die Organiſirung dieſer
Hülfe gegen Mangel als regelmäßige Aufgabe der Verwaltung iſt das
Armenweſen.

Das Armenweſen hat daher zu ſeinem Inhalt nicht die Herſtellung
der Bedingungen für die aufſteigende Claſſenbewegung der niederſten
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Mangel zu ſchützen. Sein allgemeinſtes Princip iſt daher, dem Ein-

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[420/0444] Zu dem Ende muß man in der Armuth ihren wirthſchaftlichen und ihren geſellſchaftlichen Begriff ſcheiden. Die Armuth als wirthſchaftlicher Begriff enthält denjenigen Zuſtand, in welchem der Mangel an den nothwendigen Exiſtenzmitteln für das Daſein und Leben der Perſönlichkeit gefahrbringend wird. Die Armuth als ſocialer Begriff bedeutet den Zuſtand des Einzelnen, in welchem ihm alle Mittel fehlen, um, auch bei voller Erwerbskraft, zu einer ſelbſtändigen geſellſchaftlichen Stellung zu ge- langen, und in die aufſteigende Claſſenbewegung einzutreten. Aeußerlich decken ſich daher die beiden Begriffe der wirthſchaftlichen und geſellſchaftlichen Armuth beinahe ganz. Allein ihrem Weſen nach ſind ſie tief verſchieden. Denn bei der wirthſchaftlichen Armuth liegt der Grund derſelben in dem Mangel der Perſönlichkeit, bei der geſell- ſchaftlichen Armuth in der Störung der Claſſenbewegung. Es iſt kein Zweifel, daß beide Zuſtände einen Widerſpruch mit den höchſten For- derungen des Geſammtlebens enthalten. Allein der weſentlich verſchie- dene Inhalt derſelben erzeugt daher auch eine weſentlich verſchiedene Aufgabe für die Geſammtheit gegenüber beiden Zuſtänden. Und bei der erſteren Gleichartigkeit beider gelangt jener weſentliche Unterſchied erſt dann zur Erſcheinung, wenn der Staat beginnt, ſeine Grundſätze und Organe der Verwaltung auf ſie anzuwenden. Erſt dann wird es klar, daß es falſch iſt, beides zugleich als „Armenweſen“ zu bezeichnen und für beide von denſelben Geſichtspunkten aus daſſelbe zu fordern. Mit der Scheidung der wirthſchaftlichen von der geſellſchaftlichen Ar- muth erſt kann die wiſſenſchaftliche Bearbeitung und die praktiſche rationelle Behandlung beginnen, indem ſich Begriff und Inhalt der geſellſchaftlichen Armuth als das Gebiet der Verwaltung der geſell- ſchaftlichen Entwicklung von demjenigen loslöst, was wir die wirthſchaftliche Armuth nennen. Dieſe rein wirthſchaftliche Armuth nun oder der für die Erhaltung der Perſönlichkeit ſelbſt gefahrbringende Mangel an Unterhaltsmitteln iſt nun in erſter Reihe im Widerſpruch mit der Perſönlichkeit ſelbſt. Daher muß das, was der Einzelne ſeinem Weſen nach für ſich thut, um nicht dem Mangel zu erliegen, von Seite Aller für den geſchehen, der dem Mangel zu unterliegen droht. Und die Organiſirung dieſer Hülfe gegen Mangel als regelmäßige Aufgabe der Verwaltung iſt das Armenweſen. Das Armenweſen hat daher zu ſeinem Inhalt nicht die Herſtellung der Bedingungen für die aufſteigende Claſſenbewegung der niederſten Claſſe, ſondern nur die Hingabe der Mittel, um den Einzelnen gegen Mangel zu ſchützen. Sein allgemeinſtes Princip iſt daher, dem Ein-

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Handbuch der Verwaltungslehre und des Verwaltungsrechts: mit Vergleichung der Literatur und Gesetzgebung von Frankreich, England und Deutschland; als Grundlage für Vorlesungen. Stuttgart, 1870, S. 420. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_handbuch_1870/444>, abgerufen am 25.11.2024.