Amtswesen ist das Amt wieder kein ethischer, sondern nur ein organischer Faktor, und der Mangel des Staatsdienerrechts zeigt uns auf dem entscheidenden Punkte die Herrschaft des Ganzen oder des Einzelnen, der Einheit oder des Besondern. Es ist der Sieg der persönlichen Staatsidee auf Grundlage des Princips der gesellschaftlichen Gleichheit; eine gewaltige Macht, aber auch eine gewaltige Gefahr, wie jede große Einseitigkeit.
Dennoch haben wir unendlich viel gelernt und zu lernen von Frank- reich; unser Fehler bestand nur darin, daß wir zu viel von ihm an- nahmen. Freilich forderten das die Dinge bisher; jetzt scheint sich die Gestalt und der Gang derselben zu ändern.
Betrachten wir nun Deutschland, so ist es nicht zu verkennen, daß es in der That beide Gestaltungen zu vereinen trachtet. Es hat nicht bloß eine Regierung, es erkennt sie auch als solche an; d. i. es will, daß sie selbstthätig wirke und neben der Gesetzgebung eine selbständige Stellung sich erhalte. Es hat aber auch eine Selbstverwaltung und jetzt sogar ein Vereinswesen, und nicht als ein dem Leben der Ge- meinschaft fremdes, sondern als einen organischen Theil derselben. Es hat die Selbstverwaltung in seine Verfassungen aufge- nommen; das ist das Bezeichnende für die Individualität Deutsch- lands im Allgemeinen. Aber, und das ist wieder charakteristisch, sein unmittelbares Gefühl und selbst seine Gesetzgebungen sind viel weiter als seine Wissenschaft. Es ist das natürlich, wenn man will; aber es ist schwer dadurch zum rechten Verständniß zu gelangen. Dazu kommt, daß die beiden großen Faktoren, die einheitliche Regierung oder das Element des persönlichen Staats, und die freie Verwaltung gerade so wie die Gesetzgebung, das ist also die ganze Staatenbildung, in so eigenthümlicher Weise vertheilt sind. Das ganze Deutschland hat zwar ein Streben zur Einheit, das aber nicht so mächtig ist, als das Streben seiner Theile nach Selbständigkeit, so daß es im Ganzen die völligste Auflösung der einheitlichen Staatsidee in die Selbstver- waltung der einzelnen Staaten zeigt, während in dem letzteren gerade das Umgekehrte erscheint, die Herrschaft der örtlichen Staatsgewalt über die Formen und Rechte der freien Verwaltung, jedoch ohne zum eigentlichen Siege zu gelangen. Daher ist dieß Deutschland so schwer zu verstehen; freilich, da es der Sitz des höheren Verständnisses über- haupt ist, wäre die ganze Welt leicht verständlich, wenn Deutschland es wäre.
Unsere Aufgabe ist es nun, diese Individualität in den Formationen und der Stellung der einzelnen Organe, die dem Begriff des Staats inwohnen und daher auch die Grundlage aller Individualität bilden,
Amtsweſen iſt das Amt wieder kein ethiſcher, ſondern nur ein organiſcher Faktor, und der Mangel des Staatsdienerrechts zeigt uns auf dem entſcheidenden Punkte die Herrſchaft des Ganzen oder des Einzelnen, der Einheit oder des Beſondern. Es iſt der Sieg der perſönlichen Staatsidee auf Grundlage des Princips der geſellſchaftlichen Gleichheit; eine gewaltige Macht, aber auch eine gewaltige Gefahr, wie jede große Einſeitigkeit.
Dennoch haben wir unendlich viel gelernt und zu lernen von Frank- reich; unſer Fehler beſtand nur darin, daß wir zu viel von ihm an- nahmen. Freilich forderten das die Dinge bisher; jetzt ſcheint ſich die Geſtalt und der Gang derſelben zu ändern.
Betrachten wir nun Deutſchland, ſo iſt es nicht zu verkennen, daß es in der That beide Geſtaltungen zu vereinen trachtet. Es hat nicht bloß eine Regierung, es erkennt ſie auch als ſolche an; d. i. es will, daß ſie ſelbſtthätig wirke und neben der Geſetzgebung eine ſelbſtändige Stellung ſich erhalte. Es hat aber auch eine Selbſtverwaltung und jetzt ſogar ein Vereinsweſen, und nicht als ein dem Leben der Ge- meinſchaft fremdes, ſondern als einen organiſchen Theil derſelben. Es hat die Selbſtverwaltung in ſeine Verfaſſungen aufge- nommen; das iſt das Bezeichnende für die Individualität Deutſch- lands im Allgemeinen. Aber, und das iſt wieder charakteriſtiſch, ſein unmittelbares Gefühl und ſelbſt ſeine Geſetzgebungen ſind viel weiter als ſeine Wiſſenſchaft. Es iſt das natürlich, wenn man will; aber es iſt ſchwer dadurch zum rechten Verſtändniß zu gelangen. Dazu kommt, daß die beiden großen Faktoren, die einheitliche Regierung oder das Element des perſönlichen Staats, und die freie Verwaltung gerade ſo wie die Geſetzgebung, das iſt alſo die ganze Staatenbildung, in ſo eigenthümlicher Weiſe vertheilt ſind. Das ganze Deutſchland hat zwar ein Streben zur Einheit, das aber nicht ſo mächtig iſt, als das Streben ſeiner Theile nach Selbſtändigkeit, ſo daß es im Ganzen die völligſte Auflöſung der einheitlichen Staatsidee in die Selbſtver- waltung der einzelnen Staaten zeigt, während in dem letzteren gerade das Umgekehrte erſcheint, die Herrſchaft der örtlichen Staatsgewalt über die Formen und Rechte der freien Verwaltung, jedoch ohne zum eigentlichen Siege zu gelangen. Daher iſt dieß Deutſchland ſo ſchwer zu verſtehen; freilich, da es der Sitz des höheren Verſtändniſſes über- haupt iſt, wäre die ganze Welt leicht verſtändlich, wenn Deutſchland es wäre.
Unſere Aufgabe iſt es nun, dieſe Individualität in den Formationen und der Stellung der einzelnen Organe, die dem Begriff des Staats inwohnen und daher auch die Grundlage aller Individualität bilden,
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Amtsweſen iſt das Amt wieder kein ethiſcher, ſondern nur ein organiſcher
Faktor, und der Mangel des Staatsdienerrechts zeigt uns auf dem
entſcheidenden Punkte die Herrſchaft des Ganzen oder des Einzelnen,
der Einheit oder des Beſondern. Es iſt der Sieg der perſönlichen
Staatsidee auf Grundlage des Princips der geſellſchaftlichen Gleichheit;
eine gewaltige Macht, aber auch eine gewaltige Gefahr, wie jede große
Einſeitigkeit.
Dennoch haben wir unendlich viel gelernt und zu lernen von Frank-
reich; unſer Fehler beſtand nur darin, daß wir zu viel von ihm an-
nahmen. Freilich forderten das die Dinge bisher; jetzt ſcheint ſich die
Geſtalt und der Gang derſelben zu ändern.
Betrachten wir nun Deutſchland, ſo iſt es nicht zu verkennen,
daß es in der That beide Geſtaltungen zu vereinen trachtet. Es hat nicht
bloß eine Regierung, es erkennt ſie auch als ſolche an; d. i. es will,
daß ſie ſelbſtthätig wirke und neben der Geſetzgebung eine ſelbſtändige
Stellung ſich erhalte. Es hat aber auch eine Selbſtverwaltung und
jetzt ſogar ein Vereinsweſen, und nicht als ein dem Leben der Ge-
meinſchaft fremdes, ſondern als einen organiſchen Theil derſelben. Es
hat die Selbſtverwaltung in ſeine Verfaſſungen aufge-
nommen; das iſt das Bezeichnende für die Individualität Deutſch-
lands im Allgemeinen. Aber, und das iſt wieder charakteriſtiſch, ſein
unmittelbares Gefühl und ſelbſt ſeine Geſetzgebungen ſind viel weiter
als ſeine Wiſſenſchaft. Es iſt das natürlich, wenn man will; aber es
iſt ſchwer dadurch zum rechten Verſtändniß zu gelangen. Dazu kommt,
daß die beiden großen Faktoren, die einheitliche Regierung oder das
Element des perſönlichen Staats, und die freie Verwaltung gerade
ſo wie die Geſetzgebung, das iſt alſo die ganze Staatenbildung, in
ſo eigenthümlicher Weiſe vertheilt ſind. Das ganze Deutſchland hat
zwar ein Streben zur Einheit, das aber nicht ſo mächtig iſt, als das
Streben ſeiner Theile nach Selbſtändigkeit, ſo daß es im Ganzen
die völligſte Auflöſung der einheitlichen Staatsidee in die Selbſtver-
waltung der einzelnen Staaten zeigt, während in dem letzteren gerade
das Umgekehrte erſcheint, die Herrſchaft der örtlichen Staatsgewalt
über die Formen und Rechte der freien Verwaltung, jedoch ohne zum
eigentlichen Siege zu gelangen. Daher iſt dieß Deutſchland ſo ſchwer
zu verſtehen; freilich, da es der Sitz des höheren Verſtändniſſes über-
haupt iſt, wäre die ganze Welt leicht verſtändlich, wenn Deutſchland
es wäre.
Unſere Aufgabe iſt es nun, dieſe Individualität in den Formationen
und der Stellung der einzelnen Organe, die dem Begriff des Staats
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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865, S. 256. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre01_1865/280>, abgerufen am 22.11.2024.
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