Verwaltung in den örtlich und sachlich verschiedensten Verhältnissen herzustellen. Wir müssen daher sagen, daß Ministerial- und Behörden- system die nothwendigen Grundformen für die verfassungsmäßige Re- gierung sind; denn nur sie entsprechen den Forderungen derselben. Aber freilich konnte sich dabei keine Gleichförmigkeit des Organismus in allen Ländern herstellen. War die Verfassungsmäßigkeit eine verschiedene, so ward es natürlich auch der Organismus. Der innere causale Zu- sammenhang zwischen beiden hat nun wieder die Individualität der ersteren in den Grundzügen des letzteren bedingt, und so sehen wir bei wesentlicher Gleichartigkeit dennoch tiefgehende Verschiedenheiten, die am letztern Orte doch erst in der gemeinen Betrachtung der beiden einzelnen Organe auftreten.
Es muß uns verstattet sein, ehe wir weiter gehen, den Charakter des Regie- rungsorganismus der drei großen Kulturstaaten hier zu bezeichnen. Es gehört nicht bloß zum Verständniß derselben, und man muß gestehen, daß man ohne diesen Knochenbau der ganzen Verwaltung im Grunde gar kein klares Bild von dem inneren Leben dieser Staaten hat, sondern es fehlt auch unseres Wissens bisher jeder Versuch, eine Vergleichung aufzustellen. In der That ist sie aller- dings unmöglich, ohne daß man den Organismus in seinem inneren Zusammen- hange mit den wirkenden Kräften des Staatslebens auffaßt. Wir haben aus- gezeichnete Arbeiten für einzelne Länder, aber das Verhältniß derselben zu ein- ander und die Möglichkeit, ihren Charakter einfach zu formuliren, fehlt uns.
England. Der streng durchgeführte Unterschied des ständischen Lebens einerseits und die mächtige Thätigkeit der Selbstverwaltung andererseits haben, wie schon öfter bemerkt, weder den völligen Sieg der staatsbürgerlichen Gesell- schaft, noch die allgemeine Macht der Regierung entstehen lassen. England hat daher weder ein eigentliches Ministerial- und Behördensystem, noch kann es ein solches haben; beide sind auf englischem Boden undenkbar. Die englischen Minister sind in der That Minister der Hoheitsrechte; zum Theil sind sie noch im Stadium des Collegialsystems (s. unten). Eben so wenig hat Eng- land Behörden im eigentlichen Sinne, sondern nur Obrigkeiten. Es ist daher auch in England der Organismus niemals Gegenstand einer selbständigen Gesetzgebung geworden, sondern nur stückweise entstanden, und die Organe sind nur aus dem Bedürfniß, nicht aus dem Princip hervorgegangen. Dem ent- spricht die Thatsache, daß England auch keine Verwaltungseintheilung, sondern nur eine Gerichtseintheilung hat, da die Funktion des Staates nur in der Vollziehung gerichtlicher Urtheile besteht, während die innere Verwaltung der Selbstverwaltung angehört. Der ganze englische Organismus ist der Ausdruck des Satzes, daß in England statt des Staates die gesellschaftliche Klasse herrscht. Dennoch sind die Elemente des Ministerialsystems, sowie der Behörden da, wenn auch höchst unklar entwickelt (s. unten), und es läßt sich nicht läugnen, daß sich allmählig der Regierungsorganismus mit Selbstthätigkeit aus dem bis- herigen Zustande zu entwickeln im Begriffe ist. Aber so lange die "Amtsgentry"
Verwaltung in den örtlich und ſachlich verſchiedenſten Verhältniſſen herzuſtellen. Wir müſſen daher ſagen, daß Miniſterial- und Behörden- ſyſtem die nothwendigen Grundformen für die verfaſſungsmäßige Re- gierung ſind; denn nur ſie entſprechen den Forderungen derſelben. Aber freilich konnte ſich dabei keine Gleichförmigkeit des Organismus in allen Ländern herſtellen. War die Verfaſſungsmäßigkeit eine verſchiedene, ſo ward es natürlich auch der Organismus. Der innere cauſale Zu- ſammenhang zwiſchen beiden hat nun wieder die Individualität der erſteren in den Grundzügen des letzteren bedingt, und ſo ſehen wir bei weſentlicher Gleichartigkeit dennoch tiefgehende Verſchiedenheiten, die am letztern Orte doch erſt in der gemeinen Betrachtung der beiden einzelnen Organe auftreten.
Es muß uns verſtattet ſein, ehe wir weiter gehen, den Charakter des Regie- rungsorganismus der drei großen Kulturſtaaten hier zu bezeichnen. Es gehört nicht bloß zum Verſtändniß derſelben, und man muß geſtehen, daß man ohne dieſen Knochenbau der ganzen Verwaltung im Grunde gar kein klares Bild von dem inneren Leben dieſer Staaten hat, ſondern es fehlt auch unſeres Wiſſens bisher jeder Verſuch, eine Vergleichung aufzuſtellen. In der That iſt ſie aller- dings unmöglich, ohne daß man den Organismus in ſeinem inneren Zuſammen- hange mit den wirkenden Kräften des Staatslebens auffaßt. Wir haben aus- gezeichnete Arbeiten für einzelne Länder, aber das Verhältniß derſelben zu ein- ander und die Möglichkeit, ihren Charakter einfach zu formuliren, fehlt uns.
England. Der ſtreng durchgeführte Unterſchied des ſtändiſchen Lebens einerſeits und die mächtige Thätigkeit der Selbſtverwaltung andererſeits haben, wie ſchon öfter bemerkt, weder den völligen Sieg der ſtaatsbürgerlichen Geſell- ſchaft, noch die allgemeine Macht der Regierung entſtehen laſſen. England hat daher weder ein eigentliches Miniſterial- und Behördenſyſtem, noch kann es ein ſolches haben; beide ſind auf engliſchem Boden undenkbar. Die engliſchen Miniſter ſind in der That Miniſter der Hoheitsrechte; zum Theil ſind ſie noch im Stadium des Collegialſyſtems (ſ. unten). Eben ſo wenig hat Eng- land Behörden im eigentlichen Sinne, ſondern nur Obrigkeiten. Es iſt daher auch in England der Organismus niemals Gegenſtand einer ſelbſtändigen Geſetzgebung geworden, ſondern nur ſtückweiſe entſtanden, und die Organe ſind nur aus dem Bedürfniß, nicht aus dem Princip hervorgegangen. Dem ent- ſpricht die Thatſache, daß England auch keine Verwaltungseintheilung, ſondern nur eine Gerichtseintheilung hat, da die Funktion des Staates nur in der Vollziehung gerichtlicher Urtheile beſteht, während die innere Verwaltung der Selbſtverwaltung angehört. Der ganze engliſche Organismus iſt der Ausdruck des Satzes, daß in England ſtatt des Staates die geſellſchaftliche Klaſſe herrſcht. Dennoch ſind die Elemente des Miniſterialſyſtems, ſowie der Behörden da, wenn auch höchſt unklar entwickelt (ſ. unten), und es läßt ſich nicht läugnen, daß ſich allmählig der Regierungsorganismus mit Selbſtthätigkeit aus dem bis- herigen Zuſtande zu entwickeln im Begriffe iſt. Aber ſo lange die „Amtsgentry“
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0325"n="301"/>
Verwaltung in den örtlich und ſachlich verſchiedenſten Verhältniſſen<lb/>
herzuſtellen. Wir müſſen daher ſagen, daß Miniſterial- und Behörden-<lb/>ſyſtem die nothwendigen Grundformen für die verfaſſungsmäßige Re-<lb/>
gierung ſind; denn nur ſie entſprechen den Forderungen derſelben. Aber<lb/>
freilich konnte ſich dabei keine Gleichförmigkeit des Organismus in allen<lb/>
Ländern herſtellen. War die Verfaſſungsmäßigkeit eine verſchiedene, ſo<lb/>
ward es natürlich auch der Organismus. Der innere cauſale Zu-<lb/>ſammenhang zwiſchen beiden hat nun wieder die Individualität der<lb/>
erſteren in den Grundzügen des letzteren bedingt, und ſo ſehen wir bei<lb/>
weſentlicher Gleichartigkeit dennoch tiefgehende Verſchiedenheiten, die am<lb/>
letztern Orte doch erſt in der gemeinen Betrachtung der beiden einzelnen<lb/>
Organe auftreten.</p><lb/><p>Es muß uns verſtattet ſein, ehe wir weiter gehen, den Charakter des Regie-<lb/>
rungsorganismus der drei großen Kulturſtaaten hier zu bezeichnen. Es gehört<lb/>
nicht bloß zum Verſtändniß derſelben, und man muß geſtehen, daß man ohne<lb/>
dieſen Knochenbau der ganzen Verwaltung im Grunde gar kein klares Bild von<lb/>
dem inneren Leben dieſer Staaten hat, ſondern es fehlt auch unſeres Wiſſens<lb/>
bisher jeder Verſuch, eine Vergleichung aufzuſtellen. In der That iſt ſie aller-<lb/>
dings unmöglich, ohne daß man den Organismus in ſeinem inneren Zuſammen-<lb/>
hange mit den wirkenden Kräften des Staatslebens auffaßt. Wir haben aus-<lb/>
gezeichnete Arbeiten für einzelne Länder, aber das Verhältniß derſelben zu ein-<lb/>
ander und die Möglichkeit, ihren Charakter einfach zu formuliren, fehlt uns.</p><lb/><p><hirendition="#g">England</hi>. Der ſtreng durchgeführte Unterſchied des ſtändiſchen Lebens<lb/>
einerſeits und die mächtige Thätigkeit der Selbſtverwaltung andererſeits haben,<lb/>
wie ſchon öfter bemerkt, weder den völligen Sieg der ſtaatsbürgerlichen Geſell-<lb/>ſchaft, noch die allgemeine Macht der Regierung entſtehen laſſen. England <hirendition="#g">hat</hi><lb/>
daher weder ein eigentliches Miniſterial- und Behördenſyſtem, noch <hirendition="#g">kann</hi> es<lb/>
ein ſolches haben; beide ſind auf engliſchem Boden undenkbar. Die engliſchen<lb/>
Miniſter ſind in der That <hirendition="#g">Miniſter der Hoheitsrechte</hi>; zum Theil ſind<lb/>ſie noch im Stadium des Collegialſyſtems (ſ. unten). Eben ſo wenig hat Eng-<lb/>
land Behörden im eigentlichen Sinne, ſondern nur Obrigkeiten. Es iſt daher<lb/>
auch in England der Organismus niemals Gegenſtand einer ſelbſtändigen<lb/>
Geſetzgebung geworden, ſondern nur ſtückweiſe entſtanden, und die Organe ſind<lb/>
nur aus dem Bedürfniß, nicht aus dem Princip hervorgegangen. Dem ent-<lb/>ſpricht die Thatſache, daß England auch keine Verwaltungseintheilung, ſondern<lb/>
nur eine Gerichtseintheilung hat, da die Funktion des Staates nur in der<lb/>
Vollziehung gerichtlicher Urtheile beſteht, während die innere Verwaltung der<lb/>
Selbſtverwaltung angehört. Der ganze engliſche Organismus iſt der Ausdruck<lb/>
des Satzes, daß in England ſtatt des Staates die geſellſchaftliche Klaſſe herrſcht.<lb/>
Dennoch ſind die Elemente des Miniſterialſyſtems, ſowie der Behörden da,<lb/>
wenn auch höchſt unklar entwickelt (ſ. unten), und es läßt ſich nicht läugnen,<lb/>
daß ſich allmählig der Regierungsorganismus mit Selbſtthätigkeit aus dem bis-<lb/>
herigen Zuſtande zu entwickeln im Begriffe iſt. Aber ſo lange die „Amtsgentry“<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[301/0325]
Verwaltung in den örtlich und ſachlich verſchiedenſten Verhältniſſen
herzuſtellen. Wir müſſen daher ſagen, daß Miniſterial- und Behörden-
ſyſtem die nothwendigen Grundformen für die verfaſſungsmäßige Re-
gierung ſind; denn nur ſie entſprechen den Forderungen derſelben. Aber
freilich konnte ſich dabei keine Gleichförmigkeit des Organismus in allen
Ländern herſtellen. War die Verfaſſungsmäßigkeit eine verſchiedene, ſo
ward es natürlich auch der Organismus. Der innere cauſale Zu-
ſammenhang zwiſchen beiden hat nun wieder die Individualität der
erſteren in den Grundzügen des letzteren bedingt, und ſo ſehen wir bei
weſentlicher Gleichartigkeit dennoch tiefgehende Verſchiedenheiten, die am
letztern Orte doch erſt in der gemeinen Betrachtung der beiden einzelnen
Organe auftreten.
Es muß uns verſtattet ſein, ehe wir weiter gehen, den Charakter des Regie-
rungsorganismus der drei großen Kulturſtaaten hier zu bezeichnen. Es gehört
nicht bloß zum Verſtändniß derſelben, und man muß geſtehen, daß man ohne
dieſen Knochenbau der ganzen Verwaltung im Grunde gar kein klares Bild von
dem inneren Leben dieſer Staaten hat, ſondern es fehlt auch unſeres Wiſſens
bisher jeder Verſuch, eine Vergleichung aufzuſtellen. In der That iſt ſie aller-
dings unmöglich, ohne daß man den Organismus in ſeinem inneren Zuſammen-
hange mit den wirkenden Kräften des Staatslebens auffaßt. Wir haben aus-
gezeichnete Arbeiten für einzelne Länder, aber das Verhältniß derſelben zu ein-
ander und die Möglichkeit, ihren Charakter einfach zu formuliren, fehlt uns.
England. Der ſtreng durchgeführte Unterſchied des ſtändiſchen Lebens
einerſeits und die mächtige Thätigkeit der Selbſtverwaltung andererſeits haben,
wie ſchon öfter bemerkt, weder den völligen Sieg der ſtaatsbürgerlichen Geſell-
ſchaft, noch die allgemeine Macht der Regierung entſtehen laſſen. England hat
daher weder ein eigentliches Miniſterial- und Behördenſyſtem, noch kann es
ein ſolches haben; beide ſind auf engliſchem Boden undenkbar. Die engliſchen
Miniſter ſind in der That Miniſter der Hoheitsrechte; zum Theil ſind
ſie noch im Stadium des Collegialſyſtems (ſ. unten). Eben ſo wenig hat Eng-
land Behörden im eigentlichen Sinne, ſondern nur Obrigkeiten. Es iſt daher
auch in England der Organismus niemals Gegenſtand einer ſelbſtändigen
Geſetzgebung geworden, ſondern nur ſtückweiſe entſtanden, und die Organe ſind
nur aus dem Bedürfniß, nicht aus dem Princip hervorgegangen. Dem ent-
ſpricht die Thatſache, daß England auch keine Verwaltungseintheilung, ſondern
nur eine Gerichtseintheilung hat, da die Funktion des Staates nur in der
Vollziehung gerichtlicher Urtheile beſteht, während die innere Verwaltung der
Selbſtverwaltung angehört. Der ganze engliſche Organismus iſt der Ausdruck
des Satzes, daß in England ſtatt des Staates die geſellſchaftliche Klaſſe herrſcht.
Dennoch ſind die Elemente des Miniſterialſyſtems, ſowie der Behörden da,
wenn auch höchſt unklar entwickelt (ſ. unten), und es läßt ſich nicht läugnen,
daß ſich allmählig der Regierungsorganismus mit Selbſtthätigkeit aus dem bis-
herigen Zuſtande zu entwickeln im Begriffe iſt. Aber ſo lange die „Amtsgentry“
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865, S. 301. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre01_1865/325>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.