wesentlichsten Gegenstand der concreten Thätigkeit des Staats, und die Gesammtheit derjenigen Thätigkeiten, welche in dieser Weise auf die wirthschaftliche Existenz des Staates verwendet werden, nennen wir die Finanzverwaltung. Die Entwicklung und Darstellung der Begriffe und Regeln, nach welchen diese Finanzverwaltung zu Werke zu gehen hat, ist die Finanzwissenschaft.
Zugleich aber besteht der Staat aus einzelnen selbständigen Indi- viduen. Die erste äußerliche Bedingung des Lebens dieser selbständigen Individuen in ihrem Zusammenleben ist ohne Zweifel die Unverletzlich- keit des Einen durch die Handlungen des Andern. Diese Unverletzlich- keit der einen Lebenssphäre durch die -- gleichviel ob willkürliche oder unwillkürliche -- Bewegung der anderen nennen wir das Recht. Die Erhaltung des Rechts kann aber nicht durch den Einzelnen geleistet werden, weil dasselbe eben nicht von seiner individuellen Willkür ab- hängen kann. Die Gewißheit für die Geltung meines Rechts kann nicht in demjenigen gesucht werden, der nach meiner Ansicht eben dies Recht verletzt hat. Es muß daher durch eine Thätigkeit hergestellt werden, welche, indem sie alle Rechtsindividuen umfaßt, allein das für alle gültige Recht setzen und vollziehen kann. Diese Thätigkeit vermag nun nur der Staat als die allgemeine Persönlichkeit zu leisten. Sie fordert, da ihre Aufgabe das gesammte Leben aller Einzelnen umfaßt, einen Organismus, der gleichfalls sich über das ganze Leben des Staats er- streckt; sie ist daher, ebenso wie die wirthschaftliche Welt des Staats, ein selbständiger Theil der Verwaltung des Staats; und diesen Theil der Verwaltung des Staats nennen wir kurz die Rechtspflege.
Während auf diese Weise die Verwaltung der Staatswirthschaft es mit den wirthschaftlichen Bedingungen des Staats, die Verwaltung des Rechts aber mit der Selbständigkeit der einzelnen Staatsbürger zu thun hat, bleibt ein drittes großes Gebiet der Thätigkeit des Staats zurück.
Der wirkliche Staat nämlich besteht aus der Gesammtheit aller seiner Staatsbürger. Er hat als wirklicher Staat kein Dasein außer ihnen; er ist eben vorhanden als die persönliche Einheit aller Einzelnen, welche ihm gehören. Ist nun das der Fall, so ergibt sich, daß er selbst in seinem Fortschritt wie in seinem Rückschritt nicht bloß abhängt von der persönlichen wirthschaftlichen oder gesellschaftlichen Entwicklung dieser seiner Angehörigen, sondern daß geradezu der Gesammtzustand des Staates mit dem Zustande und der Entwicklung der Einzelnen, die ihm angehören, identisch ist; oder daß das Maß der Entwicklung aller Staasbürger die Bedingung und das Maß der Entwicklung des Staats selbst ist.
Es ergibt sich daraus, daß diese Entwicklung aller einzelnen
weſentlichſten Gegenſtand der concreten Thätigkeit des Staats, und die Geſammtheit derjenigen Thätigkeiten, welche in dieſer Weiſe auf die wirthſchaftliche Exiſtenz des Staates verwendet werden, nennen wir die Finanzverwaltung. Die Entwicklung und Darſtellung der Begriffe und Regeln, nach welchen dieſe Finanzverwaltung zu Werke zu gehen hat, iſt die Finanzwiſſenſchaft.
Zugleich aber beſteht der Staat aus einzelnen ſelbſtändigen Indi- viduen. Die erſte äußerliche Bedingung des Lebens dieſer ſelbſtändigen Individuen in ihrem Zuſammenleben iſt ohne Zweifel die Unverletzlich- keit des Einen durch die Handlungen des Andern. Dieſe Unverletzlich- keit der einen Lebensſphäre durch die — gleichviel ob willkürliche oder unwillkürliche — Bewegung der anderen nennen wir das Recht. Die Erhaltung des Rechts kann aber nicht durch den Einzelnen geleiſtet werden, weil daſſelbe eben nicht von ſeiner individuellen Willkür ab- hängen kann. Die Gewißheit für die Geltung meines Rechts kann nicht in demjenigen geſucht werden, der nach meiner Anſicht eben dies Recht verletzt hat. Es muß daher durch eine Thätigkeit hergeſtellt werden, welche, indem ſie alle Rechtsindividuen umfaßt, allein das für alle gültige Recht ſetzen und vollziehen kann. Dieſe Thätigkeit vermag nun nur der Staat als die allgemeine Perſönlichkeit zu leiſten. Sie fordert, da ihre Aufgabe das geſammte Leben aller Einzelnen umfaßt, einen Organismus, der gleichfalls ſich über das ganze Leben des Staats er- ſtreckt; ſie iſt daher, ebenſo wie die wirthſchaftliche Welt des Staats, ein ſelbſtändiger Theil der Verwaltung des Staats; und dieſen Theil der Verwaltung des Staats nennen wir kurz die Rechtspflege.
Während auf dieſe Weiſe die Verwaltung der Staatswirthſchaft es mit den wirthſchaftlichen Bedingungen des Staats, die Verwaltung des Rechts aber mit der Selbſtändigkeit der einzelnen Staatsbürger zu thun hat, bleibt ein drittes großes Gebiet der Thätigkeit des Staats zurück.
Der wirkliche Staat nämlich beſteht aus der Geſammtheit aller ſeiner Staatsbürger. Er hat als wirklicher Staat kein Daſein außer ihnen; er iſt eben vorhanden als die perſönliche Einheit aller Einzelnen, welche ihm gehören. Iſt nun das der Fall, ſo ergibt ſich, daß er ſelbſt in ſeinem Fortſchritt wie in ſeinem Rückſchritt nicht bloß abhängt von der perſönlichen wirthſchaftlichen oder geſellſchaftlichen Entwicklung dieſer ſeiner Angehörigen, ſondern daß geradezu der Geſammtzuſtand des Staates mit dem Zuſtande und der Entwicklung der Einzelnen, die ihm angehören, identiſch iſt; oder daß das Maß der Entwicklung aller Staasbürger die Bedingung und das Maß der Entwicklung des Staats ſelbſt iſt.
Es ergibt ſich daraus, daß dieſe Entwicklung aller einzelnen
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weſentlichſten Gegenſtand der concreten Thätigkeit des Staats, und die
Geſammtheit derjenigen Thätigkeiten, welche in dieſer Weiſe auf die
wirthſchaftliche Exiſtenz des Staates verwendet werden, nennen wir
die Finanzverwaltung. Die Entwicklung und Darſtellung der
Begriffe und Regeln, nach welchen dieſe Finanzverwaltung zu Werke
zu gehen hat, iſt die Finanzwiſſenſchaft.
Zugleich aber beſteht der Staat aus einzelnen ſelbſtändigen Indi-
viduen. Die erſte äußerliche Bedingung des Lebens dieſer ſelbſtändigen
Individuen in ihrem Zuſammenleben iſt ohne Zweifel die Unverletzlich-
keit des Einen durch die Handlungen des Andern. Dieſe Unverletzlich-
keit der einen Lebensſphäre durch die — gleichviel ob willkürliche oder
unwillkürliche — Bewegung der anderen nennen wir das Recht. Die
Erhaltung des Rechts kann aber nicht durch den Einzelnen geleiſtet
werden, weil daſſelbe eben nicht von ſeiner individuellen Willkür ab-
hängen kann. Die Gewißheit für die Geltung meines Rechts kann
nicht in demjenigen geſucht werden, der nach meiner Anſicht eben dies
Recht verletzt hat. Es muß daher durch eine Thätigkeit hergeſtellt
werden, welche, indem ſie alle Rechtsindividuen umfaßt, allein das für
alle gültige Recht ſetzen und vollziehen kann. Dieſe Thätigkeit vermag nun
nur der Staat als die allgemeine Perſönlichkeit zu leiſten. Sie fordert,
da ihre Aufgabe das geſammte Leben aller Einzelnen umfaßt, einen
Organismus, der gleichfalls ſich über das ganze Leben des Staats er-
ſtreckt; ſie iſt daher, ebenſo wie die wirthſchaftliche Welt des Staats,
ein ſelbſtändiger Theil der Verwaltung des Staats; und dieſen Theil
der Verwaltung des Staats nennen wir kurz die Rechtspflege.
Während auf dieſe Weiſe die Verwaltung der Staatswirthſchaft es
mit den wirthſchaftlichen Bedingungen des Staats, die Verwaltung des
Rechts aber mit der Selbſtändigkeit der einzelnen Staatsbürger zu thun
hat, bleibt ein drittes großes Gebiet der Thätigkeit des Staats zurück.
Der wirkliche Staat nämlich beſteht aus der Geſammtheit aller
ſeiner Staatsbürger. Er hat als wirklicher Staat kein Daſein außer
ihnen; er iſt eben vorhanden als die perſönliche Einheit aller Einzelnen,
welche ihm gehören. Iſt nun das der Fall, ſo ergibt ſich, daß er ſelbſt
in ſeinem Fortſchritt wie in ſeinem Rückſchritt nicht bloß abhängt von
der perſönlichen wirthſchaftlichen oder geſellſchaftlichen Entwicklung dieſer
ſeiner Angehörigen, ſondern daß geradezu der Geſammtzuſtand des
Staates mit dem Zuſtande und der Entwicklung der Einzelnen, die ihm
angehören, identiſch iſt; oder daß das Maß der Entwicklung aller
Staasbürger die Bedingung und das Maß der Entwicklung
des Staats ſelbſt iſt.
Es ergibt ſich daraus, daß dieſe Entwicklung aller einzelnen
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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865, S. 15. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre01_1865/39>, abgerufen am 21.11.2024.
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