mißversteht. Das ständische Landrecht ist nämlich dasjenige, dessen Sub- jekte die ständischen, also nach ständischem Rechte gleichen Persön- lichkeiten (pares) sind. Es gibt daher ursprünglich kein Landrecht für die Landesangehörigen als solche, sondern nur für Landstände. Jedes Landrecht ist eben deßhalb ursprünglich nur denkbar als ein judicium parium, und über das Recht dieser ständisch-selbständigen Per- sönlichkeiten. Für die abhängigen Personen, die Unfreien im weitesten Sinn des Wortes, gibt es kein Landrecht in jener Zeit; sie haben ihr Ortsrecht, und werden nach diesem gerichtet. Die Begriffe und Rechte von höherer und niederer Instanz sind daher auf Ortsvorstand und Landtag ursprünglich gar nicht anwendbar, sondern wie Freiheit und Unfreiheit zwei specifisch verschiedene Ordnungen des Lebens sind, so sind auch die Rechte beider specifisch verschieden. Es ist daher festzu- halten, daß Begriff und Recht der Appellation erst durch das Auf- treten des persönlichen Staatsorganismus entstehen; das Landrecht ist ein abgeschlossenes Ganzes, und hat daher auch sein selbständiges Organ, das Gericht der Gleichen, und dieses Gericht ist eben der Landtag. Dennoch lag der Keim der Einschaltung dieses Organes schon im Keim des letzteren; wir werden sehen wie er zur Entwicklung kommt.
Endlich ist die Landschaft auch der Körper der innern Verwal- tung. Nur muß man hier unterscheiden, denn hier ist zugleich der Punkt, wo auf Grundlage des geltenden Rechts die persönliche Staats- gewalt die Selbständigkeit jenes Organes allmählig untergräbt. Das Gebiet der Verwaltung enthält eigentlich das ganze Gesammtleben des Volkes. Der persönliche, im Landesherrn vertretene Staat ist doch im Grunde die persönliche Einheit desselben. Der Landesherr nahm daher auch gleich anfangs innerhalb dieses weiten Gebietes gewisse Aufgaben und Rechte, als dem Staate angehörig, in Anspruch. So entstanden die Hoheitsrechte. Kein Begriff war unklarer als dieser. Der Zweifel, wie weit die Hoheitsrechte gegenüber der innern Verwaltung der Landtage gehen, begann daher sofort und entschied sich in den ver- schiedenen Ländern verschieden. Dennoch zeigten sich allgemein drei Grundsätze durchgreifend. Der erste ist, daß der Landfrieden (die Sicherheitspolizei) unter allen Umständen eine Sache und seine Herstellung mithin ein Recht des Landesherrn sei. Diesen Grundsatz hat namentlich das Karolingische Comitat zur Geltung gebracht, und er ist einer der wichtigsten Faktoren in der ganzen Organisation der innern Verwaltung Europas geworden. Der zweite Grundsatz ist, daß alle landschaftliche Verwaltungsaufgaben, welche mit Ausgaben verbunden sind, als Sache der Selbstverwaltung der Landschaft anerkannt werden, weil nur diese die Aufgaben bewilligen und decken kann, während drittens der
mißverſteht. Das ſtändiſche Landrecht iſt nämlich dasjenige, deſſen Sub- jekte die ſtändiſchen, alſo nach ſtändiſchem Rechte gleichen Perſön- lichkeiten (pares) ſind. Es gibt daher urſprünglich kein Landrecht für die Landesangehörigen als ſolche, ſondern nur für Landſtände. Jedes Landrecht iſt eben deßhalb urſprünglich nur denkbar als ein judicium parium, und über das Recht dieſer ſtändiſch-ſelbſtändigen Per- ſönlichkeiten. Für die abhängigen Perſonen, die Unfreien im weiteſten Sinn des Wortes, gibt es kein Landrecht in jener Zeit; ſie haben ihr Ortsrecht, und werden nach dieſem gerichtet. Die Begriffe und Rechte von höherer und niederer Inſtanz ſind daher auf Ortsvorſtand und Landtag urſprünglich gar nicht anwendbar, ſondern wie Freiheit und Unfreiheit zwei ſpecifiſch verſchiedene Ordnungen des Lebens ſind, ſo ſind auch die Rechte beider ſpecifiſch verſchieden. Es iſt daher feſtzu- halten, daß Begriff und Recht der Appellation erſt durch das Auf- treten des perſönlichen Staatsorganismus entſtehen; das Landrecht iſt ein abgeſchloſſenes Ganzes, und hat daher auch ſein ſelbſtändiges Organ, das Gericht der Gleichen, und dieſes Gericht iſt eben der Landtag. Dennoch lag der Keim der Einſchaltung dieſes Organes ſchon im Keim des letzteren; wir werden ſehen wie er zur Entwicklung kommt.
Endlich iſt die Landſchaft auch der Körper der innern Verwal- tung. Nur muß man hier unterſcheiden, denn hier iſt zugleich der Punkt, wo auf Grundlage des geltenden Rechts die perſönliche Staats- gewalt die Selbſtändigkeit jenes Organes allmählig untergräbt. Das Gebiet der Verwaltung enthält eigentlich das ganze Geſammtleben des Volkes. Der perſönliche, im Landesherrn vertretene Staat iſt doch im Grunde die perſönliche Einheit deſſelben. Der Landesherr nahm daher auch gleich anfangs innerhalb dieſes weiten Gebietes gewiſſe Aufgaben und Rechte, als dem Staate angehörig, in Anſpruch. So entſtanden die Hoheitsrechte. Kein Begriff war unklarer als dieſer. Der Zweifel, wie weit die Hoheitsrechte gegenüber der innern Verwaltung der Landtage gehen, begann daher ſofort und entſchied ſich in den ver- ſchiedenen Ländern verſchieden. Dennoch zeigten ſich allgemein drei Grundſätze durchgreifend. Der erſte iſt, daß der Landfrieden (die Sicherheitspolizei) unter allen Umſtänden eine Sache und ſeine Herſtellung mithin ein Recht des Landesherrn ſei. Dieſen Grundſatz hat namentlich das Karolingiſche Comitat zur Geltung gebracht, und er iſt einer der wichtigſten Faktoren in der ganzen Organiſation der innern Verwaltung Europas geworden. Der zweite Grundſatz iſt, daß alle landſchaftliche Verwaltungsaufgaben, welche mit Ausgaben verbunden ſind, als Sache der Selbſtverwaltung der Landſchaft anerkannt werden, weil nur dieſe die Aufgaben bewilligen und decken kann, während drittens der
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die Landesangehörigen als ſolche, ſondern nur für Landſtände.
Jedes Landrecht iſt eben deßhalb urſprünglich nur denkbar als ein
judicium parium, und über das Recht dieſer ſtändiſch-ſelbſtändigen Per-
ſönlichkeiten. Für die abhängigen Perſonen, die Unfreien im weiteſten
Sinn des Wortes, gibt es kein Landrecht in jener Zeit; ſie haben ihr
Ortsrecht, und werden nach dieſem gerichtet. Die Begriffe und Rechte
von höherer und niederer Inſtanz ſind daher auf Ortsvorſtand und
Landtag urſprünglich gar nicht anwendbar, ſondern wie Freiheit und
Unfreiheit zwei ſpecifiſch verſchiedene Ordnungen des Lebens ſind, ſo
ſind auch die Rechte beider ſpecifiſch verſchieden. Es iſt daher feſtzu-
halten, daß Begriff und Recht der Appellation erſt durch das Auf-
treten des perſönlichen Staatsorganismus entſtehen; das Landrecht iſt
ein abgeſchloſſenes Ganzes, und hat daher auch ſein ſelbſtändiges Organ,
das Gericht der Gleichen, und dieſes Gericht iſt eben der Landtag.
Dennoch lag der Keim der Einſchaltung dieſes Organes ſchon im Keim
des letzteren; wir werden ſehen wie er zur Entwicklung kommt.
Endlich iſt die Landſchaft auch der Körper der innern Verwal-
tung. Nur muß man hier unterſcheiden, denn hier iſt zugleich der
Punkt, wo auf Grundlage des geltenden Rechts die perſönliche Staats-
gewalt die Selbſtändigkeit jenes Organes allmählig untergräbt. Das
Gebiet der Verwaltung enthält eigentlich das ganze Geſammtleben des
Volkes. Der perſönliche, im Landesherrn vertretene Staat iſt doch im
Grunde die perſönliche Einheit deſſelben. Der Landesherr nahm daher
auch gleich anfangs innerhalb dieſes weiten Gebietes gewiſſe Aufgaben
und Rechte, als dem Staate angehörig, in Anſpruch. So entſtanden
die Hoheitsrechte. Kein Begriff war unklarer als dieſer. Der
Zweifel, wie weit die Hoheitsrechte gegenüber der innern Verwaltung
der Landtage gehen, begann daher ſofort und entſchied ſich in den ver-
ſchiedenen Ländern verſchieden. Dennoch zeigten ſich allgemein drei
Grundſätze durchgreifend. Der erſte iſt, daß der Landfrieden (die
Sicherheitspolizei) unter allen Umſtänden eine Sache und ſeine Herſtellung
mithin ein Recht des Landesherrn ſei. Dieſen Grundſatz hat namentlich
das Karolingiſche Comitat zur Geltung gebracht, und er iſt einer der
wichtigſten Faktoren in der ganzen Organiſation der innern Verwaltung
Europas geworden. Der zweite Grundſatz iſt, daß alle landſchaftliche
Verwaltungsaufgaben, welche mit Ausgaben verbunden ſind, als
Sache der Selbſtverwaltung der Landſchaft anerkannt werden, weil nur
dieſe die Aufgaben bewilligen und decken kann, während drittens der
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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865, S. 411. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre01_1865/435>, abgerufen am 22.11.2024.
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