die Individualität der Staatsbildung so prägnant erschiene als hier. Wir werden uns aber wieder auf England, Frankreich und Deutschland, als die Träger der drei Grundformen dieses Organismus, zu beschränken haben.
1) England. Die alteCounty,derSheriffund dieCoroners,die neue Countyund dieQuarterly Sessions.
England ist mit wenigen Ausnahmen ein gleichmäßig ebenes Land. Jeder seiner Theile ist auf allen Punkten zugänglich. Die Flüsse im Innern, das Meer an der Küste verbinden alle Gebiete desselben. Es hat daher keine Länder. Aus demselben Grunde hat auch jeder sieg- reiche Stoß, der es von außen her getroffen, stets das ganze Land gleichmäßig unterworfen. Die Stammesverschiedenheit ist für den bei weitem größten und wichtigsten Theil, das eigentliche England, niemals dauernd gewesen, und hat sich daher auch in den kleinern Theilen, selbst in Schottland und Irland, geschweige denn in Wales, nicht zu einer selb- ständigen Gesellschaftsordnung entwickeln, und deßhalb sich namentlich in den herrschenden Classen nicht erhalten können. England erscheint uns daher, in tiefer Verschiedenheit von allen Staaten des Continents, als ein Ganzes, vom Anfange seiner Geschichte bis auf den heutigen Tag. Und das, für andere Dinge entscheidend, ist es nicht weniger für die Gestaltung der Selbstverwaltung im Allgemeinen, so wie der Landschaft insbesondere geworden.
England besitzt daher niemals Landschaften im continentalen Sinn; so wenig in der ständischen als in der staatsbürgerlichen Epoche. Gleich von Anfang an ist das ganze, einheitliche Reich in seinem Könige ver- treten; die dänischen Landschaften (Königreiche) verschwinden, ohne andere Spuren als die Namen zurückzulassen, und die Eroberung Wilhelms vollendet die Nivellirung jeder staatlichen Bildung in den einzelnen Landestheilen. Es gibt daher nirgends selbständige Landtage, nirgends eine eigene, von dem Ganzen streng abgeschiedene Rechtsbildung, nir- gends ein Privateigenthum der Stände, nirgends die Frage, in welchem Verhältniß diese Stände mit ihren Beschlüssen zum herrschenden Körper des ganzen Reiches stehen. Es ist von Anfang gar kein Zweifel, daß das Recht, die Steuergewalt und die Reichsverwaltung nur vom Mittel- punkte des Staats ausgehen. Diese selbst besteht gleich anfangs aus dem Könige, aber nicht in der Mitte dieser oder jener Herren, welche ihm lehnstreu sind, sondern der gesammten Ritterschaft. Die Curie ist der Reichshof, in dem alle Barone sitzen; sie sind nicht in hundert landschaftliche Körper getheilt, sondern die Stände bilden ein ungetrenntes Ganze wie das Reich, und diese Stände sind eben das
die Individualität der Staatsbildung ſo prägnant erſchiene als hier. Wir werden uns aber wieder auf England, Frankreich und Deutſchland, als die Träger der drei Grundformen dieſes Organismus, zu beſchränken haben.
1) England. Die alteCounty,derSheriffund dieCoroners,die neue Countyund dieQuarterly Sessions.
England iſt mit wenigen Ausnahmen ein gleichmäßig ebenes Land. Jeder ſeiner Theile iſt auf allen Punkten zugänglich. Die Flüſſe im Innern, das Meer an der Küſte verbinden alle Gebiete deſſelben. Es hat daher keine Länder. Aus demſelben Grunde hat auch jeder ſieg- reiche Stoß, der es von außen her getroffen, ſtets das ganze Land gleichmäßig unterworfen. Die Stammesverſchiedenheit iſt für den bei weitem größten und wichtigſten Theil, das eigentliche England, niemals dauernd geweſen, und hat ſich daher auch in den kleinern Theilen, ſelbſt in Schottland und Irland, geſchweige denn in Wales, nicht zu einer ſelb- ſtändigen Geſellſchaftsordnung entwickeln, und deßhalb ſich namentlich in den herrſchenden Claſſen nicht erhalten können. England erſcheint uns daher, in tiefer Verſchiedenheit von allen Staaten des Continents, als ein Ganzes, vom Anfange ſeiner Geſchichte bis auf den heutigen Tag. Und das, für andere Dinge entſcheidend, iſt es nicht weniger für die Geſtaltung der Selbſtverwaltung im Allgemeinen, ſo wie der Landſchaft insbeſondere geworden.
England beſitzt daher niemals Landſchaften im continentalen Sinn; ſo wenig in der ſtändiſchen als in der ſtaatsbürgerlichen Epoche. Gleich von Anfang an iſt das ganze, einheitliche Reich in ſeinem Könige ver- treten; die däniſchen Landſchaften (Königreiche) verſchwinden, ohne andere Spuren als die Namen zurückzulaſſen, und die Eroberung Wilhelms vollendet die Nivellirung jeder ſtaatlichen Bildung in den einzelnen Landestheilen. Es gibt daher nirgends ſelbſtändige Landtage, nirgends eine eigene, von dem Ganzen ſtreng abgeſchiedene Rechtsbildung, nir- gends ein Privateigenthum der Stände, nirgends die Frage, in welchem Verhältniß dieſe Stände mit ihren Beſchlüſſen zum herrſchenden Körper des ganzen Reiches ſtehen. Es iſt von Anfang gar kein Zweifel, daß das Recht, die Steuergewalt und die Reichsverwaltung nur vom Mittel- punkte des Staats ausgehen. Dieſe ſelbſt beſteht gleich anfangs aus dem Könige, aber nicht in der Mitte dieſer oder jener Herren, welche ihm lehnstreu ſind, ſondern der geſammten Ritterſchaft. Die Curie iſt der Reichshof, in dem alle Barone ſitzen; ſie ſind nicht in hundert landſchaftliche Körper getheilt, ſondern die Stände bilden ein ungetrenntes Ganze wie das Reich, und dieſe Stände ſind eben das
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die Individualität der Staatsbildung ſo prägnant erſchiene als hier.
Wir werden uns aber wieder auf England, Frankreich und Deutſchland,
als die Träger der drei Grundformen dieſes Organismus, zu beſchränken
haben.
1) England. Die alte County, der Sheriff und die Coroners, die neue
County und die Quarterly Sessions.
England iſt mit wenigen Ausnahmen ein gleichmäßig ebenes Land.
Jeder ſeiner Theile iſt auf allen Punkten zugänglich. Die Flüſſe im
Innern, das Meer an der Küſte verbinden alle Gebiete deſſelben. Es
hat daher keine Länder. Aus demſelben Grunde hat auch jeder ſieg-
reiche Stoß, der es von außen her getroffen, ſtets das ganze Land
gleichmäßig unterworfen. Die Stammesverſchiedenheit iſt für den bei
weitem größten und wichtigſten Theil, das eigentliche England, niemals
dauernd geweſen, und hat ſich daher auch in den kleinern Theilen, ſelbſt in
Schottland und Irland, geſchweige denn in Wales, nicht zu einer ſelb-
ſtändigen Geſellſchaftsordnung entwickeln, und deßhalb ſich namentlich
in den herrſchenden Claſſen nicht erhalten können. England erſcheint
uns daher, in tiefer Verſchiedenheit von allen Staaten des Continents,
als ein Ganzes, vom Anfange ſeiner Geſchichte bis auf den heutigen
Tag. Und das, für andere Dinge entſcheidend, iſt es nicht weniger
für die Geſtaltung der Selbſtverwaltung im Allgemeinen, ſo wie der
Landſchaft insbeſondere geworden.
England beſitzt daher niemals Landſchaften im continentalen Sinn;
ſo wenig in der ſtändiſchen als in der ſtaatsbürgerlichen Epoche. Gleich
von Anfang an iſt das ganze, einheitliche Reich in ſeinem Könige ver-
treten; die däniſchen Landſchaften (Königreiche) verſchwinden, ohne andere
Spuren als die Namen zurückzulaſſen, und die Eroberung Wilhelms
vollendet die Nivellirung jeder ſtaatlichen Bildung in den einzelnen
Landestheilen. Es gibt daher nirgends ſelbſtändige Landtage, nirgends
eine eigene, von dem Ganzen ſtreng abgeſchiedene Rechtsbildung, nir-
gends ein Privateigenthum der Stände, nirgends die Frage, in welchem
Verhältniß dieſe Stände mit ihren Beſchlüſſen zum herrſchenden Körper
des ganzen Reiches ſtehen. Es iſt von Anfang gar kein Zweifel, daß
das Recht, die Steuergewalt und die Reichsverwaltung nur vom Mittel-
punkte des Staats ausgehen. Dieſe ſelbſt beſteht gleich anfangs aus
dem Könige, aber nicht in der Mitte dieſer oder jener Herren, welche
ihm lehnstreu ſind, ſondern der geſammten Ritterſchaft. Die Curie
iſt der Reichshof, in dem alle Barone ſitzen; ſie ſind nicht in
hundert landſchaftliche Körper getheilt, ſondern die Stände bilden ein
ungetrenntes Ganze wie das Reich, und dieſe Stände ſind eben das
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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865, S. 414. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre01_1865/438>, abgerufen am 22.11.2024.
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