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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865.

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seine äußere Geschichte hat, hat es im Verhältniß zur socialen Bewe-
gung das, was wir seine innere Geschichte nennen. Und diese ist nicht
bloß eine stoffreiche, sondern auch eine lehrreiche. Wenn wir überhaupt
von der Individualität der Staaten reden, so ruht dieselbe gewiß
wesentlich in ihrer socialen Individualität. Die aber, die am meisten
herrschend und fühlbar, wo sich die Individuen berühren, herrscht vor
allem in der Ordnung der Verfassung und Verwaltung des Systems
der Selbstverwaltungskörper. Und wie wir daher für das Verhältniß
der letzteren zum Staate gewisse allgemeine Kategorien für die Redu-
cirung der verschiedenen Zustände auf gleichartige Grundlagen versucht
haben, so läßt sich dasselbe auch für den Einfluß anstreben, den die
sociale Ordnung auf das Verfassungs- und Verwaltungsleben der Selbst-
verwaltung ausüben. Diese Kategorien aber, zunächst als historische
Thatsachen erscheinend, werden zu wissenschaftlichen Begriffen, indem
wir ihren innern causalen Zusammenhang mit dem Wesen jener gesell-
schaftlichen Ordnungen feststellen.

Wir dürfen dabei die drei Grundformen der gesellschaftlichen Ord-
nung, die Geschlechterordnung, die ständische und die staatsbürgerliche
Ordnung als bekannt voraussetzen. In der ersten ist der Grundbesitz
das herrschende Element, in der zweiten der Beruf, in der dritten die
selbstthätige Persönlichkeit. In der ersten wirkt daher das unbewegliche,
in der zweiten das geistige, in der dritten das gewerbliche Capital.
Die Uebergänge und Verbindungen dürfen wir nicht genauer hervorheben.

Die Verfassung und Verwaltung der Selbstverwaltung beruht
demgemäß in der Geschlechterordnung stets auf den Grundbesitzern.
Ihre Einheit, als örtliches Ganze, nennen wir die Dorfschaft. Ihr
Mitglied ist der freie Bauer auf freier Hufe. Ihre Verfassung ist die
gleiche Berechtigung aller freien Bauern, die sich das Haupt selbst
wählen, denn niemand hat ein Vorrecht vor dem andern. Ihre Ver-
waltung beruht darauf, daß sie sich die Aufgaben, die sie vollziehen
will, entweder selbst setzt, oder sie doch selbst vollzieht. Allein die
Mittel für diese Verwaltung müssen, wie jeder Beschluß der Dorfschaft,
durch die Grundbesitzer aufgebracht werden. Daraus folgt zwar einer-
seits das Recht der Selbstbesteuerung, andererseits aber auch das
Princip, nach welchem der Nichtbesitzer von der Verfassung ausgeschlossen
ist. Die Dorfschaft ist nur die Gemeinde der bäuerlichen Grundbesitzer,
die Dorfgemeinde.

Aus dieser Dorfgemeinde wird sich nun die Verwaltungsgemeinde
der Geschlechterordnung dadurch entwickeln, daß durch das Fortschreiten
des Verkehrs sich Aufgaben bilden, für welche die Dorfgemeinde zu
klein ist. Es liegt in der Natur der Sache, daß die erste dieser

ſeine äußere Geſchichte hat, hat es im Verhältniß zur ſocialen Bewe-
gung das, was wir ſeine innere Geſchichte nennen. Und dieſe iſt nicht
bloß eine ſtoffreiche, ſondern auch eine lehrreiche. Wenn wir überhaupt
von der Individualität der Staaten reden, ſo ruht dieſelbe gewiß
weſentlich in ihrer ſocialen Individualität. Die aber, die am meiſten
herrſchend und fühlbar, wo ſich die Individuen berühren, herrſcht vor
allem in der Ordnung der Verfaſſung und Verwaltung des Syſtems
der Selbſtverwaltungskörper. Und wie wir daher für das Verhältniß
der letzteren zum Staate gewiſſe allgemeine Kategorien für die Redu-
cirung der verſchiedenen Zuſtände auf gleichartige Grundlagen verſucht
haben, ſo läßt ſich daſſelbe auch für den Einfluß anſtreben, den die
ſociale Ordnung auf das Verfaſſungs- und Verwaltungsleben der Selbſt-
verwaltung ausüben. Dieſe Kategorien aber, zunächſt als hiſtoriſche
Thatſachen erſcheinend, werden zu wiſſenſchaftlichen Begriffen, indem
wir ihren innern cauſalen Zuſammenhang mit dem Weſen jener geſell-
ſchaftlichen Ordnungen feſtſtellen.

Wir dürfen dabei die drei Grundformen der geſellſchaftlichen Ord-
nung, die Geſchlechterordnung, die ſtändiſche und die ſtaatsbürgerliche
Ordnung als bekannt vorausſetzen. In der erſten iſt der Grundbeſitz
das herrſchende Element, in der zweiten der Beruf, in der dritten die
ſelbſtthätige Perſönlichkeit. In der erſten wirkt daher das unbewegliche,
in der zweiten das geiſtige, in der dritten das gewerbliche Capital.
Die Uebergänge und Verbindungen dürfen wir nicht genauer hervorheben.

Die Verfaſſung und Verwaltung der Selbſtverwaltung beruht
demgemäß in der Geſchlechterordnung ſtets auf den Grundbeſitzern.
Ihre Einheit, als örtliches Ganze, nennen wir die Dorfſchaft. Ihr
Mitglied iſt der freie Bauer auf freier Hufe. Ihre Verfaſſung iſt die
gleiche Berechtigung aller freien Bauern, die ſich das Haupt ſelbſt
wählen, denn niemand hat ein Vorrecht vor dem andern. Ihre Ver-
waltung beruht darauf, daß ſie ſich die Aufgaben, die ſie vollziehen
will, entweder ſelbſt ſetzt, oder ſie doch ſelbſt vollzieht. Allein die
Mittel für dieſe Verwaltung müſſen, wie jeder Beſchluß der Dorfſchaft,
durch die Grundbeſitzer aufgebracht werden. Daraus folgt zwar einer-
ſeits das Recht der Selbſtbeſteuerung, andererſeits aber auch das
Princip, nach welchem der Nichtbeſitzer von der Verfaſſung ausgeſchloſſen
iſt. Die Dorfſchaft iſt nur die Gemeinde der bäuerlichen Grundbeſitzer,
die Dorfgemeinde.

Aus dieſer Dorfgemeinde wird ſich nun die Verwaltungsgemeinde
der Geſchlechterordnung dadurch entwickeln, daß durch das Fortſchreiten
des Verkehrs ſich Aufgaben bilden, für welche die Dorfgemeinde zu
klein iſt. Es liegt in der Natur der Sache, daß die erſte dieſer

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[441/0465] ſeine äußere Geſchichte hat, hat es im Verhältniß zur ſocialen Bewe- gung das, was wir ſeine innere Geſchichte nennen. Und dieſe iſt nicht bloß eine ſtoffreiche, ſondern auch eine lehrreiche. Wenn wir überhaupt von der Individualität der Staaten reden, ſo ruht dieſelbe gewiß weſentlich in ihrer ſocialen Individualität. Die aber, die am meiſten herrſchend und fühlbar, wo ſich die Individuen berühren, herrſcht vor allem in der Ordnung der Verfaſſung und Verwaltung des Syſtems der Selbſtverwaltungskörper. Und wie wir daher für das Verhältniß der letzteren zum Staate gewiſſe allgemeine Kategorien für die Redu- cirung der verſchiedenen Zuſtände auf gleichartige Grundlagen verſucht haben, ſo läßt ſich daſſelbe auch für den Einfluß anſtreben, den die ſociale Ordnung auf das Verfaſſungs- und Verwaltungsleben der Selbſt- verwaltung ausüben. Dieſe Kategorien aber, zunächſt als hiſtoriſche Thatſachen erſcheinend, werden zu wiſſenſchaftlichen Begriffen, indem wir ihren innern cauſalen Zuſammenhang mit dem Weſen jener geſell- ſchaftlichen Ordnungen feſtſtellen. Wir dürfen dabei die drei Grundformen der geſellſchaftlichen Ord- nung, die Geſchlechterordnung, die ſtändiſche und die ſtaatsbürgerliche Ordnung als bekannt vorausſetzen. In der erſten iſt der Grundbeſitz das herrſchende Element, in der zweiten der Beruf, in der dritten die ſelbſtthätige Perſönlichkeit. In der erſten wirkt daher das unbewegliche, in der zweiten das geiſtige, in der dritten das gewerbliche Capital. Die Uebergänge und Verbindungen dürfen wir nicht genauer hervorheben. Die Verfaſſung und Verwaltung der Selbſtverwaltung beruht demgemäß in der Geſchlechterordnung ſtets auf den Grundbeſitzern. Ihre Einheit, als örtliches Ganze, nennen wir die Dorfſchaft. Ihr Mitglied iſt der freie Bauer auf freier Hufe. Ihre Verfaſſung iſt die gleiche Berechtigung aller freien Bauern, die ſich das Haupt ſelbſt wählen, denn niemand hat ein Vorrecht vor dem andern. Ihre Ver- waltung beruht darauf, daß ſie ſich die Aufgaben, die ſie vollziehen will, entweder ſelbſt ſetzt, oder ſie doch ſelbſt vollzieht. Allein die Mittel für dieſe Verwaltung müſſen, wie jeder Beſchluß der Dorfſchaft, durch die Grundbeſitzer aufgebracht werden. Daraus folgt zwar einer- ſeits das Recht der Selbſtbeſteuerung, andererſeits aber auch das Princip, nach welchem der Nichtbeſitzer von der Verfaſſung ausgeſchloſſen iſt. Die Dorfſchaft iſt nur die Gemeinde der bäuerlichen Grundbeſitzer, die Dorfgemeinde. Aus dieſer Dorfgemeinde wird ſich nun die Verwaltungsgemeinde der Geſchlechterordnung dadurch entwickeln, daß durch das Fortſchreiten des Verkehrs ſich Aufgaben bilden, für welche die Dorfgemeinde zu klein iſt. Es liegt in der Natur der Sache, daß die erſte dieſer

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865, S. 441. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre01_1865/465>, abgerufen am 22.11.2024.