Selbstverwaltung genügen ihr nicht. Die Umwälzung des Staatsrechts, die mit dem Siege der staatsbürgerlichen Gesellschaft eintritt, erscheint daher sofort auch im Gebiete der Selbstverwaltung. Eine neue Zeit beginnt für dieselbe. Ihr allgemeiner Charakter ist die Bestimmung der Ordnung und des Rechts der örtlichen Verwaltung durch die Kräfte und die Forderungen der staatsbürgerlichen Gesellschaftsordnung. Das gilt für alle Staaten und Länder Europas.
Allein diese neue Gesellschaftsordnung ist nun mit unserem Jahr- hundert, obwohl im Allgemeinen siegreich, dennoch keineswegs gleich- mäßig ausgebildet. Sie erscheint vielmehr als eine sehr verschiedene. Die Folge davon aber ist die wichtige Thatsache, daß auch Princip, System und Recht der Selbstverwaltung in jedem Lande Europas eine verschiedene Gestalt haben. Allerdings muß man hier zuerst die äußere Eintheilung und Gestalt der Selbstverwaltung von dem innern Orga- nismus derselben wohl unterscheiden. Die Besonderheit dieser Gestal- tung liegt nämlich äußerlich in denselben natürlichen Verhältnissen des Landes, welche wir bei dem Behördensystem bereits dargestellt haben. Es ist gar nicht möglich, daß Land- und Seestaaten, daß ebene und gebirgige Länder, daß Länder mit dichter und dünner Be- völkerung dieselbe Gestalt der Selbstverwaltung besitzen könnten, und "Land und Leute" sind daher nicht etwa bloß interessante ethische, ge- sellschaftliche und hauswirthschaftliche Elemente, welche man mit dem Auge eines Touristen betrachten und dann mit ihrer geistreichen Beschreibung erschöpfen kann. Sie sind vielmehr höchst concrete Faktoren der Verwal- tung, und haben, auf das Tiefste eingreifend, dem innern praktischen Leben des Staats im Allgemeinen, namentlich aber der äußern Organi- sation der Selbstverwaltung ihre Gestalt gegeben. Man wird vielleicht ein Land und sein inneres Leben kennen, ohne diese organischen Verhältnisse zu würdigen, aber man wird sie ohne das nie verstehen. Doch dürfen wir uns auch für den Organismus der Selbstverwaltung auf dasjenige beziehen, was wir bei dem Behördensystem bereits über das Verhalten jener Elemente zur Configuration des Gemeindewesens gesagt haben.
Während nun so die äußere Gestalt der Selbstverwaltung durch diese natürlichen Bedingungen bestimmt wird, liegt die Besonderheit der in- nern Organisation der Selbstverwaltung vielmehr in dem Verhältniß der staatsbürgerlichen zur ständischen Gesellschaft. Und hiefür muß die Wissenschaft die allgemein gültigen Gesetze aufstellen, während die Lehre vom geltenden öffentlichen Recht aus ihm die wirklich gegebene Ge- stalt finden und entwickeln muß.
Wir haben daher hier die Aufgabe, auf dieser Grundlage die Elemente der Vergleichung zwischen den verschiedenen Formen
Selbſtverwaltung genügen ihr nicht. Die Umwälzung des Staatsrechts, die mit dem Siege der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft eintritt, erſcheint daher ſofort auch im Gebiete der Selbſtverwaltung. Eine neue Zeit beginnt für dieſelbe. Ihr allgemeiner Charakter iſt die Beſtimmung der Ordnung und des Rechts der örtlichen Verwaltung durch die Kräfte und die Forderungen der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaftsordnung. Das gilt für alle Staaten und Länder Europas.
Allein dieſe neue Geſellſchaftsordnung iſt nun mit unſerem Jahr- hundert, obwohl im Allgemeinen ſiegreich, dennoch keineswegs gleich- mäßig ausgebildet. Sie erſcheint vielmehr als eine ſehr verſchiedene. Die Folge davon aber iſt die wichtige Thatſache, daß auch Princip, Syſtem und Recht der Selbſtverwaltung in jedem Lande Europas eine verſchiedene Geſtalt haben. Allerdings muß man hier zuerſt die äußere Eintheilung und Geſtalt der Selbſtverwaltung von dem innern Orga- nismus derſelben wohl unterſcheiden. Die Beſonderheit dieſer Geſtal- tung liegt nämlich äußerlich in denſelben natürlichen Verhältniſſen des Landes, welche wir bei dem Behördenſyſtem bereits dargeſtellt haben. Es iſt gar nicht möglich, daß Land- und Seeſtaaten, daß ebene und gebirgige Länder, daß Länder mit dichter und dünner Be- völkerung dieſelbe Geſtalt der Selbſtverwaltung beſitzen könnten, und „Land und Leute“ ſind daher nicht etwa bloß intereſſante ethiſche, ge- ſellſchaftliche und hauswirthſchaftliche Elemente, welche man mit dem Auge eines Touriſten betrachten und dann mit ihrer geiſtreichen Beſchreibung erſchöpfen kann. Sie ſind vielmehr höchſt concrete Faktoren der Verwal- tung, und haben, auf das Tiefſte eingreifend, dem innern praktiſchen Leben des Staats im Allgemeinen, namentlich aber der äußern Organi- ſation der Selbſtverwaltung ihre Geſtalt gegeben. Man wird vielleicht ein Land und ſein inneres Leben kennen, ohne dieſe organiſchen Verhältniſſe zu würdigen, aber man wird ſie ohne das nie verſtehen. Doch dürfen wir uns auch für den Organismus der Selbſtverwaltung auf dasjenige beziehen, was wir bei dem Behördenſyſtem bereits über das Verhalten jener Elemente zur Configuration des Gemeindeweſens geſagt haben.
Während nun ſo die äußere Geſtalt der Selbſtverwaltung durch dieſe natürlichen Bedingungen beſtimmt wird, liegt die Beſonderheit der in- nern Organiſation der Selbſtverwaltung vielmehr in dem Verhältniß der ſtaatsbürgerlichen zur ſtändiſchen Geſellſchaft. Und hiefür muß die Wiſſenſchaft die allgemein gültigen Geſetze aufſtellen, während die Lehre vom geltenden öffentlichen Recht aus ihm die wirklich gegebene Ge- ſtalt finden und entwickeln muß.
Wir haben daher hier die Aufgabe, auf dieſer Grundlage die Elemente der Vergleichung zwiſchen den verſchiedenen Formen
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Selbſtverwaltung genügen ihr nicht. Die Umwälzung des Staatsrechts,
die mit dem Siege der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft eintritt, erſcheint
daher ſofort auch im Gebiete der Selbſtverwaltung. Eine neue Zeit
beginnt für dieſelbe. Ihr allgemeiner Charakter iſt die Beſtimmung
der Ordnung und des Rechts der örtlichen Verwaltung durch die Kräfte
und die Forderungen der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaftsordnung. Das
gilt für alle Staaten und Länder Europas.
Allein dieſe neue Geſellſchaftsordnung iſt nun mit unſerem Jahr-
hundert, obwohl im Allgemeinen ſiegreich, dennoch keineswegs gleich-
mäßig ausgebildet. Sie erſcheint vielmehr als eine ſehr verſchiedene.
Die Folge davon aber iſt die wichtige Thatſache, daß auch Princip,
Syſtem und Recht der Selbſtverwaltung in jedem Lande Europas eine
verſchiedene Geſtalt haben. Allerdings muß man hier zuerſt die äußere
Eintheilung und Geſtalt der Selbſtverwaltung von dem innern Orga-
nismus derſelben wohl unterſcheiden. Die Beſonderheit dieſer Geſtal-
tung liegt nämlich äußerlich in denſelben natürlichen Verhältniſſen
des Landes, welche wir bei dem Behördenſyſtem bereits dargeſtellt
haben. Es iſt gar nicht möglich, daß Land- und Seeſtaaten, daß
ebene und gebirgige Länder, daß Länder mit dichter und dünner Be-
völkerung dieſelbe Geſtalt der Selbſtverwaltung beſitzen könnten, und
„Land und Leute“ ſind daher nicht etwa bloß intereſſante ethiſche, ge-
ſellſchaftliche und hauswirthſchaftliche Elemente, welche man mit dem Auge
eines Touriſten betrachten und dann mit ihrer geiſtreichen Beſchreibung
erſchöpfen kann. Sie ſind vielmehr höchſt concrete Faktoren der Verwal-
tung, und haben, auf das Tiefſte eingreifend, dem innern praktiſchen
Leben des Staats im Allgemeinen, namentlich aber der äußern Organi-
ſation der Selbſtverwaltung ihre Geſtalt gegeben. Man wird vielleicht ein
Land und ſein inneres Leben kennen, ohne dieſe organiſchen Verhältniſſe zu
würdigen, aber man wird ſie ohne das nie verſtehen. Doch dürfen
wir uns auch für den Organismus der Selbſtverwaltung auf dasjenige
beziehen, was wir bei dem Behördenſyſtem bereits über das Verhalten
jener Elemente zur Configuration des Gemeindeweſens geſagt haben.
Während nun ſo die äußere Geſtalt der Selbſtverwaltung durch dieſe
natürlichen Bedingungen beſtimmt wird, liegt die Beſonderheit der in-
nern Organiſation der Selbſtverwaltung vielmehr in dem Verhältniß
der ſtaatsbürgerlichen zur ſtändiſchen Geſellſchaft. Und hiefür muß die
Wiſſenſchaft die allgemein gültigen Geſetze aufſtellen, während die Lehre
vom geltenden öffentlichen Recht aus ihm die wirklich gegebene Ge-
ſtalt finden und entwickeln muß.
Wir haben daher hier die Aufgabe, auf dieſer Grundlage die
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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865, S. 460. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre01_1865/484>, abgerufen am 22.11.2024.
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