Auf diese Weise ist der tiefe, das ganze französische Staatsleben durchziehende Widerspruch entstanden, der es in so bestimmter Weise neben England und Deutschland charakterisirt. Es ist das Land, in welchem die staatsbürgerliche Gesellschaft herrscht, ohne eine ihr ent- sprechende Selbstverwaltung zu besitzen, ja in welchem die Negation der letzteren als eine Bedingung der Herrschaft der ersteren erscheint. Die französische Revolution hat den socialen Inhalt der ört- lichen Selbstverwaltung total geändert, aber die Beziehung derselben zur Regierung bestehen lassen. Wir dürfen hier auf das verweisen, was wir bereits oben als den Geist der französischen Selbstverwaltung bezeichnet haben, die Scheidung der Action, welche dem Beamtenthum gehört, von der Deliberation, welche den Inhalt der französischen Selbst- verwaltung bildet. Sie ist dadurch nicht das Rechtsleben einer orga- nischen Entwicklung, sondern der formelle Ausdruck eines abstrakten Princips geworden. Sie ist ein Mechanismus, statt ein Organismus zu sein. Sie ist unfähig, die Besonderheiten des wirklichen Lebens zur Einheit zu gestalten, ohne sie zu zerstören. Ihre örtliche Selbstverwal- tung besteht nicht aus Rechtskörpern, sondern aus Staatsanstalten.
Eben deßhalb ist dieselbe zwar durchsichtig und klar genug, aber sie ist kein lebenvolles Ganze. Jede Selbständigkeit des Theiles ist der Einheit zum Opfer gebracht; jeder Theil ist ein mechanisches Glied, und die Darstellung dieser eigenthümlichen Verbindung vom freien Staats- bürgerthum und herrschender Staatsgewalt ist daher, so wie man leitende Prinzipien einmal erkannt hat, sehr leicht auf ihre allgemein gültigen Formeln auch in der örtlichen Selbstverwaltung zurückzuführen.
Diese Principien sind nun folgende. Die völlige Herrschaft der staatsbürgerlichen Gleichheit macht den Gedanken eines historischen, dem Willen der Gesetzgebung gegenüber selbständigen Rechts, und damit einen auf diesem Recht gebauten Unterschied von Stadt und Land unmöglich. Aus derselben Quelle stammt der Grundsatz, daß Grund- besitz und gewerblicher Besitz durchaus gleichartig seien, und mithin die Theilbarkeit des erstern jeden Unterschied zwischen beiden, so fern der- selbe noch den Elementen der ständischen Welt Vorschub leisten konnte, vernichten müsse. Stadt und Land bedeuten daher weder historisch noch social verschiedene Verwaltungskörper; sie verschwinden beide in dem gemeinsamen Begriff eines Verwaltungsgebietes.
Sind sie nun auf diese Weise wesentlich administrative Eintheilungen, so ist auch ihr System ein höchst einfaches. Dasselbe entsteht aus einer administrativen Auftheilung der Departements, in denen man schon selbst kaum die Spuren der Landschaft wiederfindet, in ein System von in einander geschachtelten Gebieten, welche die Grundbegriffe der örtlichen
Auf dieſe Weiſe iſt der tiefe, das ganze franzöſiſche Staatsleben durchziehende Widerſpruch entſtanden, der es in ſo beſtimmter Weiſe neben England und Deutſchland charakteriſirt. Es iſt das Land, in welchem die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft herrſcht, ohne eine ihr ent- ſprechende Selbſtverwaltung zu beſitzen, ja in welchem die Negation der letzteren als eine Bedingung der Herrſchaft der erſteren erſcheint. Die franzöſiſche Revolution hat den ſocialen Inhalt der ört- lichen Selbſtverwaltung total geändert, aber die Beziehung derſelben zur Regierung beſtehen laſſen. Wir dürfen hier auf das verweiſen, was wir bereits oben als den Geiſt der franzöſiſchen Selbſtverwaltung bezeichnet haben, die Scheidung der Action, welche dem Beamtenthum gehört, von der Deliberation, welche den Inhalt der franzöſiſchen Selbſt- verwaltung bildet. Sie iſt dadurch nicht das Rechtsleben einer orga- niſchen Entwicklung, ſondern der formelle Ausdruck eines abſtrakten Princips geworden. Sie iſt ein Mechanismus, ſtatt ein Organismus zu ſein. Sie iſt unfähig, die Beſonderheiten des wirklichen Lebens zur Einheit zu geſtalten, ohne ſie zu zerſtören. Ihre örtliche Selbſtverwal- tung beſteht nicht aus Rechtskörpern, ſondern aus Staatsanſtalten.
Eben deßhalb iſt dieſelbe zwar durchſichtig und klar genug, aber ſie iſt kein lebenvolles Ganze. Jede Selbſtändigkeit des Theiles iſt der Einheit zum Opfer gebracht; jeder Theil iſt ein mechaniſches Glied, und die Darſtellung dieſer eigenthümlichen Verbindung vom freien Staats- bürgerthum und herrſchender Staatsgewalt iſt daher, ſo wie man leitende Prinzipien einmal erkannt hat, ſehr leicht auf ihre allgemein gültigen Formeln auch in der örtlichen Selbſtverwaltung zurückzuführen.
Dieſe Principien ſind nun folgende. Die völlige Herrſchaft der ſtaatsbürgerlichen Gleichheit macht den Gedanken eines hiſtoriſchen, dem Willen der Geſetzgebung gegenüber ſelbſtändigen Rechts, und damit einen auf dieſem Recht gebauten Unterſchied von Stadt und Land unmöglich. Aus derſelben Quelle ſtammt der Grundſatz, daß Grund- beſitz und gewerblicher Beſitz durchaus gleichartig ſeien, und mithin die Theilbarkeit des erſtern jeden Unterſchied zwiſchen beiden, ſo fern der- ſelbe noch den Elementen der ſtändiſchen Welt Vorſchub leiſten konnte, vernichten müſſe. Stadt und Land bedeuten daher weder hiſtoriſch noch ſocial verſchiedene Verwaltungskörper; ſie verſchwinden beide in dem gemeinſamen Begriff eines Verwaltungsgebietes.
Sind ſie nun auf dieſe Weiſe weſentlich adminiſtrative Eintheilungen, ſo iſt auch ihr Syſtem ein höchſt einfaches. Daſſelbe entſteht aus einer adminiſtrativen Auftheilung der Departements, in denen man ſchon ſelbſt kaum die Spuren der Landſchaft wiederfindet, in ein Syſtem von in einander geſchachtelten Gebieten, welche die Grundbegriffe der örtlichen
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Auf dieſe Weiſe iſt der tiefe, das ganze franzöſiſche Staatsleben
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welchem die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft herrſcht, ohne eine ihr ent-
ſprechende Selbſtverwaltung zu beſitzen, ja in welchem die
Negation der letzteren als eine Bedingung der Herrſchaft der erſteren
erſcheint. Die franzöſiſche Revolution hat den ſocialen Inhalt der ört-
lichen Selbſtverwaltung total geändert, aber die Beziehung derſelben
zur Regierung beſtehen laſſen. Wir dürfen hier auf das verweiſen,
was wir bereits oben als den Geiſt der franzöſiſchen Selbſtverwaltung
bezeichnet haben, die Scheidung der Action, welche dem Beamtenthum
gehört, von der Deliberation, welche den Inhalt der franzöſiſchen Selbſt-
verwaltung bildet. Sie iſt dadurch nicht das Rechtsleben einer orga-
niſchen Entwicklung, ſondern der formelle Ausdruck eines abſtrakten
Princips geworden. Sie iſt ein Mechanismus, ſtatt ein Organismus
zu ſein. Sie iſt unfähig, die Beſonderheiten des wirklichen Lebens zur
Einheit zu geſtalten, ohne ſie zu zerſtören. Ihre örtliche Selbſtverwal-
tung beſteht nicht aus Rechtskörpern, ſondern aus Staatsanſtalten.
Eben deßhalb iſt dieſelbe zwar durchſichtig und klar genug, aber
ſie iſt kein lebenvolles Ganze. Jede Selbſtändigkeit des Theiles iſt der
Einheit zum Opfer gebracht; jeder Theil iſt ein mechaniſches Glied, und
die Darſtellung dieſer eigenthümlichen Verbindung vom freien Staats-
bürgerthum und herrſchender Staatsgewalt iſt daher, ſo wie man leitende
Prinzipien einmal erkannt hat, ſehr leicht auf ihre allgemein gültigen
Formeln auch in der örtlichen Selbſtverwaltung zurückzuführen.
Dieſe Principien ſind nun folgende. Die völlige Herrſchaft der
ſtaatsbürgerlichen Gleichheit macht den Gedanken eines hiſtoriſchen, dem
Willen der Geſetzgebung gegenüber ſelbſtändigen Rechts, und damit
einen auf dieſem Recht gebauten Unterſchied von Stadt und Land
unmöglich. Aus derſelben Quelle ſtammt der Grundſatz, daß Grund-
beſitz und gewerblicher Beſitz durchaus gleichartig ſeien, und mithin die
Theilbarkeit des erſtern jeden Unterſchied zwiſchen beiden, ſo fern der-
ſelbe noch den Elementen der ſtändiſchen Welt Vorſchub leiſten konnte,
vernichten müſſe. Stadt und Land bedeuten daher weder hiſtoriſch noch
ſocial verſchiedene Verwaltungskörper; ſie verſchwinden beide in dem
gemeinſamen Begriff eines Verwaltungsgebietes.
Sind ſie nun auf dieſe Weiſe weſentlich adminiſtrative Eintheilungen,
ſo iſt auch ihr Syſtem ein höchſt einfaches. Daſſelbe entſteht aus einer
adminiſtrativen Auftheilung der Departements, in denen man ſchon
ſelbſt kaum die Spuren der Landſchaft wiederfindet, in ein Syſtem von
in einander geſchachtelten Gebieten, welche die Grundbegriffe der örtlichen
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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865, S. 478. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre01_1865/502>, abgerufen am 22.11.2024.
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