Vordergrund treten. Denn die Grundentlastung ist es erst, welche das selbständige Gemeindebürgerthum der Landgemeinde geschaffen hat. Daher denn die ganz naturgemäße Erscheinung, daß die Grundentlastung mit der Verfassungsbildung gleichen Schritt hält, aber freilich in der Weise, wie es sich nunmehr von selbst versteht, daß sie erst zur wirklichen Ausführung gelangt, wo die Volksvertretung den Charakter der Ständeordnung verliert und eine staatsbürgerliche (repräsentative sagt man, als ob die Stände nicht eben so gut etwas repräsentirten) wird. Erst durch sie ist dann die oben bezeichnete Be- wegung -- bis auf Einen Punkt -- abgeschlossen, welche die Principien der Stadtgemeinde in den Landgemeinden zur Geltung bringen will. Die Unterschiede in der Grundentlastung werden dadurch zum Ausdruck der Anerkennung des staatsbürgerlichen Princips für die länd- lichen Verhältnisse in dem Grundbesitz. Dadurch gewinnt die Darstellung des letztern Gestalt; und es liegt, nahe die Lehre von den Reallasten als die weitere Erfüllung desselben Verhältnisses zu erkennen. Offenbar hätte Friedlieb in seiner "Rechtstheorie der Real- lasten," die Judeich in seiner Grundentlastung mit großem Unrecht nicht benützt hat, durch die Verbindung derselben mit der Geschichte der Landgemeinde viel mehr gewonnen als durch die juristische Untersuchung der Geßler'schen Theorie und der Frage nach Dinglichkeit oder Nicht- dinglichkeit, obwohl übrigens die schöne Arbeit jedenfalls als ein wesent- licher Fortschritt in der freieren, historischen Auffassung anzusehen ist; denn es ist kein Zweifel, daß Landgemeinde, Grundentlastung und Real- last künftig ihre wahre Erklärung nur durch die Entwicklungsgeschichte des Princips der staatsbürgerlichen Gesellschaft innerhalb des Grund- besitzes finden werden. Zunächst aber ergibt sich, daß die Geschichte der Grundentlastung dieselben Hauptepochen hat, wie die der Verfassun- gen und Landgemeindeordnungen. Wir müssen die Darstellung derselben in die innere Verwaltungslehre verweisen, und bemerken nur hier, daß die meisten Staaten die Grundentlastung im Princip nach 1820 und 1830 anerkennen, aber erst nach 1848 wirklich ausführen -- eine den obigen Folgen vollkommen entsprechende Thatsache. Das was sie her- vorruft, ist aber das selbständige Gemeindebürgerthum der Land- gemeinde; und damit scheint jetzt durch die Aufhebung des Unterschiedes zwischen Land- und Stadtgemeinde das Gemeindewesen Deutschlands in juristischer und socialer Beziehung ein gleichartiges geworden zu sein.
Dennoch war das nicht der Fall. Die Freiheit der Verwaltung, welche die Stadtgemeinden genossen, einerseits, und die gesellschaftliche Gleichstellung aller Gemeindekörper andererseits, hatten die alte Aristo- telische Idee, daß der Staat eine Einheit von Gemeinden sei, zu einem
Stein, die Verwaltungslehre. I. 32
Vordergrund treten. Denn die Grundentlaſtung iſt es erſt, welche das ſelbſtändige Gemeindebürgerthum der Landgemeinde geſchaffen hat. Daher denn die ganz naturgemäße Erſcheinung, daß die Grundentlaſtung mit der Verfaſſungsbildung gleichen Schritt hält, aber freilich in der Weiſe, wie es ſich nunmehr von ſelbſt verſteht, daß ſie erſt zur wirklichen Ausführung gelangt, wo die Volksvertretung den Charakter der Ständeordnung verliert und eine ſtaatsbürgerliche (repräſentative ſagt man, als ob die Stände nicht eben ſo gut etwas repräſentirten) wird. Erſt durch ſie iſt dann die oben bezeichnete Be- wegung — bis auf Einen Punkt — abgeſchloſſen, welche die Principien der Stadtgemeinde in den Landgemeinden zur Geltung bringen will. Die Unterſchiede in der Grundentlaſtung werden dadurch zum Ausdruck der Anerkennung des ſtaatsbürgerlichen Princips für die länd- lichen Verhältniſſe in dem Grundbeſitz. Dadurch gewinnt die Darſtellung des letztern Geſtalt; und es liegt, nahe die Lehre von den Reallaſten als die weitere Erfüllung deſſelben Verhältniſſes zu erkennen. Offenbar hätte Friedlieb in ſeiner „Rechtstheorie der Real- laſten,“ die Judeich in ſeiner Grundentlaſtung mit großem Unrecht nicht benützt hat, durch die Verbindung derſelben mit der Geſchichte der Landgemeinde viel mehr gewonnen als durch die juriſtiſche Unterſuchung der Geßler’ſchen Theorie und der Frage nach Dinglichkeit oder Nicht- dinglichkeit, obwohl übrigens die ſchöne Arbeit jedenfalls als ein weſent- licher Fortſchritt in der freieren, hiſtoriſchen Auffaſſung anzuſehen iſt; denn es iſt kein Zweifel, daß Landgemeinde, Grundentlaſtung und Real- laſt künftig ihre wahre Erklärung nur durch die Entwicklungsgeſchichte des Princips der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft innerhalb des Grund- beſitzes finden werden. Zunächſt aber ergibt ſich, daß die Geſchichte der Grundentlaſtung dieſelben Hauptepochen hat, wie die der Verfaſſun- gen und Landgemeindeordnungen. Wir müſſen die Darſtellung derſelben in die innere Verwaltungslehre verweiſen, und bemerken nur hier, daß die meiſten Staaten die Grundentlaſtung im Princip nach 1820 und 1830 anerkennen, aber erſt nach 1848 wirklich ausführen — eine den obigen Folgen vollkommen entſprechende Thatſache. Das was ſie her- vorruft, iſt aber das ſelbſtändige Gemeindebürgerthum der Land- gemeinde; und damit ſcheint jetzt durch die Aufhebung des Unterſchiedes zwiſchen Land- und Stadtgemeinde das Gemeindeweſen Deutſchlands in juriſtiſcher und ſocialer Beziehung ein gleichartiges geworden zu ſein.
Dennoch war das nicht der Fall. Die Freiheit der Verwaltung, welche die Stadtgemeinden genoſſen, einerſeits, und die geſellſchaftliche Gleichſtellung aller Gemeindekörper andererſeits, hatten die alte Ariſto- teliſche Idee, daß der Staat eine Einheit von Gemeinden ſei, zu einem
Stein, die Verwaltungslehre. I. 32
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Vordergrund treten. Denn die Grundentlaſtung iſt es erſt, welche
das ſelbſtändige Gemeindebürgerthum der Landgemeinde
geſchaffen hat. Daher denn die ganz naturgemäße Erſcheinung, daß
die Grundentlaſtung mit der Verfaſſungsbildung gleichen Schritt hält,
aber freilich in der Weiſe, wie es ſich nunmehr von ſelbſt verſteht, daß
ſie erſt zur wirklichen Ausführung gelangt, wo die Volksvertretung
den Charakter der Ständeordnung verliert und eine ſtaatsbürgerliche
(repräſentative ſagt man, als ob die Stände nicht eben ſo gut etwas
repräſentirten) wird. Erſt durch ſie iſt dann die oben bezeichnete Be-
wegung — bis auf Einen Punkt — abgeſchloſſen, welche die Principien
der Stadtgemeinde in den Landgemeinden zur Geltung bringen will.
Die Unterſchiede in der Grundentlaſtung werden dadurch zum Ausdruck der
Anerkennung des ſtaatsbürgerlichen Princips für die länd-
lichen Verhältniſſe in dem Grundbeſitz. Dadurch gewinnt
die Darſtellung des letztern Geſtalt; und es liegt, nahe die Lehre von
den Reallaſten als die weitere Erfüllung deſſelben Verhältniſſes zu
erkennen. Offenbar hätte Friedlieb in ſeiner „Rechtstheorie der Real-
laſten,“ die Judeich in ſeiner Grundentlaſtung mit großem Unrecht nicht
benützt hat, durch die Verbindung derſelben mit der Geſchichte der
Landgemeinde viel mehr gewonnen als durch die juriſtiſche Unterſuchung
der Geßler’ſchen Theorie und der Frage nach Dinglichkeit oder Nicht-
dinglichkeit, obwohl übrigens die ſchöne Arbeit jedenfalls als ein weſent-
licher Fortſchritt in der freieren, hiſtoriſchen Auffaſſung anzuſehen iſt;
denn es iſt kein Zweifel, daß Landgemeinde, Grundentlaſtung und Real-
laſt künftig ihre wahre Erklärung nur durch die Entwicklungsgeſchichte
des Princips der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft innerhalb des Grund-
beſitzes finden werden. Zunächſt aber ergibt ſich, daß die Geſchichte
der Grundentlaſtung dieſelben Hauptepochen hat, wie die der Verfaſſun-
gen und Landgemeindeordnungen. Wir müſſen die Darſtellung derſelben
in die innere Verwaltungslehre verweiſen, und bemerken nur hier, daß
die meiſten Staaten die Grundentlaſtung im Princip nach 1820 und
1830 anerkennen, aber erſt nach 1848 wirklich ausführen — eine den
obigen Folgen vollkommen entſprechende Thatſache. Das was ſie her-
vorruft, iſt aber das ſelbſtändige Gemeindebürgerthum der Land-
gemeinde; und damit ſcheint jetzt durch die Aufhebung des Unterſchiedes
zwiſchen Land- und Stadtgemeinde das Gemeindeweſen Deutſchlands
in juriſtiſcher und ſocialer Beziehung ein gleichartiges geworden zu ſein.
Dennoch war das nicht der Fall. Die Freiheit der Verwaltung,
welche die Stadtgemeinden genoſſen, einerſeits, und die geſellſchaftliche
Gleichſtellung aller Gemeindekörper andererſeits, hatten die alte Ariſto-
teliſche Idee, daß der Staat eine Einheit von Gemeinden ſei, zu einem
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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865, S. 497. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre01_1865/521>, abgerufen am 22.11.2024.
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