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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865.

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zugleich Gemeindeordnungen entstehen sehen, wie in Oesterreich, Preußen,
Oldenburg, -- oder wesentliche Aenderungen derselben erscheinen, über
deren Bedeutung wir sogleich zu reden haben werden. Die Bedeutung
dieser Thatsache liegt nun darin, daß die Gemeindeordnungen damit
gleich anfangs als Ausdruck derselben Richtung auftreten, welche die
Verfassung selbst erringt -- das Vorwärtsschreiten der staatsbürgerlichen
Gesellschaft. Durch den Anschluß der Gemeindeordnungen an die Ver-
fassungen entstehen daher in ganz Deutschland zwei ganz allgemeine
Arten von Gemeinderechten, das historische und das verfassungsmäßige.
Das erste hat seinen Sitz im Norden, das zweite im Süden; das Jahr
1830 ist der Zeitpunkt, wo der Sieg des letzteren über das erstere ent-
schieden wird; fast nur Preußen und Oesterreich weigern ihren Ländern
mit der Verfassung zugleich die neue Gemeindeordnung, bis mit 1848
auch diese Hauptstaaten beides zugleich geben. Und so ist das gesammte
Gemeinderecht jetzt wenigstens dem Princip nach ein verfassungsmäßiges.

Aber zunächst allerdings auch nur dem Princip nach. Denn wäh-
rend das Gemeinderecht in den Städten sehr leicht durchgeführt werden
konnte, tritt auf dem flachen Lande die herrschaftliche Abhängigkeit des
Bauern in Zehent, Frohn und Obereigenthum mit seinen Dienstbar-
keiten ihm entgegen. Das Gemeinderecht der neuen Zeit ist nicht denkbar
ohne die persönliche Unabhängigkeit des einen Gemeindegliedes von dem
andern. Die aber besteht hier nicht; der Gutsherr ist noch immer
wirklicher Herr; sein Recht ist unbestritten; ihm gegenüber tritt das
Princip der freien Gemeindebildung, und jetzt beginnt jene merkwürdige
Bewegung, welche eigentlich als die entscheidende für das innere Leben
Deutschlands angesehen werden muß. So lange jene persönliche, wenn
auch nur noch in wirthschaftlicher Form bestehende Abhängigkeit des
Bauern vom Herrn existirt, ist ein Gemeinderecht unmöglich. Ihre Be-
seitigung ist die erste Bedingung des letzteren; selbst die Verfassung
kann ohne die letztere nicht für die Gemeinde durchgeführt werden.
Diese Beseitigung aber ist die Grundentlastung. Es ist unmöglich,
die Grundentlastung ohne das Gemeinderecht erklären zu wollen -- das
einzige, was wir dem so fleißigen Werke Judeichs vorwerfen möchten
-- und es ist unmöglich, die Gemeindeverhältnisse und namentlich die
Langsamkeit in der Entstehung der Landgemeindeordnungen ohne den
Mangel der Grundentlastung zu verstehen, weßhalb die Darstellungen
des deutschen Staatsrechts, wie Zachariä und Zöpfl, für diese innere
Entwicklungsgeschichte desselben gänzlich unbrauchbar sind. So wie ein-
mal der Grundsatz ausgesprochen war, daß die Gemeinde überhaupt
auf Grund der Selbstverwaltung geordnet sein solle, mußte die Frage
nach der Grundentlastung für die Landgemeinde unabweisbar in den

zugleich Gemeindeordnungen entſtehen ſehen, wie in Oeſterreich, Preußen,
Oldenburg, — oder weſentliche Aenderungen derſelben erſcheinen, über
deren Bedeutung wir ſogleich zu reden haben werden. Die Bedeutung
dieſer Thatſache liegt nun darin, daß die Gemeindeordnungen damit
gleich anfangs als Ausdruck derſelben Richtung auftreten, welche die
Verfaſſung ſelbſt erringt — das Vorwärtsſchreiten der ſtaatsbürgerlichen
Geſellſchaft. Durch den Anſchluß der Gemeindeordnungen an die Ver-
faſſungen entſtehen daher in ganz Deutſchland zwei ganz allgemeine
Arten von Gemeinderechten, das hiſtoriſche und das verfaſſungsmäßige.
Das erſte hat ſeinen Sitz im Norden, das zweite im Süden; das Jahr
1830 iſt der Zeitpunkt, wo der Sieg des letzteren über das erſtere ent-
ſchieden wird; faſt nur Preußen und Oeſterreich weigern ihren Ländern
mit der Verfaſſung zugleich die neue Gemeindeordnung, bis mit 1848
auch dieſe Hauptſtaaten beides zugleich geben. Und ſo iſt das geſammte
Gemeinderecht jetzt wenigſtens dem Princip nach ein verfaſſungsmäßiges.

Aber zunächſt allerdings auch nur dem Princip nach. Denn wäh-
rend das Gemeinderecht in den Städten ſehr leicht durchgeführt werden
konnte, tritt auf dem flachen Lande die herrſchaftliche Abhängigkeit des
Bauern in Zehent, Frohn und Obereigenthum mit ſeinen Dienſtbar-
keiten ihm entgegen. Das Gemeinderecht der neuen Zeit iſt nicht denkbar
ohne die perſönliche Unabhängigkeit des einen Gemeindegliedes von dem
andern. Die aber beſteht hier nicht; der Gutsherr iſt noch immer
wirklicher Herr; ſein Recht iſt unbeſtritten; ihm gegenüber tritt das
Princip der freien Gemeindebildung, und jetzt beginnt jene merkwürdige
Bewegung, welche eigentlich als die entſcheidende für das innere Leben
Deutſchlands angeſehen werden muß. So lange jene perſönliche, wenn
auch nur noch in wirthſchaftlicher Form beſtehende Abhängigkeit des
Bauern vom Herrn exiſtirt, iſt ein Gemeinderecht unmöglich. Ihre Be-
ſeitigung iſt die erſte Bedingung des letzteren; ſelbſt die Verfaſſung
kann ohne die letztere nicht für die Gemeinde durchgeführt werden.
Dieſe Beſeitigung aber iſt die Grundentlaſtung. Es iſt unmöglich,
die Grundentlaſtung ohne das Gemeinderecht erklären zu wollen — das
einzige, was wir dem ſo fleißigen Werke Judeichs vorwerfen möchten
— und es iſt unmöglich, die Gemeindeverhältniſſe und namentlich die
Langſamkeit in der Entſtehung der Landgemeindeordnungen ohne den
Mangel der Grundentlaſtung zu verſtehen, weßhalb die Darſtellungen
des deutſchen Staatsrechts, wie Zachariä und Zöpfl, für dieſe innere
Entwicklungsgeſchichte deſſelben gänzlich unbrauchbar ſind. So wie ein-
mal der Grundſatz ausgeſprochen war, daß die Gemeinde überhaupt
auf Grund der Selbſtverwaltung geordnet ſein ſolle, mußte die Frage
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[496/0520] zugleich Gemeindeordnungen entſtehen ſehen, wie in Oeſterreich, Preußen, Oldenburg, — oder weſentliche Aenderungen derſelben erſcheinen, über deren Bedeutung wir ſogleich zu reden haben werden. Die Bedeutung dieſer Thatſache liegt nun darin, daß die Gemeindeordnungen damit gleich anfangs als Ausdruck derſelben Richtung auftreten, welche die Verfaſſung ſelbſt erringt — das Vorwärtsſchreiten der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft. Durch den Anſchluß der Gemeindeordnungen an die Ver- faſſungen entſtehen daher in ganz Deutſchland zwei ganz allgemeine Arten von Gemeinderechten, das hiſtoriſche und das verfaſſungsmäßige. Das erſte hat ſeinen Sitz im Norden, das zweite im Süden; das Jahr 1830 iſt der Zeitpunkt, wo der Sieg des letzteren über das erſtere ent- ſchieden wird; faſt nur Preußen und Oeſterreich weigern ihren Ländern mit der Verfaſſung zugleich die neue Gemeindeordnung, bis mit 1848 auch dieſe Hauptſtaaten beides zugleich geben. Und ſo iſt das geſammte Gemeinderecht jetzt wenigſtens dem Princip nach ein verfaſſungsmäßiges. Aber zunächſt allerdings auch nur dem Princip nach. Denn wäh- rend das Gemeinderecht in den Städten ſehr leicht durchgeführt werden konnte, tritt auf dem flachen Lande die herrſchaftliche Abhängigkeit des Bauern in Zehent, Frohn und Obereigenthum mit ſeinen Dienſtbar- keiten ihm entgegen. Das Gemeinderecht der neuen Zeit iſt nicht denkbar ohne die perſönliche Unabhängigkeit des einen Gemeindegliedes von dem andern. Die aber beſteht hier nicht; der Gutsherr iſt noch immer wirklicher Herr; ſein Recht iſt unbeſtritten; ihm gegenüber tritt das Princip der freien Gemeindebildung, und jetzt beginnt jene merkwürdige Bewegung, welche eigentlich als die entſcheidende für das innere Leben Deutſchlands angeſehen werden muß. So lange jene perſönliche, wenn auch nur noch in wirthſchaftlicher Form beſtehende Abhängigkeit des Bauern vom Herrn exiſtirt, iſt ein Gemeinderecht unmöglich. Ihre Be- ſeitigung iſt die erſte Bedingung des letzteren; ſelbſt die Verfaſſung kann ohne die letztere nicht für die Gemeinde durchgeführt werden. Dieſe Beſeitigung aber iſt die Grundentlaſtung. Es iſt unmöglich, die Grundentlaſtung ohne das Gemeinderecht erklären zu wollen — das einzige, was wir dem ſo fleißigen Werke Judeichs vorwerfen möchten — und es iſt unmöglich, die Gemeindeverhältniſſe und namentlich die Langſamkeit in der Entſtehung der Landgemeindeordnungen ohne den Mangel der Grundentlaſtung zu verſtehen, weßhalb die Darſtellungen des deutſchen Staatsrechts, wie Zachariä und Zöpfl, für dieſe innere Entwicklungsgeſchichte deſſelben gänzlich unbrauchbar ſind. So wie ein- mal der Grundſatz ausgeſprochen war, daß die Gemeinde überhaupt auf Grund der Selbſtverwaltung geordnet ſein ſolle, mußte die Frage nach der Grundentlaſtung für die Landgemeinde unabweisbar in den

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865, S. 496. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre01_1865/520>, abgerufen am 22.11.2024.