Entwicklung in der Deutschland eigenthümlichen Vorstellung, welche die Selbstverwaltung mit der Ortsgemeinde identificirt. Wir haben gesehen, daß weder England noch Frankreich ihre Selbstverwal- tung auf die Ortsgemeinde begränzen. In Deutschland war das da- durch entstanden, daß bei der großen Macht und der rechtlichen Selb- ständigkeit der Grundherren die staatsbürgerliche Gesellschaftsordnung überhaupt nur in den Städten zu rechter Geltung gelangt war, wäh- rend andererseits die über das Weichbild der Städte hinausgehenden Angelegenheiten gerade wegen der so tief greifenden socialen Unterschiede zwischen Stadt und Land von keinem für beide gemeinschaftlichen Organe der Selbstverwaltung verwaltet werden konnten. Dadurch war es gekommen, daß dasjenige, was wir als den Inhalt der Verwaltungs- gemeinden in England bezeichnen, in ganz Deutschland durch die Amts- körper vollzogen ward, die in der früher angegebenen Weise sich eben dadurch eines jeden Theiles der Gemeindeverwaltung bemächtigten, der mehr als das Weichbild der Ortsgemeinde umfaßte. Auch das Auftreten der Stadtgemeinden und die mit ihnen entstehende Selbstverwaltung der Städte, die sich -- wenigstens allmählig und in gewissen Haupt- punkten (s. unten) -- von der Amtsverwaltung unabhängig machten, änderte daran nichts wesentliches für das flache Land, da namentlich bei kleinern Städten alle wichtigeren Verwaltungsaufgaben stets Städte und Land zugleich umfaßten. Das "Gemeinderecht" erschien daher zu- nächst als die Unabhängigkeit vom Amt und der amtlichen Verwaltung; es war vorzugsweise die negative Seite der Selbstverwaltung, und konnte sich damit genügen lassen, so lange die weitere Entwicklung der letzteren nicht den Begriff der Verwaltungsgemeinde erzeugte. So wie aber mit der allmählig entstehenden Unabhängigkeit des kleinen Grund- besitzes das Bedürfniß nach allgemeiner Theilnahme an der Verwaltung entsteht, tritt die Nothwendigkeit ein, eine Form zu finden, in welcher jene verschiedenartigen Gemeindegestaltungen, da man ihre innere Ver- fassung nicht ändern konnte, in einen gemeinsamen größeren Körper der Selbstverwaltung zusammentreten. Und hier wäre nun das eng- lische System der eigentlichen Verwaltungsgemeinden dasjenige gewesen, welches dem deutschen Wesen ohne allen Zweifel am besten entsprochen hätte. Allein dem stand ein anderes entgegen. Die Verwaltungs- gemeinde ist nicht ausführbar, ohne daß sich dieselbe wie in England auch selbst für ihren Verwaltungszweck besteuert. Die amtliche Ver- waltung, welche bis dahin jede allgemeine Staatsaufgabe vollzogen, hatte eben deßhalb auch die ganze Besteuerung für solche Zwecke schon lange zu Staatssteuern gemacht. Man hätte daher mit den admini- strativen Aufgaben auch die darauf bezüglichen Steuern dem Staate
Entwicklung in der Deutſchland eigenthümlichen Vorſtellung, welche die Selbſtverwaltung mit der Ortsgemeinde identificirt. Wir haben geſehen, daß weder England noch Frankreich ihre Selbſtverwal- tung auf die Ortsgemeinde begränzen. In Deutſchland war das da- durch entſtanden, daß bei der großen Macht und der rechtlichen Selb- ſtändigkeit der Grundherren die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaftsordnung überhaupt nur in den Städten zu rechter Geltung gelangt war, wäh- rend andererſeits die über das Weichbild der Städte hinausgehenden Angelegenheiten gerade wegen der ſo tief greifenden ſocialen Unterſchiede zwiſchen Stadt und Land von keinem für beide gemeinſchaftlichen Organe der Selbſtverwaltung verwaltet werden konnten. Dadurch war es gekommen, daß dasjenige, was wir als den Inhalt der Verwaltungs- gemeinden in England bezeichnen, in ganz Deutſchland durch die Amts- körper vollzogen ward, die in der früher angegebenen Weiſe ſich eben dadurch eines jeden Theiles der Gemeindeverwaltung bemächtigten, der mehr als das Weichbild der Ortsgemeinde umfaßte. Auch das Auftreten der Stadtgemeinden und die mit ihnen entſtehende Selbſtverwaltung der Städte, die ſich — wenigſtens allmählig und in gewiſſen Haupt- punkten (ſ. unten) — von der Amtsverwaltung unabhängig machten, änderte daran nichts weſentliches für das flache Land, da namentlich bei kleinern Städten alle wichtigeren Verwaltungsaufgaben ſtets Städte und Land zugleich umfaßten. Das „Gemeinderecht“ erſchien daher zu- nächſt als die Unabhängigkeit vom Amt und der amtlichen Verwaltung; es war vorzugsweiſe die negative Seite der Selbſtverwaltung, und konnte ſich damit genügen laſſen, ſo lange die weitere Entwicklung der letzteren nicht den Begriff der Verwaltungsgemeinde erzeugte. So wie aber mit der allmählig entſtehenden Unabhängigkeit des kleinen Grund- beſitzes das Bedürfniß nach allgemeiner Theilnahme an der Verwaltung entſteht, tritt die Nothwendigkeit ein, eine Form zu finden, in welcher jene verſchiedenartigen Gemeindegeſtaltungen, da man ihre innere Ver- faſſung nicht ändern konnte, in einen gemeinſamen größeren Körper der Selbſtverwaltung zuſammentreten. Und hier wäre nun das eng- liſche Syſtem der eigentlichen Verwaltungsgemeinden dasjenige geweſen, welches dem deutſchen Weſen ohne allen Zweifel am beſten entſprochen hätte. Allein dem ſtand ein anderes entgegen. Die Verwaltungs- gemeinde iſt nicht ausführbar, ohne daß ſich dieſelbe wie in England auch ſelbſt für ihren Verwaltungszweck beſteuert. Die amtliche Ver- waltung, welche bis dahin jede allgemeine Staatsaufgabe vollzogen, hatte eben deßhalb auch die ganze Beſteuerung für ſolche Zwecke ſchon lange zu Staatsſteuern gemacht. Man hätte daher mit den admini- ſtrativen Aufgaben auch die darauf bezüglichen Steuern dem Staate
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Entwicklung in der Deutſchland eigenthümlichen Vorſtellung, welche die
Selbſtverwaltung mit der Ortsgemeinde identificirt. Wir
haben geſehen, daß weder England noch Frankreich ihre Selbſtverwal-
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durch entſtanden, daß bei der großen Macht und der rechtlichen Selb-
ſtändigkeit der Grundherren die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaftsordnung
überhaupt nur in den Städten zu rechter Geltung gelangt war, wäh-
rend andererſeits die über das Weichbild der Städte hinausgehenden
Angelegenheiten gerade wegen der ſo tief greifenden ſocialen Unterſchiede
zwiſchen Stadt und Land von keinem für beide gemeinſchaftlichen
Organe der Selbſtverwaltung verwaltet werden konnten. Dadurch war
es gekommen, daß dasjenige, was wir als den Inhalt der Verwaltungs-
gemeinden in England bezeichnen, in ganz Deutſchland durch die Amts-
körper vollzogen ward, die in der früher angegebenen Weiſe ſich eben
dadurch eines jeden Theiles der Gemeindeverwaltung bemächtigten, der
mehr als das Weichbild der Ortsgemeinde umfaßte. Auch das Auftreten
der Stadtgemeinden und die mit ihnen entſtehende Selbſtverwaltung
der Städte, die ſich — wenigſtens allmählig und in gewiſſen Haupt-
punkten (ſ. unten) — von der Amtsverwaltung unabhängig machten,
änderte daran nichts weſentliches für das flache Land, da namentlich
bei kleinern Städten alle wichtigeren Verwaltungsaufgaben ſtets Städte
und Land zugleich umfaßten. Das „Gemeinderecht“ erſchien daher zu-
nächſt als die Unabhängigkeit vom Amt und der amtlichen Verwaltung;
es war vorzugsweiſe die negative Seite der Selbſtverwaltung, und
konnte ſich damit genügen laſſen, ſo lange die weitere Entwicklung der
letzteren nicht den Begriff der Verwaltungsgemeinde erzeugte. So wie
aber mit der allmählig entſtehenden Unabhängigkeit des kleinen Grund-
beſitzes das Bedürfniß nach allgemeiner Theilnahme an der Verwaltung
entſteht, tritt die Nothwendigkeit ein, eine Form zu finden, in welcher
jene verſchiedenartigen Gemeindegeſtaltungen, da man ihre innere Ver-
faſſung nicht ändern konnte, in einen gemeinſamen größeren Körper
der Selbſtverwaltung zuſammentreten. Und hier wäre nun das eng-
liſche Syſtem der eigentlichen Verwaltungsgemeinden dasjenige geweſen,
welches dem deutſchen Weſen ohne allen Zweifel am beſten entſprochen
hätte. Allein dem ſtand ein anderes entgegen. Die Verwaltungs-
gemeinde iſt nicht ausführbar, ohne daß ſich dieſelbe wie in England
auch ſelbſt für ihren Verwaltungszweck beſteuert. Die amtliche Ver-
waltung, welche bis dahin jede allgemeine Staatsaufgabe vollzogen,
hatte eben deßhalb auch die ganze Beſteuerung für ſolche Zwecke ſchon
lange zu Staatsſteuern gemacht. Man hätte daher mit den admini-
ſtrativen Aufgaben auch die darauf bezüglichen Steuern dem Staate
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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865, S. 500. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre01_1865/524>, abgerufen am 22.11.2024.
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