wieder entnehmen müssen. Das erschien unthunlich. Eine eigentliche Verwaltungsgemeinde als organisch selbständiges Glied der Selbstver- waltung kam daher nirgends zu Stande, denn auch die Aemter oppo- nirten sich, zum Theil sogar mit der offen ausgesprochenen Behauptung, daß die Gemeinden "nicht fähig seien," wichtigere Verwaltungsaufgaben zu leiten. Es war damit gewiß, daß innerhalb der Ortsgemeinde, namentlich der ländlichen, die Lösung der Frage nicht zu finden war. Man mußte über sie hinausgehen. So blieb nur Eins übrig, um die örtliche Selbstverwaltung auch auf dem Lande möglich zu machen. Das war die Uebertragung der alten Landschaften ihrer Bildungen und ihrer Rechte auf eine Gemeinschaft der Gemeinden, oder die Bildung von ständischen Kreisgemeinden. Diese ständischen Kreisgemeinden hatten naturgemäß zu ihrem Substrat nicht die einzelnen Staatsbürger in den einzelnen Gemeinden, wie in England, und auch nicht bloß die Gemeinden als solche, wie das Arrondissement und der Canton, sondern die Gemeinden und die Reste der ständischen Verwaltungskörper, die ständischen Herrschaften; und eben darum erscheinen sie auch nicht als Gemeinden im staatsbürgerlichen Sinne des Wortes, sondern als Kreisstände, oder was im Wesen dasselbe, und nur der Form nach verschieden ist, als Provinzialstände. Auf diese Weise bildete sich das zweite große Element in der deutschen örtlichen Selbstverwaltung, den Uebergang von der ständischen zur staatsbürgerlichen Gesellschaft im Gemeindewesen vertretend; aber auch damit ist das Bild nicht einmal in seinen Grundzügen fertig. Denn bei aller Beschränkung der ört- lichen Selbstverwaltung auf den Begriff und die Gränzen der Orts- gemeinde gab es dennoch eine Form, in welcher wir, ganz wie in England, die reine Verwaltungsgemeinde auftreten sehen. Das ist die Kirchengemeinde. Sie umfaßt eine, meist historisch bestimmte Anzahl von Ortsgemeinden; sie hat ihre eigene Verfassung und Verwaltung, aber auch diese ist mannigfach eine ständische durch das herrschaftliche Kirchenpatronat, und andererseits entwickelt sich aus ihr nicht wie in England eine Reihe von Verwaltungsgemeinden, sondern sie bleibt ganz auf die Kirche beschränkt, hauptsächlich weil die beiden großen Aufgaben, die sich an das Kirchenwesen und seine Verwaltung in natürlicher Weise anschließen, das Armenwesen und das Schulwesen, wieder zur Sache der Ortsgemeinden werden, wozu dann wieder die noch ganz ständischen, zum Theil höchst engherzigen Begriffe der Zunft- rechte und der Heimathsrechte mit der großen Beschränkung der Frei- zügigkeit mitwirken. Viel hat natürlich zu dieser vom übrigen Gemeinde- wesen zum Theil scharf geschiedenen Stellung der Kirchengemeinde auch die Verschiedenheit der Confession beigetragen, welche eine Verschmelzung
wieder entnehmen müſſen. Das erſchien unthunlich. Eine eigentliche Verwaltungsgemeinde als organiſch ſelbſtändiges Glied der Selbſtver- waltung kam daher nirgends zu Stande, denn auch die Aemter oppo- nirten ſich, zum Theil ſogar mit der offen ausgeſprochenen Behauptung, daß die Gemeinden „nicht fähig ſeien,“ wichtigere Verwaltungsaufgaben zu leiten. Es war damit gewiß, daß innerhalb der Ortsgemeinde, namentlich der ländlichen, die Löſung der Frage nicht zu finden war. Man mußte über ſie hinausgehen. So blieb nur Eins übrig, um die örtliche Selbſtverwaltung auch auf dem Lande möglich zu machen. Das war die Uebertragung der alten Landſchaften ihrer Bildungen und ihrer Rechte auf eine Gemeinſchaft der Gemeinden, oder die Bildung von ſtändiſchen Kreisgemeinden. Dieſe ſtändiſchen Kreisgemeinden hatten naturgemäß zu ihrem Subſtrat nicht die einzelnen Staatsbürger in den einzelnen Gemeinden, wie in England, und auch nicht bloß die Gemeinden als ſolche, wie das Arrondiſſement und der Canton, ſondern die Gemeinden und die Reſte der ſtändiſchen Verwaltungskörper, die ſtändiſchen Herrſchaften; und eben darum erſcheinen ſie auch nicht als Gemeinden im ſtaatsbürgerlichen Sinne des Wortes, ſondern als Kreisſtände, oder was im Weſen daſſelbe, und nur der Form nach verſchieden iſt, als Provinzialſtände. Auf dieſe Weiſe bildete ſich das zweite große Element in der deutſchen örtlichen Selbſtverwaltung, den Uebergang von der ſtändiſchen zur ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft im Gemeindeweſen vertretend; aber auch damit iſt das Bild nicht einmal in ſeinen Grundzügen fertig. Denn bei aller Beſchränkung der ört- lichen Selbſtverwaltung auf den Begriff und die Gränzen der Orts- gemeinde gab es dennoch eine Form, in welcher wir, ganz wie in England, die reine Verwaltungsgemeinde auftreten ſehen. Das iſt die Kirchengemeinde. Sie umfaßt eine, meiſt hiſtoriſch beſtimmte Anzahl von Ortsgemeinden; ſie hat ihre eigene Verfaſſung und Verwaltung, aber auch dieſe iſt mannigfach eine ſtändiſche durch das herrſchaftliche Kirchenpatronat, und andererſeits entwickelt ſich aus ihr nicht wie in England eine Reihe von Verwaltungsgemeinden, ſondern ſie bleibt ganz auf die Kirche beſchränkt, hauptſächlich weil die beiden großen Aufgaben, die ſich an das Kirchenweſen und ſeine Verwaltung in natürlicher Weiſe anſchließen, das Armenweſen und das Schulweſen, wieder zur Sache der Ortsgemeinden werden, wozu dann wieder die noch ganz ſtändiſchen, zum Theil höchſt engherzigen Begriffe der Zunft- rechte und der Heimathsrechte mit der großen Beſchränkung der Frei- zügigkeit mitwirken. Viel hat natürlich zu dieſer vom übrigen Gemeinde- weſen zum Theil ſcharf geſchiedenen Stellung der Kirchengemeinde auch die Verſchiedenheit der Confeſſion beigetragen, welche eine Verſchmelzung
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[501/0525]
wieder entnehmen müſſen. Das erſchien unthunlich. Eine eigentliche
Verwaltungsgemeinde als organiſch ſelbſtändiges Glied der Selbſtver-
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nirten ſich, zum Theil ſogar mit der offen ausgeſprochenen Behauptung,
daß die Gemeinden „nicht fähig ſeien,“ wichtigere Verwaltungsaufgaben
zu leiten. Es war damit gewiß, daß innerhalb der Ortsgemeinde,
namentlich der ländlichen, die Löſung der Frage nicht zu finden war.
Man mußte über ſie hinausgehen. So blieb nur Eins übrig, um die
örtliche Selbſtverwaltung auch auf dem Lande möglich zu machen. Das
war die Uebertragung der alten Landſchaften ihrer Bildungen und ihrer
Rechte auf eine Gemeinſchaft der Gemeinden, oder die Bildung von
ſtändiſchen Kreisgemeinden. Dieſe ſtändiſchen Kreisgemeinden
hatten naturgemäß zu ihrem Subſtrat nicht die einzelnen Staatsbürger
in den einzelnen Gemeinden, wie in England, und auch nicht bloß die
Gemeinden als ſolche, wie das Arrondiſſement und der Canton, ſondern
die Gemeinden und die Reſte der ſtändiſchen Verwaltungskörper, die
ſtändiſchen Herrſchaften; und eben darum erſcheinen ſie auch nicht als
Gemeinden im ſtaatsbürgerlichen Sinne des Wortes, ſondern als
Kreisſtände, oder was im Weſen daſſelbe, und nur der Form nach
verſchieden iſt, als Provinzialſtände. Auf dieſe Weiſe bildete ſich
das zweite große Element in der deutſchen örtlichen Selbſtverwaltung,
den Uebergang von der ſtändiſchen zur ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft im
Gemeindeweſen vertretend; aber auch damit iſt das Bild nicht einmal
in ſeinen Grundzügen fertig. Denn bei aller Beſchränkung der ört-
lichen Selbſtverwaltung auf den Begriff und die Gränzen der Orts-
gemeinde gab es dennoch eine Form, in welcher wir, ganz wie in
England, die reine Verwaltungsgemeinde auftreten ſehen. Das iſt die
Kirchengemeinde. Sie umfaßt eine, meiſt hiſtoriſch beſtimmte Anzahl
von Ortsgemeinden; ſie hat ihre eigene Verfaſſung und Verwaltung,
aber auch dieſe iſt mannigfach eine ſtändiſche durch das herrſchaftliche
Kirchenpatronat, und andererſeits entwickelt ſich aus ihr nicht wie in
England eine Reihe von Verwaltungsgemeinden, ſondern ſie bleibt
ganz auf die Kirche beſchränkt, hauptſächlich weil die beiden großen
Aufgaben, die ſich an das Kirchenweſen und ſeine Verwaltung in
natürlicher Weiſe anſchließen, das Armenweſen und das Schulweſen,
wieder zur Sache der Ortsgemeinden werden, wozu dann wieder die
noch ganz ſtändiſchen, zum Theil höchſt engherzigen Begriffe der Zunft-
rechte und der Heimathsrechte mit der großen Beſchränkung der Frei-
zügigkeit mitwirken. Viel hat natürlich zu dieſer vom übrigen Gemeinde-
weſen zum Theil ſcharf geſchiedenen Stellung der Kirchengemeinde auch
die Verſchiedenheit der Confeſſion beigetragen, welche eine Verſchmelzung
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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865, S. 501. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre01_1865/525>, abgerufen am 22.11.2024.
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