statt den des befehlenden Rechts annehmen, und es den Selbstverwal- tungskörpern, bez. den Einzelnen überlassen, sich des aus der Gesetz- gebung folgenden Rechts zu bedienen oder nicht, je nachdem seine Interessen es fordern, ohne die Ausführung unbedingt zu befehlen. So ist es z. B. im Gemeindewesen und Grundbuchswesen, und die folgende Verwaltungslehre wird dafür mehrere Beispiele bringen. Allein dieser Standpunkt ist selbst für die englische gesetzmäßige Verordnung nicht durchzuführen. Es gibt Fälle genug, in denen das öffentliche Interesse den Vollzug der gesetzlichen Vorschrift unbedingt fordert. Hier tritt da- her die Gesetzgebung unbedingt auf und schreibt darüber Zwangsmaß- regeln vor, gerade wie die continentale Verordnung, wie z. B. bei der Schifffahrtspolizei, beim Impfungswesen u. a. m. Wo dagegen nicht dringende und unmittelbare Gefahr für das Publikum obwaltet, da greift diese Gesetzgebung zu dem alten germanischen System der Buße und läßt den Einzelnen, der ihr nicht gehorcht, durch den Richter zu einer Geldstrafe verurtheilen. Es gibt daher keine Gesetzgebung der Welt, in welcher so viele Geldstrafen vorkommen, als in England. Durch alles dieß zusammen genommen bietet das Verwaltungsrecht Englands ein ganz anderes Bild, als das des Continents. Es gibt hier kein für den ganzen Staat geltendes verordnungsmäßiges Verwaltungsrecht, sondern dasselbe besteht nur in den Gesetzen. Alle Verordnungen sind durchaus localer Natur. Eine Thätigkeit der Regierung in der Bildung dieses Verwaltungsrechts ist eben deßhalb auch in der Weise gar nicht vorhanden wie auf dem Continent, da das ganze Gebiet der Concessionen und Genehmigungen ihr entgegen ist; sie hat nicht einmal ein Urtheil darüber, ob z. B. ein Verein oder eine Gesellschaft, um die Rechte der juristischen Persönlichkeit zu gewin- nen, die erforderlichen Bedingungen erfüllt hat oder nicht, sondern das Gesetz schreibt sie vor und der Richter entscheidet. Durch diesen gänz- lichen Mangel an jeder Trennung der beiden Grundformen des Ver- waltungsrechts gibt es daher auch in England überhaupt keinen rechten selbständigen Begriff der Verwaltung, und vor allen Dingen gibt es in England keine Theorie des Verwaltungsrechts. England hat das ganze Verwaltungsrecht vielmehr auf das Engste einerseits mit seiner allgemeinen bürgerlichen Rechtswissenschaft in Beziehung auf das gel- tende Recht, und anderseits mit seiner Political Economy in Beziehung auf die Grundsätze verschmolzen. Es gibt keine Literatur des Verwal- tungsrechts wie auf dem Continent, noch weniger eigene Lehranstalten für dasselbe, sondern dem praktischen Bedürfniß der Kenntniß des be- stehenden Rechts wird vielmehr in zweifacher Weise, die von der conti- nentalen zum Theil wesentlich abweicht, genügt. Zuerst werden
ſtatt den des befehlenden Rechts annehmen, und es den Selbſtverwal- tungskörpern, bez. den Einzelnen überlaſſen, ſich des aus der Geſetz- gebung folgenden Rechts zu bedienen oder nicht, je nachdem ſeine Intereſſen es fordern, ohne die Ausführung unbedingt zu befehlen. So iſt es z. B. im Gemeindeweſen und Grundbuchsweſen, und die folgende Verwaltungslehre wird dafür mehrere Beiſpiele bringen. Allein dieſer Standpunkt iſt ſelbſt für die engliſche geſetzmäßige Verordnung nicht durchzuführen. Es gibt Fälle genug, in denen das öffentliche Intereſſe den Vollzug der geſetzlichen Vorſchrift unbedingt fordert. Hier tritt da- her die Geſetzgebung unbedingt auf und ſchreibt darüber Zwangsmaß- regeln vor, gerade wie die continentale Verordnung, wie z. B. bei der Schifffahrtspolizei, beim Impfungsweſen u. a. m. Wo dagegen nicht dringende und unmittelbare Gefahr für das Publikum obwaltet, da greift dieſe Geſetzgebung zu dem alten germaniſchen Syſtem der Buße und läßt den Einzelnen, der ihr nicht gehorcht, durch den Richter zu einer Geldſtrafe verurtheilen. Es gibt daher keine Geſetzgebung der Welt, in welcher ſo viele Geldſtrafen vorkommen, als in England. Durch alles dieß zuſammen genommen bietet das Verwaltungsrecht Englands ein ganz anderes Bild, als das des Continents. Es gibt hier kein für den ganzen Staat geltendes verordnungsmäßiges Verwaltungsrecht, ſondern daſſelbe beſteht nur in den Geſetzen. Alle Verordnungen ſind durchaus localer Natur. Eine Thätigkeit der Regierung in der Bildung dieſes Verwaltungsrechts iſt eben deßhalb auch in der Weiſe gar nicht vorhanden wie auf dem Continent, da das ganze Gebiet der Conceſſionen und Genehmigungen ihr entgegen iſt; ſie hat nicht einmal ein Urtheil darüber, ob z. B. ein Verein oder eine Geſellſchaft, um die Rechte der juriſtiſchen Perſönlichkeit zu gewin- nen, die erforderlichen Bedingungen erfüllt hat oder nicht, ſondern das Geſetz ſchreibt ſie vor und der Richter entſcheidet. Durch dieſen gänz- lichen Mangel an jeder Trennung der beiden Grundformen des Ver- waltungsrechts gibt es daher auch in England überhaupt keinen rechten ſelbſtändigen Begriff der Verwaltung, und vor allen Dingen gibt es in England keine Theorie des Verwaltungsrechts. England hat das ganze Verwaltungsrecht vielmehr auf das Engſte einerſeits mit ſeiner allgemeinen bürgerlichen Rechtswiſſenſchaft in Beziehung auf das gel- tende Recht, und anderſeits mit ſeiner Political Economy in Beziehung auf die Grundſätze verſchmolzen. Es gibt keine Literatur des Verwal- tungsrechts wie auf dem Continent, noch weniger eigene Lehranſtalten für daſſelbe, ſondern dem praktiſchen Bedürfniß der Kenntniß des be- ſtehenden Rechts wird vielmehr in zweifacher Weiſe, die von der conti- nentalen zum Theil weſentlich abweicht, genügt. Zuerſt werden
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ſtatt den des befehlenden Rechts annehmen, und es den Selbſtverwal-
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Intereſſen es fordern, ohne die Ausführung unbedingt zu befehlen. So
iſt es z. B. im Gemeindeweſen und Grundbuchsweſen, und die folgende
Verwaltungslehre wird dafür mehrere Beiſpiele bringen. Allein dieſer
Standpunkt iſt ſelbſt für die engliſche geſetzmäßige Verordnung nicht
durchzuführen. Es gibt Fälle genug, in denen das öffentliche Intereſſe
den Vollzug der geſetzlichen Vorſchrift unbedingt fordert. Hier tritt da-
her die Geſetzgebung unbedingt auf und ſchreibt darüber Zwangsmaß-
regeln vor, gerade wie die continentale Verordnung, wie z. B. bei der
Schifffahrtspolizei, beim Impfungsweſen u. a. m. Wo dagegen nicht
dringende und unmittelbare Gefahr für das Publikum obwaltet, da
greift dieſe Geſetzgebung zu dem alten germaniſchen Syſtem der Buße
und läßt den Einzelnen, der ihr nicht gehorcht, durch den Richter zu
einer Geldſtrafe verurtheilen. Es gibt daher keine Geſetzgebung der
Welt, in welcher ſo viele Geldſtrafen vorkommen, als in England.
Durch alles dieß zuſammen genommen bietet das Verwaltungsrecht
Englands ein ganz anderes Bild, als das des Continents. Es gibt
hier kein für den ganzen Staat geltendes verordnungsmäßiges
Verwaltungsrecht, ſondern daſſelbe beſteht nur in den Geſetzen.
Alle Verordnungen ſind durchaus localer Natur. Eine Thätigkeit der
Regierung in der Bildung dieſes Verwaltungsrechts iſt eben deßhalb
auch in der Weiſe gar nicht vorhanden wie auf dem Continent, da
das ganze Gebiet der Conceſſionen und Genehmigungen ihr entgegen
iſt; ſie hat nicht einmal ein Urtheil darüber, ob z. B. ein Verein oder
eine Geſellſchaft, um die Rechte der juriſtiſchen Perſönlichkeit zu gewin-
nen, die erforderlichen Bedingungen erfüllt hat oder nicht, ſondern das
Geſetz ſchreibt ſie vor und der Richter entſcheidet. Durch dieſen gänz-
lichen Mangel an jeder Trennung der beiden Grundformen des Ver-
waltungsrechts gibt es daher auch in England überhaupt keinen rechten
ſelbſtändigen Begriff der Verwaltung, und vor allen Dingen gibt es
in England keine Theorie des Verwaltungsrechts. England hat
das ganze Verwaltungsrecht vielmehr auf das Engſte einerſeits mit ſeiner
allgemeinen bürgerlichen Rechtswiſſenſchaft in Beziehung auf das gel-
tende Recht, und anderſeits mit ſeiner Political Economy in Beziehung
auf die Grundſätze verſchmolzen. Es gibt keine Literatur des Verwal-
tungsrechts wie auf dem Continent, noch weniger eigene Lehranſtalten
für daſſelbe, ſondern dem praktiſchen Bedürfniß der Kenntniß des be-
ſtehenden Rechts wird vielmehr in zweifacher Weiſe, die von der conti-
nentalen zum Theil weſentlich abweicht, genügt. Zuerſt werden
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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 2 (2,1). Stuttgart, 1866, S. 88. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre02_1866/110>, abgerufen am 04.12.2024.
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