bei allen großen administrativen Gesetzgebungen die Akten nebst Vor- lagen und Enqueten gedruckt in den sog. blue books, und damit dem Publikum das Material zu eigenen Studien gegeben. Dann werden die auf bestimmte Gebiete der Verwaltung bezüglichen einzelnen Parla- mentsakte besonders herausgegeben, theils officiell, theils durch Privat- unternehmungen. Dadurch ist nun freilich das Material einerseits ein so gewaltiges, und anderseits der Unterschied der Form wie der Auf- fassungsweise von dem Continent ein so durchgreifender, daß es sehr schwer ist, sich in dem Ganzen zurecht zu finden. Die französische prak- tische Durchsichtigkeit fehlt ganz, und eben so die systematische Ordnung des deutschen Rechts, und jeder, der sich daher mit dem englischen Ver- waltungsrecht beschäftigt, darf von vornherein vielfacher Irrthümer und Auslassungen gewiß sein, denen selbst der Engländer nicht entgeht. Wir unsererseits dürfen deßhalb der Nachsicht unserer Leser gewiß sein, indem wir zum erstenmal den Versuch wagen, in dieß Verwaltungsrecht eine gewisse Ordnung zu bringen.
In Frankreich hat der Entwicklungsgang der Staatsbildung diese Verhältnisse wesentlich anders gestaltet. Wir dürfen über das Verord- nungsrecht Frankreichs wohl auf den ersten Band verweisen. Die Grund- lage der Bildung des Verwaltungsrechts wechselt allerdings seit der Revolution je nach dem Siege der centralen Gewalt über die Volks- vertretung. Allein der Sieg der staatsbürgerlichen Gesellschaft hat den- noch den Grundsatz selbst unter Napoleon erhalten, daß das für den ganzen Staat gültige Recht nur auf dem Wege der Gesetzgebung ge- bildet werden dürfe. Dagegen hat der innere Kampf der socialen Ele- mente, in welchem sich in zwei Jahren die unfreie Classe zur freien gemacht, die Nothwendigkeit und Kraft der centralen Staatsgewalt als eine Lebensbedingung Frankreichs erscheinen lassen. Das Verwaltungs- recht gibt uns demgemäß in seinen Grundformen beide großen, selb- ständigen Elemente deutlich genug wieder. Dasselbe beruht auf Ge- setzen, der Lois, und Verordnungen in allen Formen, Ordon- nances, decrets, arrets, circulaires u. s. w. Aber diese beiden For- men sind eben so streng im Verwaltungsrecht geschieden, wie im wirk- lichen Staatsleben Regierung und Volksvertretung. Beide Faktoren der letztern, das Königthum und die Gesellschaft, haben hier die im Wesen der Sache liegende Form gefunden und die Gränze derselben festgestellt. Die Volksvertretung gibt das Gesetz, die Regierung führt es aus; das Verhältniß beider Elemente zu einander ist in der in Frankreich ent- standenen oben erwähnten Formel gesetzt: "Der Minister wird mit der Ausführung des Gesetzes beauftragt." Dieß nun ist in der Form so klar, daß es von allen constitutionellen Staaten Europas angenommen
bei allen großen adminiſtrativen Geſetzgebungen die Akten nebſt Vor- lagen und Enquêten gedruckt in den ſog. blue books, und damit dem Publikum das Material zu eigenen Studien gegeben. Dann werden die auf beſtimmte Gebiete der Verwaltung bezüglichen einzelnen Parla- mentsakte beſonders herausgegeben, theils officiell, theils durch Privat- unternehmungen. Dadurch iſt nun freilich das Material einerſeits ein ſo gewaltiges, und anderſeits der Unterſchied der Form wie der Auf- faſſungsweiſe von dem Continent ein ſo durchgreifender, daß es ſehr ſchwer iſt, ſich in dem Ganzen zurecht zu finden. Die franzöſiſche prak- tiſche Durchſichtigkeit fehlt ganz, und eben ſo die ſyſtematiſche Ordnung des deutſchen Rechts, und jeder, der ſich daher mit dem engliſchen Ver- waltungsrecht beſchäftigt, darf von vornherein vielfacher Irrthümer und Auslaſſungen gewiß ſein, denen ſelbſt der Engländer nicht entgeht. Wir unſererſeits dürfen deßhalb der Nachſicht unſerer Leſer gewiß ſein, indem wir zum erſtenmal den Verſuch wagen, in dieß Verwaltungsrecht eine gewiſſe Ordnung zu bringen.
In Frankreich hat der Entwicklungsgang der Staatsbildung dieſe Verhältniſſe weſentlich anders geſtaltet. Wir dürfen über das Verord- nungsrecht Frankreichs wohl auf den erſten Band verweiſen. Die Grund- lage der Bildung des Verwaltungsrechts wechſelt allerdings ſeit der Revolution je nach dem Siege der centralen Gewalt über die Volks- vertretung. Allein der Sieg der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft hat den- noch den Grundſatz ſelbſt unter Napoleon erhalten, daß das für den ganzen Staat gültige Recht nur auf dem Wege der Geſetzgebung ge- bildet werden dürfe. Dagegen hat der innere Kampf der ſocialen Ele- mente, in welchem ſich in zwei Jahren die unfreie Claſſe zur freien gemacht, die Nothwendigkeit und Kraft der centralen Staatsgewalt als eine Lebensbedingung Frankreichs erſcheinen laſſen. Das Verwaltungs- recht gibt uns demgemäß in ſeinen Grundformen beide großen, ſelb- ſtändigen Elemente deutlich genug wieder. Daſſelbe beruht auf Ge- ſetzen, der Lois, und Verordnungen in allen Formen, Ordon- nances, décrets, arrêts, circulaires u. ſ. w. Aber dieſe beiden For- men ſind eben ſo ſtreng im Verwaltungsrecht geſchieden, wie im wirk- lichen Staatsleben Regierung und Volksvertretung. Beide Faktoren der letztern, das Königthum und die Geſellſchaft, haben hier die im Weſen der Sache liegende Form gefunden und die Gränze derſelben feſtgeſtellt. Die Volksvertretung gibt das Geſetz, die Regierung führt es aus; das Verhältniß beider Elemente zu einander iſt in der in Frankreich ent- ſtandenen oben erwähnten Formel geſetzt: „Der Miniſter wird mit der Ausführung des Geſetzes beauftragt.“ Dieß nun iſt in der Form ſo klar, daß es von allen conſtitutionellen Staaten Europas angenommen
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bei allen großen adminiſtrativen Geſetzgebungen die Akten nebſt Vor-
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Publikum das Material zu eigenen Studien gegeben. Dann werden
die auf beſtimmte Gebiete der Verwaltung bezüglichen einzelnen Parla-
mentsakte beſonders herausgegeben, theils officiell, theils durch Privat-
unternehmungen. Dadurch iſt nun freilich das Material einerſeits ein
ſo gewaltiges, und anderſeits der Unterſchied der Form wie der Auf-
faſſungsweiſe von dem Continent ein ſo durchgreifender, daß es ſehr
ſchwer iſt, ſich in dem Ganzen zurecht zu finden. Die franzöſiſche prak-
tiſche Durchſichtigkeit fehlt ganz, und eben ſo die ſyſtematiſche Ordnung
des deutſchen Rechts, und jeder, der ſich daher mit dem engliſchen Ver-
waltungsrecht beſchäftigt, darf von vornherein vielfacher Irrthümer und
Auslaſſungen gewiß ſein, denen ſelbſt der Engländer nicht entgeht.
Wir unſererſeits dürfen deßhalb der Nachſicht unſerer Leſer gewiß ſein,
indem wir zum erſtenmal den Verſuch wagen, in dieß Verwaltungsrecht
eine gewiſſe Ordnung zu bringen.
In Frankreich hat der Entwicklungsgang der Staatsbildung dieſe
Verhältniſſe weſentlich anders geſtaltet. Wir dürfen über das Verord-
nungsrecht Frankreichs wohl auf den erſten Band verweiſen. Die Grund-
lage der Bildung des Verwaltungsrechts wechſelt allerdings ſeit der
Revolution je nach dem Siege der centralen Gewalt über die Volks-
vertretung. Allein der Sieg der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft hat den-
noch den Grundſatz ſelbſt unter Napoleon erhalten, daß das für den
ganzen Staat gültige Recht nur auf dem Wege der Geſetzgebung ge-
bildet werden dürfe. Dagegen hat der innere Kampf der ſocialen Ele-
mente, in welchem ſich in zwei Jahren die unfreie Claſſe zur freien
gemacht, die Nothwendigkeit und Kraft der centralen Staatsgewalt als
eine Lebensbedingung Frankreichs erſcheinen laſſen. Das Verwaltungs-
recht gibt uns demgemäß in ſeinen Grundformen beide großen, ſelb-
ſtändigen Elemente deutlich genug wieder. Daſſelbe beruht auf Ge-
ſetzen, der Lois, und Verordnungen in allen Formen, Ordon-
nances, décrets, arrêts, circulaires u. ſ. w. Aber dieſe beiden For-
men ſind eben ſo ſtreng im Verwaltungsrecht geſchieden, wie im wirk-
lichen Staatsleben Regierung und Volksvertretung. Beide Faktoren der
letztern, das Königthum und die Geſellſchaft, haben hier die im Weſen
der Sache liegende Form gefunden und die Gränze derſelben feſtgeſtellt.
Die Volksvertretung gibt das Geſetz, die Regierung führt es aus; das
Verhältniß beider Elemente zu einander iſt in der in Frankreich ent-
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Ausführung des Geſetzes beauftragt.“ Dieß nun iſt in der Form ſo
klar, daß es von allen conſtitutionellen Staaten Europas angenommen
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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 2 (2,1). Stuttgart, 1866, S. 89. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre02_1866/111>, abgerufen am 04.12.2024.
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