nur in der Sorge für die geistigen, volkswirthschaftlichen und staatlichen Bedingungen liege, unter denen sich die Bevölkerung vermehre oder vermindere. Das Bestreben, Vermehrung und Verminderung der Be- völkerung durch die Verwaltung erzielen zu wollen, verschwindet daher mit dem Ende des vorigen Jahrhunderts. Aber nachdem nach Justi's Vorgange das Bevölkerungswesen einmal in die Polizeiwissenschaften aufgenommen ist, erhält es sich auch darin, und um einen Inhalt zu haben, erfüllt es sich statt mit der alten Theorie der Volksvermehrung, die verschwunden ist, jetzt mit den Grundsätzen der Bevölkerungslehre selbst, in ähnlicher Weise, wie man bei den sog. Cameralwissenschaf- ten die Nationalökonomie in die Verwaltungslehre aufnahm. So sehen wir mit dem Anfang dieses Jahrhunderts in der Polizeiwissenschaft statt einer Lehre von der Verwaltung der Bevölkerung vielmehr die Bevöl- kerungslehre selbst erscheinen, ein systematischer Widerspruch, der zur Folge hatte, daß sie von andern auch in die Nationalökonomie aufge- nommen, von noch andern ganz weggelassen ward, während sie selbst, unbekümmert um ihre systematische Stellung, daneben ihren eigenen Weg ging, und sich zum Theil auch wieder -- zum drittenmale -- in der Statistik Raum schaffte. Das wunderliche Verhältniß, das sich daraus ergab, und das noch gegenwärtig dauert, nach welchem nämlich vermöge der Bevölkerungslehre nachgewiesen wird, daß die Verwaltung für Vermehrung und Verminderung der Bevölkerung eben nichts un- mittelbar leisten könne, während unmittelbar darauf gesagt wird, was sie alles trotzdem leisten solle, besteht zum Theil noch fort. Der größte Uebelstand dabei aber war, daß man vermöge jenes Verhältnisses über- sah, wie die oben erwähnten Theile der positiven Bevölkerungspolitik, Kindererzeugung, Ehen, Einwanderung und Auswanderung, durch das richtige Verständniß der Bevölkerungslehre in der Praxis ihren Charakter änderten. Sie blieben nach wie vor Gegenstände der Verwaltung der Bevölkerung und werden es beständig bleiben. Allein man faßte sie in der wirklichen Verwaltung nicht mehr auf als Mittel zur Vermehrung oder Verminderung der Bevölkerung, sondern die Verwaltung suchte jetzt ihnen eine Ordnung zu geben, in welcher die Einzelinteressen mit den Gesammtinteressen in Harmonie gebracht werden können, oder, um unsere Auffassung beizubehalten, man machte aus ihnen statt einer Be- völkerungspolitik ein Bevölkerungsrecht. Das ist das gegenwärtige praktische Verhältniß. Und die folgende kurze Darstellung wird zeigen, daß dies rechtliche Moment jetzt das entscheidende ist.
Fassen wir nun dies zusammen, so müssen wir sagen, daß es in unserer Zeit in dem alten und eigentlichen Sinne, nach welchem Ver- mehrung und Verminderung der Bevölkerung Aufgabe der Verwaltung
Stein, die Verwaltungslehre. II. 8
nur in der Sorge für die geiſtigen, volkswirthſchaftlichen und ſtaatlichen Bedingungen liege, unter denen ſich die Bevölkerung vermehre oder vermindere. Das Beſtreben, Vermehrung und Verminderung der Be- völkerung durch die Verwaltung erzielen zu wollen, verſchwindet daher mit dem Ende des vorigen Jahrhunderts. Aber nachdem nach Juſti’s Vorgange das Bevölkerungsweſen einmal in die Polizeiwiſſenſchaften aufgenommen iſt, erhält es ſich auch darin, und um einen Inhalt zu haben, erfüllt es ſich ſtatt mit der alten Theorie der Volksvermehrung, die verſchwunden iſt, jetzt mit den Grundſätzen der Bevölkerungslehre ſelbſt, in ähnlicher Weiſe, wie man bei den ſog. Cameralwiſſenſchaf- ten die Nationalökonomie in die Verwaltungslehre aufnahm. So ſehen wir mit dem Anfang dieſes Jahrhunderts in der Polizeiwiſſenſchaft ſtatt einer Lehre von der Verwaltung der Bevölkerung vielmehr die Bevöl- kerungslehre ſelbſt erſcheinen, ein ſyſtematiſcher Widerſpruch, der zur Folge hatte, daß ſie von andern auch in die Nationalökonomie aufge- nommen, von noch andern ganz weggelaſſen ward, während ſie ſelbſt, unbekümmert um ihre ſyſtematiſche Stellung, daneben ihren eigenen Weg ging, und ſich zum Theil auch wieder — zum drittenmale — in der Statiſtik Raum ſchaffte. Das wunderliche Verhältniß, das ſich daraus ergab, und das noch gegenwärtig dauert, nach welchem nämlich vermöge der Bevölkerungslehre nachgewieſen wird, daß die Verwaltung für Vermehrung und Verminderung der Bevölkerung eben nichts un- mittelbar leiſten könne, während unmittelbar darauf geſagt wird, was ſie alles trotzdem leiſten ſolle, beſteht zum Theil noch fort. Der größte Uebelſtand dabei aber war, daß man vermöge jenes Verhältniſſes über- ſah, wie die oben erwähnten Theile der poſitiven Bevölkerungspolitik, Kindererzeugung, Ehen, Einwanderung und Auswanderung, durch das richtige Verſtändniß der Bevölkerungslehre in der Praxis ihren Charakter änderten. Sie blieben nach wie vor Gegenſtände der Verwaltung der Bevölkerung und werden es beſtändig bleiben. Allein man faßte ſie in der wirklichen Verwaltung nicht mehr auf als Mittel zur Vermehrung oder Verminderung der Bevölkerung, ſondern die Verwaltung ſuchte jetzt ihnen eine Ordnung zu geben, in welcher die Einzelintereſſen mit den Geſammtintereſſen in Harmonie gebracht werden können, oder, um unſere Auffaſſung beizubehalten, man machte aus ihnen ſtatt einer Be- völkerungspolitik ein Bevölkerungsrecht. Das iſt das gegenwärtige praktiſche Verhältniß. Und die folgende kurze Darſtellung wird zeigen, daß dies rechtliche Moment jetzt das entſcheidende iſt.
Faſſen wir nun dies zuſammen, ſo müſſen wir ſagen, daß es in unſerer Zeit in dem alten und eigentlichen Sinne, nach welchem Ver- mehrung und Verminderung der Bevölkerung Aufgabe der Verwaltung
Stein, die Verwaltungslehre. II. 8
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nur in der Sorge für die geiſtigen, volkswirthſchaftlichen und ſtaatlichen
Bedingungen liege, unter denen ſich die Bevölkerung vermehre oder
vermindere. Das Beſtreben, Vermehrung und Verminderung der Be-
völkerung durch die Verwaltung erzielen zu wollen, verſchwindet daher
mit dem Ende des vorigen Jahrhunderts. Aber nachdem nach Juſti’s
Vorgange das Bevölkerungsweſen einmal in die Polizeiwiſſenſchaften
aufgenommen iſt, erhält es ſich auch darin, und um einen Inhalt zu
haben, erfüllt es ſich ſtatt mit der alten Theorie der Volksvermehrung,
die verſchwunden iſt, jetzt mit den Grundſätzen der Bevölkerungslehre
ſelbſt, in ähnlicher Weiſe, wie man bei den ſog. Cameralwiſſenſchaf-
ten die Nationalökonomie in die Verwaltungslehre aufnahm. So ſehen
wir mit dem Anfang dieſes Jahrhunderts in der Polizeiwiſſenſchaft ſtatt
einer Lehre von der Verwaltung der Bevölkerung vielmehr die Bevöl-
kerungslehre ſelbſt erſcheinen, ein ſyſtematiſcher Widerſpruch, der zur
Folge hatte, daß ſie von andern auch in die Nationalökonomie aufge-
nommen, von noch andern ganz weggelaſſen ward, während ſie ſelbſt,
unbekümmert um ihre ſyſtematiſche Stellung, daneben ihren eigenen
Weg ging, und ſich zum Theil auch wieder — zum drittenmale —
in der Statiſtik Raum ſchaffte. Das wunderliche Verhältniß, das ſich
daraus ergab, und das noch gegenwärtig dauert, nach welchem nämlich
vermöge der Bevölkerungslehre nachgewieſen wird, daß die Verwaltung
für Vermehrung und Verminderung der Bevölkerung eben nichts un-
mittelbar leiſten könne, während unmittelbar darauf geſagt wird, was
ſie alles trotzdem leiſten ſolle, beſteht zum Theil noch fort. Der größte
Uebelſtand dabei aber war, daß man vermöge jenes Verhältniſſes über-
ſah, wie die oben erwähnten Theile der poſitiven Bevölkerungspolitik,
Kindererzeugung, Ehen, Einwanderung und Auswanderung, durch das
richtige Verſtändniß der Bevölkerungslehre in der Praxis ihren Charakter
änderten. Sie blieben nach wie vor Gegenſtände der Verwaltung der
Bevölkerung und werden es beſtändig bleiben. Allein man faßte ſie in
der wirklichen Verwaltung nicht mehr auf als Mittel zur Vermehrung
oder Verminderung der Bevölkerung, ſondern die Verwaltung ſuchte
jetzt ihnen eine Ordnung zu geben, in welcher die Einzelintereſſen mit
den Geſammtintereſſen in Harmonie gebracht werden können, oder, um
unſere Auffaſſung beizubehalten, man machte aus ihnen ſtatt einer Be-
völkerungspolitik ein Bevölkerungsrecht. Das iſt das gegenwärtige
praktiſche Verhältniß. Und die folgende kurze Darſtellung wird zeigen,
daß dies rechtliche Moment jetzt das entſcheidende iſt.
Faſſen wir nun dies zuſammen, ſo müſſen wir ſagen, daß es in
unſerer Zeit in dem alten und eigentlichen Sinne, nach welchem Ver-
mehrung und Verminderung der Bevölkerung Aufgabe der Verwaltung
Stein, die Verwaltungslehre. II. 8
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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 2 (2,1). Stuttgart, 1866, S. 113. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre02_1866/135>, abgerufen am 04.12.2024.
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