Ganzen, die freie That dem abstrakten Begriffe opfernden Ordnung oder mit der in dieser Beziehung so eng beschränkten, gleichsam an jeder tieferen Auffassung verzweifelnden Aristotelischen Begriffs- bestimmung, welche den Staat als die einfache Thatsache der Ver- einigung der "Dörfer zur Stadt" bestimmt, so ist der gewaltige, wenn auch nicht logische so doch ethische Fortschritt ein unläugbarer. In jener eudämonistischen Idee ist der Staat als selbständige Gewalt formell neben den Einzelnen gestellt, und hat eine selbständige Aufgabe, die den Einzelnen weder absorbirt, wie bei Plato, noch ihn gleichgültig seinen Weg gehen läßt wie bei Aristoteles. Seinem Inhalt und Zweck nach erscheint der Staat hier vielmehr als der Vater seiner Unterthanen, als eine Anstalt, deren Wesen und Werth in dem Guten besteht, das sie hervorruft, als ein Organismus, dessen Bestimmung und sittliche Pflicht es ist, das Heil des Ganzen zu verstehen und das Glück desselben zu verwirklichen. Kann man sich im Grunde eine freundlichere, edlere, den höchsten humanistischen Anschauungen mehr entsprechende Idee des Staats denken? Ist es nicht wahrhaft wohlthuend aus der Zeit des wildesten Faustrechts und mitten in der Epoche des unfreiesten Stände- thums von der Wissenschaft einen Gedanken vertreten zu finden, der bei aller Steifheit in der Form des Ausdrucks dennoch das Beste und Edelste was den Menschen bewegt, zu einem allgemein gültigen Princip des Wissens und des Thuns erhebt? Und dazu kommt, daß diese Staatsidee bei allen durch sie möglichen Irrthümern am Ende die erste ist, welche eben durch die in ihr zur Erkenntniß gelangende Scheidung von Staat und Einzelnen die Grundlage der Freiheit in der harmonischen Entwicklung des Ganzen geworden ist. Die Geschichtschreibung, die das nicht anerkennt, muß wahrlich als eine todte Theorie oder als Vorurtheil gerade in den Augen unserer Gegenwart erscheinen! Wir nehmen nun als bekannt an, daß der erste, der dem Staat von jenem Standpunkt auf- faßt, oder wenigstens diese Auffassung zuerst formulirt, Hugo Grotius ist. Pufendorf drückt ihn dann als Pflicht, officium, wir würden sagen, als ethisches Wesen des Staats aus, bis Wolf ihn in seinem jus naturae et gentium zu einem vollkommen ausgearbeiteten System des Staatslebens macht. Diese Grundanschauung des Staats gilt bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Es ist auf den ersten Blick klar, daß der wahre Schlußpunkt dieser Auffassung kein anderer als eine möglichst vollständige Verwaltungslehre sein konnte. In der That war die Lehre vom Staat darnach die Lehre von der Ge- sammtheit der Mittel und Thätigkeiten, durch welche der Staat diese seine große Aufgabe, die Verwirklichung der Wohlfahrt aller Staats- angehörigen zu erfüllen habe. Und dieß ist somit auch der eigentliche
Ganzen, die freie That dem abſtrakten Begriffe opfernden Ordnung oder mit der in dieſer Beziehung ſo eng beſchränkten, gleichſam an jeder tieferen Auffaſſung verzweifelnden Ariſtoteliſchen Begriffs- beſtimmung, welche den Staat als die einfache Thatſache der Ver- einigung der „Dörfer zur Stadt“ beſtimmt, ſo iſt der gewaltige, wenn auch nicht logiſche ſo doch ethiſche Fortſchritt ein unläugbarer. In jener eudämoniſtiſchen Idee iſt der Staat als ſelbſtändige Gewalt formell neben den Einzelnen geſtellt, und hat eine ſelbſtändige Aufgabe, die den Einzelnen weder abſorbirt, wie bei Plato, noch ihn gleichgültig ſeinen Weg gehen läßt wie bei Ariſtoteles. Seinem Inhalt und Zweck nach erſcheint der Staat hier vielmehr als der Vater ſeiner Unterthanen, als eine Anſtalt, deren Weſen und Werth in dem Guten beſteht, das ſie hervorruft, als ein Organismus, deſſen Beſtimmung und ſittliche Pflicht es iſt, das Heil des Ganzen zu verſtehen und das Glück deſſelben zu verwirklichen. Kann man ſich im Grunde eine freundlichere, edlere, den höchſten humaniſtiſchen Anſchauungen mehr entſprechende Idee des Staats denken? Iſt es nicht wahrhaft wohlthuend aus der Zeit des wildeſten Fauſtrechts und mitten in der Epoche des unfreieſten Stände- thums von der Wiſſenſchaft einen Gedanken vertreten zu finden, der bei aller Steifheit in der Form des Ausdrucks dennoch das Beſte und Edelſte was den Menſchen bewegt, zu einem allgemein gültigen Princip des Wiſſens und des Thuns erhebt? Und dazu kommt, daß dieſe Staatsidee bei allen durch ſie möglichen Irrthümern am Ende die erſte iſt, welche eben durch die in ihr zur Erkenntniß gelangende Scheidung von Staat und Einzelnen die Grundlage der Freiheit in der harmoniſchen Entwicklung des Ganzen geworden iſt. Die Geſchichtſchreibung, die das nicht anerkennt, muß wahrlich als eine todte Theorie oder als Vorurtheil gerade in den Augen unſerer Gegenwart erſcheinen! Wir nehmen nun als bekannt an, daß der erſte, der dem Staat von jenem Standpunkt auf- faßt, oder wenigſtens dieſe Auffaſſung zuerſt formulirt, Hugo Grotius iſt. Pufendorf drückt ihn dann als Pflicht, officium, wir würden ſagen, als ethiſches Weſen des Staats aus, bis Wolf ihn in ſeinem jus naturae et gentium zu einem vollkommen ausgearbeiteten Syſtem des Staatslebens macht. Dieſe Grundanſchauung des Staats gilt bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Es iſt auf den erſten Blick klar, daß der wahre Schlußpunkt dieſer Auffaſſung kein anderer als eine möglichſt vollſtändige Verwaltungslehre ſein konnte. In der That war die Lehre vom Staat darnach die Lehre von der Ge- ſammtheit der Mittel und Thätigkeiten, durch welche der Staat dieſe ſeine große Aufgabe, die Verwirklichung der Wohlfahrt aller Staats- angehörigen zu erfüllen habe. Und dieß iſt ſomit auch der eigentliche
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Ganzen, die freie That dem abſtrakten Begriffe opfernden Ordnung
oder mit der in dieſer Beziehung ſo eng beſchränkten, gleichſam
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beſtimmung, welche den Staat als die einfache Thatſache der Ver-
einigung der „Dörfer zur Stadt“ beſtimmt, ſo iſt der gewaltige, wenn
auch nicht logiſche ſo doch ethiſche Fortſchritt ein unläugbarer. In jener
eudämoniſtiſchen Idee iſt der Staat als ſelbſtändige Gewalt formell
neben den Einzelnen geſtellt, und hat eine ſelbſtändige Aufgabe, die
den Einzelnen weder abſorbirt, wie bei Plato, noch ihn gleichgültig ſeinen
Weg gehen läßt wie bei Ariſtoteles. Seinem Inhalt und Zweck nach
erſcheint der Staat hier vielmehr als der Vater ſeiner Unterthanen,
als eine Anſtalt, deren Weſen und Werth in dem Guten beſteht,
das ſie hervorruft, als ein Organismus, deſſen Beſtimmung und
ſittliche Pflicht es iſt, das Heil des Ganzen zu verſtehen und das Glück
deſſelben zu verwirklichen. Kann man ſich im Grunde eine freundlichere,
edlere, den höchſten humaniſtiſchen Anſchauungen mehr entſprechende Idee
des Staats denken? Iſt es nicht wahrhaft wohlthuend aus der Zeit des
wildeſten Fauſtrechts und mitten in der Epoche des unfreieſten Stände-
thums von der Wiſſenſchaft einen Gedanken vertreten zu finden, der
bei aller Steifheit in der Form des Ausdrucks dennoch das Beſte und
Edelſte was den Menſchen bewegt, zu einem allgemein gültigen Princip
des Wiſſens und des Thuns erhebt? Und dazu kommt, daß dieſe
Staatsidee bei allen durch ſie möglichen Irrthümern am Ende die erſte
iſt, welche eben durch die in ihr zur Erkenntniß gelangende Scheidung
von Staat und Einzelnen die Grundlage der Freiheit in der harmoniſchen
Entwicklung des Ganzen geworden iſt. Die Geſchichtſchreibung, die das nicht
anerkennt, muß wahrlich als eine todte Theorie oder als Vorurtheil gerade
in den Augen unſerer Gegenwart erſcheinen! Wir nehmen nun als
bekannt an, daß der erſte, der dem Staat von jenem Standpunkt auf-
faßt, oder wenigſtens dieſe Auffaſſung zuerſt formulirt, Hugo Grotius
iſt. Pufendorf drückt ihn dann als Pflicht, officium, wir würden
ſagen, als ethiſches Weſen des Staats aus, bis Wolf ihn in ſeinem
jus naturae et gentium zu einem vollkommen ausgearbeiteten Syſtem
des Staatslebens macht. Dieſe Grundanſchauung des Staats gilt
bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Es iſt auf den erſten Blick klar,
daß der wahre Schlußpunkt dieſer Auffaſſung kein anderer als eine
möglichſt vollſtändige Verwaltungslehre ſein konnte. In
der That war die Lehre vom Staat darnach die Lehre von der Ge-
ſammtheit der Mittel und Thätigkeiten, durch welche der Staat dieſe
ſeine große Aufgabe, die Verwirklichung der Wohlfahrt aller Staats-
angehörigen zu erfüllen habe. Und dieß iſt ſomit auch der eigentliche
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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 2 (2,1). Stuttgart, 1866, S. 13. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre02_1866/35>, abgerufen am 21.11.2024.
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