Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 2 (2,1). Stuttgart, 1866.

Bild:
<< vorherige Seite

aber das letztere genügt ihm nicht für den Stoff, für die mächtige nach
Ordnung und höherer Einheit drängende Masse von Thatsachen der innern
Verwaltung, die er darstellen soll. Man sieht, wie er in diesem Gegen-
satz den einzigen Ausweg ergreift, der ihm bleibt. Er läßt das Princip,
das System, die reine Theorie liegen, und faßt die "Polizeiwissenschaft"
wie auch er die Verwaltungslehre nennt, als eine Masse einzelner
Fragen
auf, die jede für sich ihre Aufgabe und ihr Princip habe,
und daher in lauter einzelnen zusammenhangslosen Abschnitten behan-
delt werden sollen. Das ist nicht eigentlich ein Fehler; es ist vielmehr
der Ausdruck der ganzen damaligen Zeit, und von ihm aus entsteht
daher jene Vereinzelung aller, auf die Verwaltung bezüglichen
Arbeiten, die noch unsere Gegenwart charakterisirt und die jene Verschmel-
zung der alten Polizeiwissenschaft mit den "Cameralwissenschaften" mög-
lich machte, die sich dann in Schmalz und im großen Maßstabe im
Baumstark Geltung verschafft, eine Verschmelzung, bei der man zuletzt
zu der Ansicht kommt, welche auch jetzt noch viele haben, daß es sich
bei allem was Polizei oder Verwaltung heißt, nicht um Wissenschaft
sondern um Kenntnisse handelt. Es ist von größtem Interesse, dieß
weiter zu verfolgen; aber freilich muß als Grundlage die Charakteri-
sirung des Wesens der zweiten großen Gestalt dieser Entwicklung, der
Idee des Rechtsstaats und ihres Einflusses speziell auf die Verwal-
tungslehre dargelegt werden.

Um diese Bedeutung des Rechtsstaats, der wie der Wohl-
fahrtsstaat
der eudämonistischen Epoche eine der großen Thatsachen
des geistigen Lebens überhaupt ist, und der namentlich für die Polizei-
wissenschaft von entscheidender Bedeutung ward, richtig zu beurtheilen,
muß man allerdings das Verhältniß des Wohlfahrtsstaats zu dem alten
Recht und der ständischen Ordnung der Gesellschaft einerseits und dem
neuen Recht der staatsbürgerlichen Ordnung anderseits sich vergegenwär-
tigen. Den Ausdruck dieses Verhaltens aber bildet eine Gestaltung des
Staatswesens, welche wir als Uebergang von der ersten Staatsidee zur
zweiten den Polizeistaat nennen kann. Wir wollen versuchen, seine
historische Stellung hier zu charakterisiren.

3) Der Polizeistaat.

Das Recht der ständischen Epoche bestand trotz der Obrigkeits- und
Wohlfahrtstheorie noch ungeschmälert am Ende des vorigen Jahrhun-
derts fort. Allerdings begriff die Verwaltung vollkommen, daß alle
ihre Thätigkeit einem solchen Rechtssystem gegenüber nicht zu einem
entscheidenden Einfluß gelangen würde; auf allen Punkten, wo die

Stein, die Verwaltungslehre. II. 2

aber das letztere genügt ihm nicht für den Stoff, für die mächtige nach
Ordnung und höherer Einheit drängende Maſſe von Thatſachen der innern
Verwaltung, die er darſtellen ſoll. Man ſieht, wie er in dieſem Gegen-
ſatz den einzigen Ausweg ergreift, der ihm bleibt. Er läßt das Princip,
das Syſtem, die reine Theorie liegen, und faßt die „Polizeiwiſſenſchaft“
wie auch er die Verwaltungslehre nennt, als eine Maſſe einzelner
Fragen
auf, die jede für ſich ihre Aufgabe und ihr Princip habe,
und daher in lauter einzelnen zuſammenhangsloſen Abſchnitten behan-
delt werden ſollen. Das iſt nicht eigentlich ein Fehler; es iſt vielmehr
der Ausdruck der ganzen damaligen Zeit, und von ihm aus entſteht
daher jene Vereinzelung aller, auf die Verwaltung bezüglichen
Arbeiten, die noch unſere Gegenwart charakteriſirt und die jene Verſchmel-
zung der alten Polizeiwiſſenſchaft mit den „Cameralwiſſenſchaften“ mög-
lich machte, die ſich dann in Schmalz und im großen Maßſtabe im
Baumſtark Geltung verſchafft, eine Verſchmelzung, bei der man zuletzt
zu der Anſicht kommt, welche auch jetzt noch viele haben, daß es ſich
bei allem was Polizei oder Verwaltung heißt, nicht um Wiſſenſchaft
ſondern um Kenntniſſe handelt. Es iſt von größtem Intereſſe, dieß
weiter zu verfolgen; aber freilich muß als Grundlage die Charakteri-
ſirung des Weſens der zweiten großen Geſtalt dieſer Entwicklung, der
Idee des Rechtsſtaats und ihres Einfluſſes ſpeziell auf die Verwal-
tungslehre dargelegt werden.

Um dieſe Bedeutung des Rechtsſtaats, der wie der Wohl-
fahrtsſtaat
der eudämoniſtiſchen Epoche eine der großen Thatſachen
des geiſtigen Lebens überhaupt iſt, und der namentlich für die Polizei-
wiſſenſchaft von entſcheidender Bedeutung ward, richtig zu beurtheilen,
muß man allerdings das Verhältniß des Wohlfahrtsſtaats zu dem alten
Recht und der ſtändiſchen Ordnung der Geſellſchaft einerſeits und dem
neuen Recht der ſtaatsbürgerlichen Ordnung anderſeits ſich vergegenwär-
tigen. Den Ausdruck dieſes Verhaltens aber bildet eine Geſtaltung des
Staatsweſens, welche wir als Uebergang von der erſten Staatsidee zur
zweiten den Polizeiſtaat nennen kann. Wir wollen verſuchen, ſeine
hiſtoriſche Stellung hier zu charakteriſiren.

3) Der Polizeiſtaat.

Das Recht der ſtändiſchen Epoche beſtand trotz der Obrigkeits- und
Wohlfahrtstheorie noch ungeſchmälert am Ende des vorigen Jahrhun-
derts fort. Allerdings begriff die Verwaltung vollkommen, daß alle
ihre Thätigkeit einem ſolchen Rechtsſyſtem gegenüber nicht zu einem
entſcheidenden Einfluß gelangen würde; auf allen Punkten, wo die

Stein, die Verwaltungslehre. II. 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p><pb facs="#f0039" n="17"/>
aber das letztere genügt ihm nicht für den Stoff, für die mächtige nach<lb/>
Ordnung und höherer Einheit drängende Ma&#x017F;&#x017F;e von That&#x017F;achen der innern<lb/>
Verwaltung, die er dar&#x017F;tellen &#x017F;oll. Man &#x017F;ieht, wie er in die&#x017F;em Gegen-<lb/>
&#x017F;atz den einzigen Ausweg ergreift, der ihm bleibt. Er läßt das Princip,<lb/>
das Sy&#x017F;tem, die reine Theorie liegen, und faßt die &#x201E;Polizeiwi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft&#x201C;<lb/>
wie auch er die Verwaltungslehre nennt, als eine <hi rendition="#g">Ma&#x017F;&#x017F;e einzelner<lb/>
Fragen</hi> auf, die <hi rendition="#g">jede für &#x017F;ich</hi> ihre Aufgabe und ihr Princip habe,<lb/>
und daher in lauter einzelnen zu&#x017F;ammenhangslo&#x017F;en Ab&#x017F;chnitten behan-<lb/>
delt werden &#x017F;ollen. Das i&#x017F;t nicht eigentlich ein Fehler; es i&#x017F;t vielmehr<lb/>
der Ausdruck der ganzen damaligen Zeit, und von ihm aus ent&#x017F;teht<lb/>
daher jene <hi rendition="#g">Vereinzelung</hi> aller, auf die Verwaltung bezüglichen<lb/>
Arbeiten, die noch un&#x017F;ere Gegenwart charakteri&#x017F;irt und die jene Ver&#x017F;chmel-<lb/>
zung der alten Polizeiwi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft mit den &#x201E;Cameralwi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften&#x201C; mög-<lb/>
lich machte, die &#x017F;ich dann in <hi rendition="#g">Schmalz</hi> und im großen Maß&#x017F;tabe im<lb/><hi rendition="#g">Baum&#x017F;tark</hi> Geltung ver&#x017F;chafft, eine Ver&#x017F;chmelzung, bei der man zuletzt<lb/>
zu der An&#x017F;icht kommt, welche auch jetzt noch viele haben, daß es &#x017F;ich<lb/>
bei allem was Polizei oder Verwaltung heißt, nicht um Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft<lb/>
&#x017F;ondern um Kenntni&#x017F;&#x017F;e handelt. Es i&#x017F;t von größtem Intere&#x017F;&#x017F;e, dieß<lb/>
weiter zu verfolgen; aber freilich muß als Grundlage die Charakteri-<lb/>
&#x017F;irung des We&#x017F;ens der zweiten großen Ge&#x017F;talt die&#x017F;er Entwicklung, der<lb/>
Idee des <hi rendition="#g">Rechts&#x017F;taats</hi> und ihres Einflu&#x017F;&#x017F;es &#x017F;peziell auf die Verwal-<lb/>
tungslehre dargelegt werden.</p><lb/>
                <p>Um die&#x017F;e Bedeutung des <hi rendition="#g">Rechts&#x017F;taats</hi>, der wie der <hi rendition="#g">Wohl-<lb/>
fahrts&#x017F;taat</hi> der eudämoni&#x017F;ti&#x017F;chen Epoche eine der großen That&#x017F;achen<lb/>
des gei&#x017F;tigen Lebens überhaupt i&#x017F;t, und der namentlich für die Polizei-<lb/>
wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft von ent&#x017F;cheidender Bedeutung ward, richtig zu beurtheilen,<lb/>
muß man allerdings das Verhältniß des Wohlfahrts&#x017F;taats zu dem alten<lb/>
Recht und der &#x017F;tändi&#x017F;chen Ordnung der Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft einer&#x017F;eits und dem<lb/>
neuen Recht der &#x017F;taatsbürgerlichen Ordnung ander&#x017F;eits &#x017F;ich vergegenwär-<lb/>
tigen. Den Ausdruck die&#x017F;es Verhaltens aber bildet eine Ge&#x017F;taltung des<lb/>
Staatswe&#x017F;ens, welche wir als Uebergang von der er&#x017F;ten Staatsidee zur<lb/>
zweiten den <hi rendition="#g">Polizei&#x017F;taat</hi> nennen kann. Wir wollen ver&#x017F;uchen, &#x017F;eine<lb/>
hi&#x017F;tori&#x017F;che Stellung hier zu charakteri&#x017F;iren.</p>
              </div><lb/>
              <div n="5">
                <head>3) <hi rendition="#g">Der Polizei&#x017F;taat</hi>.</head><lb/>
                <p>Das Recht der &#x017F;tändi&#x017F;chen Epoche be&#x017F;tand trotz der Obrigkeits- und<lb/>
Wohlfahrtstheorie noch unge&#x017F;chmälert am Ende des vorigen Jahrhun-<lb/>
derts fort. Allerdings begriff die Verwaltung vollkommen, daß alle<lb/>
ihre Thätigkeit einem &#x017F;olchen Rechts&#x017F;y&#x017F;tem gegenüber nicht zu einem<lb/>
ent&#x017F;cheidenden Einfluß gelangen würde; auf allen Punkten, wo die<lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#g">Stein</hi>, die Verwaltungslehre. <hi rendition="#aq">II.</hi> 2</fw><lb/></p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[17/0039] aber das letztere genügt ihm nicht für den Stoff, für die mächtige nach Ordnung und höherer Einheit drängende Maſſe von Thatſachen der innern Verwaltung, die er darſtellen ſoll. Man ſieht, wie er in dieſem Gegen- ſatz den einzigen Ausweg ergreift, der ihm bleibt. Er läßt das Princip, das Syſtem, die reine Theorie liegen, und faßt die „Polizeiwiſſenſchaft“ wie auch er die Verwaltungslehre nennt, als eine Maſſe einzelner Fragen auf, die jede für ſich ihre Aufgabe und ihr Princip habe, und daher in lauter einzelnen zuſammenhangsloſen Abſchnitten behan- delt werden ſollen. Das iſt nicht eigentlich ein Fehler; es iſt vielmehr der Ausdruck der ganzen damaligen Zeit, und von ihm aus entſteht daher jene Vereinzelung aller, auf die Verwaltung bezüglichen Arbeiten, die noch unſere Gegenwart charakteriſirt und die jene Verſchmel- zung der alten Polizeiwiſſenſchaft mit den „Cameralwiſſenſchaften“ mög- lich machte, die ſich dann in Schmalz und im großen Maßſtabe im Baumſtark Geltung verſchafft, eine Verſchmelzung, bei der man zuletzt zu der Anſicht kommt, welche auch jetzt noch viele haben, daß es ſich bei allem was Polizei oder Verwaltung heißt, nicht um Wiſſenſchaft ſondern um Kenntniſſe handelt. Es iſt von größtem Intereſſe, dieß weiter zu verfolgen; aber freilich muß als Grundlage die Charakteri- ſirung des Weſens der zweiten großen Geſtalt dieſer Entwicklung, der Idee des Rechtsſtaats und ihres Einfluſſes ſpeziell auf die Verwal- tungslehre dargelegt werden. Um dieſe Bedeutung des Rechtsſtaats, der wie der Wohl- fahrtsſtaat der eudämoniſtiſchen Epoche eine der großen Thatſachen des geiſtigen Lebens überhaupt iſt, und der namentlich für die Polizei- wiſſenſchaft von entſcheidender Bedeutung ward, richtig zu beurtheilen, muß man allerdings das Verhältniß des Wohlfahrtsſtaats zu dem alten Recht und der ſtändiſchen Ordnung der Geſellſchaft einerſeits und dem neuen Recht der ſtaatsbürgerlichen Ordnung anderſeits ſich vergegenwär- tigen. Den Ausdruck dieſes Verhaltens aber bildet eine Geſtaltung des Staatsweſens, welche wir als Uebergang von der erſten Staatsidee zur zweiten den Polizeiſtaat nennen kann. Wir wollen verſuchen, ſeine hiſtoriſche Stellung hier zu charakteriſiren. 3) Der Polizeiſtaat. Das Recht der ſtändiſchen Epoche beſtand trotz der Obrigkeits- und Wohlfahrtstheorie noch ungeſchmälert am Ende des vorigen Jahrhun- derts fort. Allerdings begriff die Verwaltung vollkommen, daß alle ihre Thätigkeit einem ſolchen Rechtsſyſtem gegenüber nicht zu einem entſcheidenden Einfluß gelangen würde; auf allen Punkten, wo die Stein, die Verwaltungslehre. II. 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre02_1866
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre02_1866/39
Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 2 (2,1). Stuttgart, 1866, S. 17. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre02_1866/39>, abgerufen am 21.11.2024.