Organe derselben für das wahre, und zum Theil von ihnen recht gut verstandene Wohl des Volkes einschreiten wollten, traten ihnen die rechtlichen Hemmnisse entgegen, die auf dem Rechtstitel der Privilegien und ständischen Unterschiede beruhten. In der That erschien dadurch alles, was jene eudämonistische Theorie lehrte, im Grunde als ein leeres Wort; sie hätte gerne das Beste gewollt, aber sie besaß nirgends die Kraft es wirklich durchzuführen. Das wirkliche Leben, allenthalben von dem ständischen Recht gebrochen, beschränkt, unfrei gemacht und daher in einer unserer Zeit fast unverständlich gewordenen Auflösung begriffen, sprach den schönen Lehren Hohn, die von der Schule gepredigt wurden, und während der Jurist in den Vorlesungen über Rechtsphilosophie und Polizeiwissenschaften hörte, was er zu thun habe, um das Volk glücklich zu machen, lernte er in den juristischen Büchern und Collegien die Grundsätze der Anerkennung der bestehenden Rechte, der Heiligkeit derselben, der Unverantwortlichkeit der Unterschiede und der Privilegien, die es ihm principiell unmöglich machten, jene schönen Lehren in der Wirklichkeit zur Geltung zu bringen. Das war ein tiefer Widerspruch, und dieser Widerspruch ward um so lebendiger gefühlt, je näher die neue Zeit rückte. Aber seine Lösung lag nicht in der Philosophie des Wohlfahrtsstaats mit seinem breiten, zum Theil pedantischen Wohl- wollen. Das wessen die Zeit bedurfte, war vor allem Klarheit über das Verhältniß des Staats zum Recht, die Beantwortung der Frage nach der rechtbildenden, rechtschaffenden Kraft im Staate. Es kam nicht darauf an zu wissen, welche Maßregeln gut seien, sondern vielmehr darauf zu wissen, mit welchem Recht man sie gegenüber dem bestehen- den Rechte durchführen könne. Und schon in der Mitte des vorigen Jahrhunderts war es klar geworden, daß diese Frage, um welche sich nunmehr alle andern drehten, nicht mehr in dem Gebiete der Verwal- tung, sondern vielmehr in einem ganz andern Gebiete zur Beantwor- tung gelangen mußte. Dieß andere Gebiet aber war die Lehre von der Verfassung. Und so geschah es naturgemäß, daß die ganze Rechtsphilosophie eine ganz neue Richtung bekam und für diese neue Richtung eine ganz neue Grundlage forderte. Hatte die Hobbes'sche Theorie gefragt, was der Staat sei und ob er überhaupt sein solle, hatte die Wohlfahrtstheorie gefragt, was er zu thun habe, so fragte die neue Theorie vielmehr, wie in ihm die Rechtsbildung, die Bildung sei- nes Willens, die Gesetzgebung, geordnet werden müsse. Die ganze alte bisherige Arbeit der Rechtsphilosophie erschien neben dieser Frage als werthlos; man bedurfte eines neuen Princips, einer neuen Idee des Staats; und diese Idee war die der Freiheit auf Grundlage der Ver- fassung.
Organe derſelben für das wahre, und zum Theil von ihnen recht gut verſtandene Wohl des Volkes einſchreiten wollten, traten ihnen die rechtlichen Hemmniſſe entgegen, die auf dem Rechtstitel der Privilegien und ſtändiſchen Unterſchiede beruhten. In der That erſchien dadurch alles, was jene eudämoniſtiſche Theorie lehrte, im Grunde als ein leeres Wort; ſie hätte gerne das Beſte gewollt, aber ſie beſaß nirgends die Kraft es wirklich durchzuführen. Das wirkliche Leben, allenthalben von dem ſtändiſchen Recht gebrochen, beſchränkt, unfrei gemacht und daher in einer unſerer Zeit faſt unverſtändlich gewordenen Auflöſung begriffen, ſprach den ſchönen Lehren Hohn, die von der Schule gepredigt wurden, und während der Juriſt in den Vorleſungen über Rechtsphiloſophie und Polizeiwiſſenſchaften hörte, was er zu thun habe, um das Volk glücklich zu machen, lernte er in den juriſtiſchen Büchern und Collegien die Grundſätze der Anerkennung der beſtehenden Rechte, der Heiligkeit derſelben, der Unverantwortlichkeit der Unterſchiede und der Privilegien, die es ihm principiell unmöglich machten, jene ſchönen Lehren in der Wirklichkeit zur Geltung zu bringen. Das war ein tiefer Widerſpruch, und dieſer Widerſpruch ward um ſo lebendiger gefühlt, je näher die neue Zeit rückte. Aber ſeine Löſung lag nicht in der Philoſophie des Wohlfahrtsſtaats mit ſeinem breiten, zum Theil pedantiſchen Wohl- wollen. Das weſſen die Zeit bedurfte, war vor allem Klarheit über das Verhältniß des Staats zum Recht, die Beantwortung der Frage nach der rechtbildenden, rechtſchaffenden Kraft im Staate. Es kam nicht darauf an zu wiſſen, welche Maßregeln gut ſeien, ſondern vielmehr darauf zu wiſſen, mit welchem Recht man ſie gegenüber dem beſtehen- den Rechte durchführen könne. Und ſchon in der Mitte des vorigen Jahrhunderts war es klar geworden, daß dieſe Frage, um welche ſich nunmehr alle andern drehten, nicht mehr in dem Gebiete der Verwal- tung, ſondern vielmehr in einem ganz andern Gebiete zur Beantwor- tung gelangen mußte. Dieß andere Gebiet aber war die Lehre von der Verfaſſung. Und ſo geſchah es naturgemäß, daß die ganze Rechtsphiloſophie eine ganz neue Richtung bekam und für dieſe neue Richtung eine ganz neue Grundlage forderte. Hatte die Hobbes’ſche Theorie gefragt, was der Staat ſei und ob er überhaupt ſein ſolle, hatte die Wohlfahrtstheorie gefragt, was er zu thun habe, ſo fragte die neue Theorie vielmehr, wie in ihm die Rechtsbildung, die Bildung ſei- nes Willens, die Geſetzgebung, geordnet werden müſſe. Die ganze alte bisherige Arbeit der Rechtsphiloſophie erſchien neben dieſer Frage als werthlos; man bedurfte eines neuen Princips, einer neuen Idee des Staats; und dieſe Idee war die der Freiheit auf Grundlage der Ver- faſſung.
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Organe derſelben für das wahre, und zum Theil von ihnen recht gut
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rechtlichen Hemmniſſe entgegen, die auf dem Rechtstitel der Privilegien
und ſtändiſchen Unterſchiede beruhten. In der That erſchien dadurch
alles, was jene eudämoniſtiſche Theorie lehrte, im Grunde als ein leeres
Wort; ſie hätte gerne das Beſte gewollt, aber ſie beſaß nirgends die
Kraft es wirklich durchzuführen. Das wirkliche Leben, allenthalben von
dem ſtändiſchen Recht gebrochen, beſchränkt, unfrei gemacht und daher
in einer unſerer Zeit faſt unverſtändlich gewordenen Auflöſung begriffen,
ſprach den ſchönen Lehren Hohn, die von der Schule gepredigt wurden,
und während der Juriſt in den Vorleſungen über Rechtsphiloſophie
und Polizeiwiſſenſchaften hörte, was er zu thun habe, um das Volk
glücklich zu machen, lernte er in den juriſtiſchen Büchern und Collegien
die Grundſätze der Anerkennung der beſtehenden Rechte, der Heiligkeit
derſelben, der Unverantwortlichkeit der Unterſchiede und der Privilegien,
die es ihm principiell unmöglich machten, jene ſchönen Lehren in der
Wirklichkeit zur Geltung zu bringen. Das war ein tiefer Widerſpruch,
und dieſer Widerſpruch ward um ſo lebendiger gefühlt, je näher die
neue Zeit rückte. Aber ſeine Löſung lag nicht in der Philoſophie des
Wohlfahrtsſtaats mit ſeinem breiten, zum Theil pedantiſchen Wohl-
wollen. Das weſſen die Zeit bedurfte, war vor allem Klarheit über das
Verhältniß des Staats zum Recht, die Beantwortung der Frage nach
der rechtbildenden, rechtſchaffenden Kraft im Staate. Es kam nicht
darauf an zu wiſſen, welche Maßregeln gut ſeien, ſondern vielmehr
darauf zu wiſſen, mit welchem Recht man ſie gegenüber dem beſtehen-
den Rechte durchführen könne. Und ſchon in der Mitte des vorigen
Jahrhunderts war es klar geworden, daß dieſe Frage, um welche ſich
nunmehr alle andern drehten, nicht mehr in dem Gebiete der Verwal-
tung, ſondern vielmehr in einem ganz andern Gebiete zur Beantwor-
tung gelangen mußte. Dieß andere Gebiet aber war die Lehre von
der Verfaſſung. Und ſo geſchah es naturgemäß, daß die ganze
Rechtsphiloſophie eine ganz neue Richtung bekam und für dieſe neue
Richtung eine ganz neue Grundlage forderte. Hatte die Hobbes’ſche
Theorie gefragt, was der Staat ſei und ob er überhaupt ſein ſolle,
hatte die Wohlfahrtstheorie gefragt, was er zu thun habe, ſo fragte die
neue Theorie vielmehr, wie in ihm die Rechtsbildung, die Bildung ſei-
nes Willens, die Geſetzgebung, geordnet werden müſſe. Die ganze
alte bisherige Arbeit der Rechtsphiloſophie erſchien neben dieſer Frage
als werthlos; man bedurfte eines neuen Princips, einer neuen Idee des
Staats; und dieſe Idee war die der Freiheit auf Grundlage der Ver-
faſſung.
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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 2 (2,1). Stuttgart, 1866, S. 18. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre02_1866/40>, abgerufen am 21.11.2024.
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