Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 4. Stuttgart, 1867.I. Da wo die öffentliche Sicherheit durch einen feindlichen Angriff I. Da wo die öffentliche Sicherheit durch einen feindlichen Angriff <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <pb facs="#f0147" n="125"/> <p><hi rendition="#aq">I.</hi> Da wo die öffentliche Sicherheit durch einen feindlichen Angriff<lb/> in Waffen bedroht wird, entſteht das, was wir den <hi rendition="#g">militäriſchen<lb/> Belagerungszuſtand</hi> — wir werden nach franzöſiſchem Vorbild<lb/> ſagen <hi rendition="#g">Kriegszuſtand</hi> — nennen. Der Kriegszuſtand beruht darauf,<lb/> daß die erſte Bedingung der Vertheidigung gegen den feindlichen An-<lb/> griff die Unterordnung des Bürgerthums unter die militäriſchen For-<lb/> derungen iſt. Der Kriegszuſtand muß daher diejenigen Beſchränkungen<lb/> der ſtaatsbürgerlichen Freiheit ſetzen, welche als Bedingung der mili-<lb/> täriſchen Vertheidigung erſcheinen. Dieſe Beſchränkungen beſtehen darin,<lb/> daß das Recht zu bürgerlichen <hi rendition="#g">Verfügungen</hi> auf die militäriſchen<lb/> Organe übergeht; zweitens darin, daß für dieſe Verfügungen ein <hi rendition="#g">mili-<lb/> täriſcher</hi>, und nicht mehr ein bürgerlicher Gehorſam gefordert wird.<lb/> Die erſte Folge davon iſt, daß die noch vorhandenen Polizeiorgane<lb/> ihrerſeits das Recht auf Erlaß von einſeitigen Verfügungen verlieren,<lb/> und dieß ausſchließlich an die militäriſchen Stellen übergeht. Die zweite<lb/> iſt die, daß die Polizeiorgane den militäriſchen unbedingt untergeordnet<lb/> werden, und ihnen in ihren Vollziehungen Gehorſam zu leiſten haben.<lb/> Dieß Recht der militäriſchen Stellen auf Verfügungen und militäriſchen<lb/> Gehorſam hat demgemäß nur Eine Gränze. Das Militär darf nicht<lb/> mehr verlangen, als eben für die Vertheidigung nothwendig iſt; alle<lb/> Rechtsverhältniſſe, welche mit der Vertheidigung gegen den äußern Feind<lb/> in keiner Verbindung ſtehen, werden von dem Kriegszuſtand gar nicht<lb/> berührt. Das Recht des Kriegszuſtandes erſcheint daher auch in Be-<lb/> ziehung auf das Eigenthum als Nothrecht, indem jeder ſein Gut zur<lb/> Vertheidigung hergeben muß, natürlich gegen die entſprechende Ent-<lb/> ſchädigungsanſprüche. — Das Verfahren im Kriegszuſtand beruht darauf,<lb/> daß mit der Pflicht zum militäriſchen Gehorſam auch die Gerichtsbarkeit<lb/> über die Befolgung und Nichtbefolgung der militäriſchen Verfügungen<lb/> (in welche nach dem Obigen alle polizeilichen aufgehen) an die mili-<lb/> täriſchen Gerichte übergeht; dagegen bleiben alle anderen Organe der<lb/> Verwaltung in ihrer ſyſtematiſchen Funktion. Es muß dabei angenommen<lb/> werden, daß die militäriſchen Stellen das Recht haben, dieſe Funktion<lb/> als ſolche (z. B. Unterricht, Geſundheitspolizei, bürgerliche Rechts-<lb/> pflege ꝛc.) <hi rendition="#g">ſo weit</hi> zu <hi rendition="#g">ſuſpendiren</hi>, als dieß für militäriſche Zwecke<lb/> nothwendig erſcheint; jedoch darf dadurch <hi rendition="#g">kein</hi> erworbenes Privatrecht<lb/> verletzt werden, und darf dieſe Suspenſion auch nicht länger dauern<lb/> und nicht weiter gehen, als der militäriſche Zweck dieß nothwendig<lb/> macht. In keinem Falle jedoch erſcheint gegen ſolche Maßregeln ein<lb/> Klagrecht berechtigt, und eine Beſchwerde kann nur bei der höheren<lb/><hi rendition="#g">militäriſchen</hi> Stelle angebracht werden. Dagegen ſteht das Recht<lb/> der Entſchädigung für jede Leiſtung natürlich jedem Einzelnen zu; daß<lb/></p> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [125/0147]
I. Da wo die öffentliche Sicherheit durch einen feindlichen Angriff
in Waffen bedroht wird, entſteht das, was wir den militäriſchen
Belagerungszuſtand — wir werden nach franzöſiſchem Vorbild
ſagen Kriegszuſtand — nennen. Der Kriegszuſtand beruht darauf,
daß die erſte Bedingung der Vertheidigung gegen den feindlichen An-
griff die Unterordnung des Bürgerthums unter die militäriſchen For-
derungen iſt. Der Kriegszuſtand muß daher diejenigen Beſchränkungen
der ſtaatsbürgerlichen Freiheit ſetzen, welche als Bedingung der mili-
täriſchen Vertheidigung erſcheinen. Dieſe Beſchränkungen beſtehen darin,
daß das Recht zu bürgerlichen Verfügungen auf die militäriſchen
Organe übergeht; zweitens darin, daß für dieſe Verfügungen ein mili-
täriſcher, und nicht mehr ein bürgerlicher Gehorſam gefordert wird.
Die erſte Folge davon iſt, daß die noch vorhandenen Polizeiorgane
ihrerſeits das Recht auf Erlaß von einſeitigen Verfügungen verlieren,
und dieß ausſchließlich an die militäriſchen Stellen übergeht. Die zweite
iſt die, daß die Polizeiorgane den militäriſchen unbedingt untergeordnet
werden, und ihnen in ihren Vollziehungen Gehorſam zu leiſten haben.
Dieß Recht der militäriſchen Stellen auf Verfügungen und militäriſchen
Gehorſam hat demgemäß nur Eine Gränze. Das Militär darf nicht
mehr verlangen, als eben für die Vertheidigung nothwendig iſt; alle
Rechtsverhältniſſe, welche mit der Vertheidigung gegen den äußern Feind
in keiner Verbindung ſtehen, werden von dem Kriegszuſtand gar nicht
berührt. Das Recht des Kriegszuſtandes erſcheint daher auch in Be-
ziehung auf das Eigenthum als Nothrecht, indem jeder ſein Gut zur
Vertheidigung hergeben muß, natürlich gegen die entſprechende Ent-
ſchädigungsanſprüche. — Das Verfahren im Kriegszuſtand beruht darauf,
daß mit der Pflicht zum militäriſchen Gehorſam auch die Gerichtsbarkeit
über die Befolgung und Nichtbefolgung der militäriſchen Verfügungen
(in welche nach dem Obigen alle polizeilichen aufgehen) an die mili-
täriſchen Gerichte übergeht; dagegen bleiben alle anderen Organe der
Verwaltung in ihrer ſyſtematiſchen Funktion. Es muß dabei angenommen
werden, daß die militäriſchen Stellen das Recht haben, dieſe Funktion
als ſolche (z. B. Unterricht, Geſundheitspolizei, bürgerliche Rechts-
pflege ꝛc.) ſo weit zu ſuſpendiren, als dieß für militäriſche Zwecke
nothwendig erſcheint; jedoch darf dadurch kein erworbenes Privatrecht
verletzt werden, und darf dieſe Suspenſion auch nicht länger dauern
und nicht weiter gehen, als der militäriſche Zweck dieß nothwendig
macht. In keinem Falle jedoch erſcheint gegen ſolche Maßregeln ein
Klagrecht berechtigt, und eine Beſchwerde kann nur bei der höheren
militäriſchen Stelle angebracht werden. Dagegen ſteht das Recht
der Entſchädigung für jede Leiſtung natürlich jedem Einzelnen zu; daß
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