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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 5. Stuttgart, 1868.

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der edleren Auffassung und die Verachtung der wirthschaftlichen Güter
als ein Beweis der Seelenstärke gedacht ward, ist überwunden; unser
Jahrhundert hat keine großartigere Thatsache aufzuweisen als die, daß
der Besitz zu seiner ethischen Berechtigung und der Anerkennung seiner
Bedeutung für die Verfassung und die gesellschaftliche Entwicklung der
Völker Europas gelangt ist. Diese Thatsache wirkt in tausend Formen,
mit und ohne unser Bewußtsein von ihrer Gewalt; sie ist das mächtigste
culturhistorische Element unsrer Zeit und wir verdanken das Verständ-
niß seiner Macht, seiner Gefahren und seines Segens in der That der
neuen Weltanschauung, welche in der Wissenschaft der Gesellschaft und
der Theorie des Fanatismus und Communismus gegeben ist. Wir
werden ein Jahrhundert brauchen, um dasselbe ganz zu verarbeiten;
aber seinen ersten Ausdruck findet es in dem wirthschaftlichen Berufe
und seinem Bildungssystem in Deutschland.

Dieß Bildungssystem, obwohl formell eine rein pädagogische An-
stalt und im Anfang auch nur als pädagogische Aufgabe aufgefaßt und
begründet, ist daher vielmehr der Ausdruck des großen Princips der
staatsbürgerlichen Gesellschaft, die in ihrem Siege über die ständische
Weltordnung vor allen Dingen nach der festen Basis der individuellen
Freiheit, nach Kapital und Erwerb, gestützt auf individuelle Bildung,
trachtet. Die wirthschaftliche Bildung des Volkes tritt daher, wie alle
solche socialen Bewegungen, zuerst als Bestreben Einzelner auf und hält
sich durch einen, oft ungerechten, immer aber scharfen Gegensatz gegen
die ständische Berufsbildung aufrecht. Als aber mit dem neunzehnten
Jahrhundert die staatsbürgerliche Gesellschaft siegt, wird sie zu einer
organischen Aufgabe der Verwaltung. Und jetzt muß die letztere sich
für diese Aufgabe ein allgemeines und festes Princip schaffen, um von
diesem Princip aus das Einzelne zu bestimmen und zu ordnen. Dieses
Princip ist aber jetzt nicht mehr ein einfacher administrativer Grundsatz.
Es enthält vielmehr den Ausdruck des Verhältnisses der Staats-
gewalt zu der gesellschaftlichen Entwicklung
, speziell zu der
Entwicklung der staatsbürgerlichen und der ständischen Gesellschaft. Und
von diesem Standpunkt aus muß das geltende wirthschaftliche Berufs-
bildungssystem überhaupt, speziell aber das deutsche, betrachtet und mit
andern verglichen werden.

Während nun in Frankreich dieß Princip mit der französischen
Revolution plötzlich und unvermittelt entstanden und in England über-
haupt kein Objekt der Staatsverwaltung geworden ist, hat es sich in
Deutschland allmählig und historisch zu jener gegenwärtigen Gestalt
ausgebildet. Seine Aufgabe war, die gesellschaftliche und volkswirth-
schaftliche Nothwendigkeit der wirthschaftlichen Berufsbildung mit der

der edleren Auffaſſung und die Verachtung der wirthſchaftlichen Güter
als ein Beweis der Seelenſtärke gedacht ward, iſt überwunden; unſer
Jahrhundert hat keine großartigere Thatſache aufzuweiſen als die, daß
der Beſitz zu ſeiner ethiſchen Berechtigung und der Anerkennung ſeiner
Bedeutung für die Verfaſſung und die geſellſchaftliche Entwicklung der
Völker Europas gelangt iſt. Dieſe Thatſache wirkt in tauſend Formen,
mit und ohne unſer Bewußtſein von ihrer Gewalt; ſie iſt das mächtigſte
culturhiſtoriſche Element unſrer Zeit und wir verdanken das Verſtänd-
niß ſeiner Macht, ſeiner Gefahren und ſeines Segens in der That der
neuen Weltanſchauung, welche in der Wiſſenſchaft der Geſellſchaft und
der Theorie des Fanatismus und Communismus gegeben iſt. Wir
werden ein Jahrhundert brauchen, um daſſelbe ganz zu verarbeiten;
aber ſeinen erſten Ausdruck findet es in dem wirthſchaftlichen Berufe
und ſeinem Bildungsſyſtem in Deutſchland.

Dieß Bildungsſyſtem, obwohl formell eine rein pädagogiſche An-
ſtalt und im Anfang auch nur als pädagogiſche Aufgabe aufgefaßt und
begründet, iſt daher vielmehr der Ausdruck des großen Princips der
ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft, die in ihrem Siege über die ſtändiſche
Weltordnung vor allen Dingen nach der feſten Baſis der individuellen
Freiheit, nach Kapital und Erwerb, geſtützt auf individuelle Bildung,
trachtet. Die wirthſchaftliche Bildung des Volkes tritt daher, wie alle
ſolche ſocialen Bewegungen, zuerſt als Beſtreben Einzelner auf und hält
ſich durch einen, oft ungerechten, immer aber ſcharfen Gegenſatz gegen
die ſtändiſche Berufsbildung aufrecht. Als aber mit dem neunzehnten
Jahrhundert die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft ſiegt, wird ſie zu einer
organiſchen Aufgabe der Verwaltung. Und jetzt muß die letztere ſich
für dieſe Aufgabe ein allgemeines und feſtes Princip ſchaffen, um von
dieſem Princip aus das Einzelne zu beſtimmen und zu ordnen. Dieſes
Princip iſt aber jetzt nicht mehr ein einfacher adminiſtrativer Grundſatz.
Es enthält vielmehr den Ausdruck des Verhältniſſes der Staats-
gewalt zu der geſellſchaftlichen Entwicklung
, ſpeziell zu der
Entwicklung der ſtaatsbürgerlichen und der ſtändiſchen Geſellſchaft. Und
von dieſem Standpunkt aus muß das geltende wirthſchaftliche Berufs-
bildungsſyſtem überhaupt, ſpeziell aber das deutſche, betrachtet und mit
andern verglichen werden.

Während nun in Frankreich dieß Princip mit der franzöſiſchen
Revolution plötzlich und unvermittelt entſtanden und in England über-
haupt kein Objekt der Staatsverwaltung geworden iſt, hat es ſich in
Deutſchland allmählig und hiſtoriſch zu jener gegenwärtigen Geſtalt
ausgebildet. Seine Aufgabe war, die geſellſchaftliche und volkswirth-
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[235/0263] der edleren Auffaſſung und die Verachtung der wirthſchaftlichen Güter als ein Beweis der Seelenſtärke gedacht ward, iſt überwunden; unſer Jahrhundert hat keine großartigere Thatſache aufzuweiſen als die, daß der Beſitz zu ſeiner ethiſchen Berechtigung und der Anerkennung ſeiner Bedeutung für die Verfaſſung und die geſellſchaftliche Entwicklung der Völker Europas gelangt iſt. Dieſe Thatſache wirkt in tauſend Formen, mit und ohne unſer Bewußtſein von ihrer Gewalt; ſie iſt das mächtigſte culturhiſtoriſche Element unſrer Zeit und wir verdanken das Verſtänd- niß ſeiner Macht, ſeiner Gefahren und ſeines Segens in der That der neuen Weltanſchauung, welche in der Wiſſenſchaft der Geſellſchaft und der Theorie des Fanatismus und Communismus gegeben iſt. Wir werden ein Jahrhundert brauchen, um daſſelbe ganz zu verarbeiten; aber ſeinen erſten Ausdruck findet es in dem wirthſchaftlichen Berufe und ſeinem Bildungsſyſtem in Deutſchland. Dieß Bildungsſyſtem, obwohl formell eine rein pädagogiſche An- ſtalt und im Anfang auch nur als pädagogiſche Aufgabe aufgefaßt und begründet, iſt daher vielmehr der Ausdruck des großen Princips der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft, die in ihrem Siege über die ſtändiſche Weltordnung vor allen Dingen nach der feſten Baſis der individuellen Freiheit, nach Kapital und Erwerb, geſtützt auf individuelle Bildung, trachtet. Die wirthſchaftliche Bildung des Volkes tritt daher, wie alle ſolche ſocialen Bewegungen, zuerſt als Beſtreben Einzelner auf und hält ſich durch einen, oft ungerechten, immer aber ſcharfen Gegenſatz gegen die ſtändiſche Berufsbildung aufrecht. Als aber mit dem neunzehnten Jahrhundert die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft ſiegt, wird ſie zu einer organiſchen Aufgabe der Verwaltung. Und jetzt muß die letztere ſich für dieſe Aufgabe ein allgemeines und feſtes Princip ſchaffen, um von dieſem Princip aus das Einzelne zu beſtimmen und zu ordnen. Dieſes Princip iſt aber jetzt nicht mehr ein einfacher adminiſtrativer Grundſatz. Es enthält vielmehr den Ausdruck des Verhältniſſes der Staats- gewalt zu der geſellſchaftlichen Entwicklung, ſpeziell zu der Entwicklung der ſtaatsbürgerlichen und der ſtändiſchen Geſellſchaft. Und von dieſem Standpunkt aus muß das geltende wirthſchaftliche Berufs- bildungsſyſtem überhaupt, ſpeziell aber das deutſche, betrachtet und mit andern verglichen werden. Während nun in Frankreich dieß Princip mit der franzöſiſchen Revolution plötzlich und unvermittelt entſtanden und in England über- haupt kein Objekt der Staatsverwaltung geworden iſt, hat es ſich in Deutſchland allmählig und hiſtoriſch zu jener gegenwärtigen Geſtalt ausgebildet. Seine Aufgabe war, die geſellſchaftliche und volkswirth- ſchaftliche Nothwendigkeit der wirthſchaftlichen Berufsbildung mit der

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 5. Stuttgart, 1868, S. 235. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre05_1868/263>, abgerufen am 22.11.2024.