Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 5. Stuttgart, 1868.

Bild:
<< vorherige Seite

die überhaupt dazu bestimmt war, die Freiheit da zu vertreten, wo die
ganze übrige Gesellschaft sie aufgegeben, während sie sie stets da be-
kämpfte, wo die letztere sie forderte. Diese große historische Thatsache
tritt uns nun nirgends deutlicher entgegen, als in der Geschichte des
Bildungswesens.

Diese Geschichte läßt sich nun auf ihre einfachsten Grundlagen
zurückführen.

VI. In der Epoche der Geschlechterordnung, welche bis zum Mittel-
alter herrscht, finden wir das Wesen der alten Geschlechterbildung ein-
fach wieder, sogar mit den Anklängen der allgemeinen Bildung in Dicht-
kunst und Wissenschaft aus der griechischen Welt (Troubadours, Volks-
dichter, Sängerkämpfe) und der römischen (Rechtspflege durch die Herren
und Freien.) Selbst die Waffen, die Waffenspiele und die Waffen-
pflicht ordnen sich nach den Geschlechterklassen. Allein das, was wir
das öffentliche Bildungswesen genannt haben, gibt es hier so wenig
als in der Geschlechterordnung Griechenlands und Roms. Der Staat
ist noch nicht selbständig gegenüber der Gesellschaft; er hat zwar eine
Verfassung, aber er hat noch keine Verwaltung. Er besteht nur noch
als Organisation der Heeresmacht und als Würde des Königthums.
Die Pflege und Bildung bleibt daher Sache der Geschlechter und der
Einzelnen; eine Verwaltung, ein öffentliches Recht derselben gibt es
nicht, und ihre öffentliche Geltung besteht nur in der bevorrechteten
Ausübung der Waffen nach den Geschlechterbegriffen der Freien und
Unfreien.

Eine ganz andere Gestalt tritt ein in der ständischen Welt. Diese
aber ist bei den germanischen Völkern wesentlich von den orientalischen
verschieden; während bei den letzteren nur die gesellschaftlichen Stände
herrschen, bildet sich bei jenen die selbständige Staatsgewalt gleich an-
fangs mit einem festen, aber noch undefinirten Bewußtsein ihrer wahren
Aufgabe heraus, und der tiefe Gegensatz, der darin liegt, erscheint nun
im Bildungswesen so gut als in allen andern Gebieten des Staats-
lebens.

Darum muß man zwei große Gestaltungen des letzteren neben-
einander, und zum Theil einander gegenüberstellen.

Die erste ist die des ständischen Bildungswesens. Ihr erstes
Princip ist, daß der spezielle Beruf Grundlage, Organ und Ziel
der Bildung
sein soll. Dieses Prinzip gewinnt seine Gestalt durch
die Kirche, welche zuerst das geistige Leben von dem äußern scheidet, und
seine Förderung zu einem sittlichen Berufe macht. Einmal selbständig
dastehend und als Stand anerkannt und mächtig, entwickelt diese geistige
Welt die Wissenschaft. Zu dem Berufe des Glaubens tritt der des

die überhaupt dazu beſtimmt war, die Freiheit da zu vertreten, wo die
ganze übrige Geſellſchaft ſie aufgegeben, während ſie ſie ſtets da be-
kämpfte, wo die letztere ſie forderte. Dieſe große hiſtoriſche Thatſache
tritt uns nun nirgends deutlicher entgegen, als in der Geſchichte des
Bildungsweſens.

Dieſe Geſchichte läßt ſich nun auf ihre einfachſten Grundlagen
zurückführen.

VI. In der Epoche der Geſchlechterordnung, welche bis zum Mittel-
alter herrſcht, finden wir das Weſen der alten Geſchlechterbildung ein-
fach wieder, ſogar mit den Anklängen der allgemeinen Bildung in Dicht-
kunſt und Wiſſenſchaft aus der griechiſchen Welt (Troubadours, Volks-
dichter, Sängerkämpfe) und der römiſchen (Rechtspflege durch die Herren
und Freien.) Selbſt die Waffen, die Waffenſpiele und die Waffen-
pflicht ordnen ſich nach den Geſchlechterklaſſen. Allein das, was wir
das öffentliche Bildungsweſen genannt haben, gibt es hier ſo wenig
als in der Geſchlechterordnung Griechenlands und Roms. Der Staat
iſt noch nicht ſelbſtändig gegenüber der Geſellſchaft; er hat zwar eine
Verfaſſung, aber er hat noch keine Verwaltung. Er beſteht nur noch
als Organiſation der Heeresmacht und als Würde des Königthums.
Die Pflege und Bildung bleibt daher Sache der Geſchlechter und der
Einzelnen; eine Verwaltung, ein öffentliches Recht derſelben gibt es
nicht, und ihre öffentliche Geltung beſteht nur in der bevorrechteten
Ausübung der Waffen nach den Geſchlechterbegriffen der Freien und
Unfreien.

Eine ganz andere Geſtalt tritt ein in der ſtändiſchen Welt. Dieſe
aber iſt bei den germaniſchen Völkern weſentlich von den orientaliſchen
verſchieden; während bei den letzteren nur die geſellſchaftlichen Stände
herrſchen, bildet ſich bei jenen die ſelbſtändige Staatsgewalt gleich an-
fangs mit einem feſten, aber noch undefinirten Bewußtſein ihrer wahren
Aufgabe heraus, und der tiefe Gegenſatz, der darin liegt, erſcheint nun
im Bildungsweſen ſo gut als in allen andern Gebieten des Staats-
lebens.

Darum muß man zwei große Geſtaltungen des letzteren neben-
einander, und zum Theil einander gegenüberſtellen.

Die erſte iſt die des ſtändiſchen Bildungsweſens. Ihr erſtes
Princip iſt, daß der ſpezielle Beruf Grundlage, Organ und Ziel
der Bildung
ſein ſoll. Dieſes Prinzip gewinnt ſeine Geſtalt durch
die Kirche, welche zuerſt das geiſtige Leben von dem äußern ſcheidet, und
ſeine Förderung zu einem ſittlichen Berufe macht. Einmal ſelbſtändig
daſtehend und als Stand anerkannt und mächtig, entwickelt dieſe geiſtige
Welt die Wiſſenſchaft. Zu dem Berufe des Glaubens tritt der des

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p><pb facs="#f0055" n="27"/>
die überhaupt dazu be&#x017F;timmt war, die Freiheit da zu vertreten, wo die<lb/>
ganze übrige Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft &#x017F;ie aufgegeben, während &#x017F;ie &#x017F;ie &#x017F;tets da be-<lb/>
kämpfte, wo die letztere &#x017F;ie forderte. Die&#x017F;e große hi&#x017F;tori&#x017F;che That&#x017F;ache<lb/>
tritt uns nun nirgends deutlicher entgegen, als in der Ge&#x017F;chichte des<lb/>
Bildungswe&#x017F;ens.</p><lb/>
                <p>Die&#x017F;e Ge&#x017F;chichte läßt &#x017F;ich nun auf ihre einfach&#x017F;ten Grundlagen<lb/>
zurückführen.</p><lb/>
                <p><hi rendition="#aq">VI.</hi> In der Epoche der Ge&#x017F;chlechterordnung, welche bis zum Mittel-<lb/>
alter herr&#x017F;cht, finden wir das We&#x017F;en der alten Ge&#x017F;chlechterbildung ein-<lb/>
fach wieder, &#x017F;ogar mit den Anklängen der allgemeinen Bildung in Dicht-<lb/>
kun&#x017F;t und Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft aus der griechi&#x017F;chen Welt (Troubadours, Volks-<lb/>
dichter, Sängerkämpfe) und der römi&#x017F;chen (Rechtspflege durch die Herren<lb/>
und Freien.) Selb&#x017F;t die Waffen, die Waffen&#x017F;piele und die Waffen-<lb/>
pflicht ordnen &#x017F;ich nach den Ge&#x017F;chlechterkla&#x017F;&#x017F;en. Allein das, was wir<lb/>
das öffentliche Bildungswe&#x017F;en genannt haben, gibt es hier &#x017F;o wenig<lb/>
als in der Ge&#x017F;chlechterordnung Griechenlands und Roms. Der Staat<lb/>
i&#x017F;t noch nicht &#x017F;elb&#x017F;tändig gegenüber der Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft; er hat zwar eine<lb/>
Verfa&#x017F;&#x017F;ung, aber er hat noch keine Verwaltung. Er be&#x017F;teht nur noch<lb/>
als Organi&#x017F;ation der Heeresmacht und als Würde des Königthums.<lb/>
Die Pflege und Bildung bleibt daher Sache der Ge&#x017F;chlechter und der<lb/>
Einzelnen; eine Verwaltung, ein öffentliches Recht der&#x017F;elben gibt es<lb/>
nicht, und ihre öffentliche Geltung be&#x017F;teht nur in der bevorrechteten<lb/>
Ausübung der Waffen nach den Ge&#x017F;chlechterbegriffen der Freien und<lb/>
Unfreien.</p><lb/>
                <p>Eine ganz andere Ge&#x017F;talt tritt ein in der &#x017F;tändi&#x017F;chen Welt. Die&#x017F;e<lb/>
aber i&#x017F;t bei den germani&#x017F;chen Völkern we&#x017F;entlich von den orientali&#x017F;chen<lb/>
ver&#x017F;chieden; während bei den letzteren nur die ge&#x017F;ell&#x017F;chaftlichen Stände<lb/>
herr&#x017F;chen, bildet &#x017F;ich bei jenen die &#x017F;elb&#x017F;tändige Staatsgewalt gleich an-<lb/>
fangs mit einem fe&#x017F;ten, aber noch undefinirten Bewußt&#x017F;ein ihrer wahren<lb/>
Aufgabe heraus, und der tiefe Gegen&#x017F;atz, der darin liegt, er&#x017F;cheint nun<lb/>
im Bildungswe&#x017F;en &#x017F;o gut als in allen andern Gebieten des Staats-<lb/>
lebens.</p><lb/>
                <p>Darum muß man <hi rendition="#g">zwei</hi> große Ge&#x017F;taltungen des letzteren neben-<lb/>
einander, und zum Theil einander gegenüber&#x017F;tellen.</p><lb/>
                <p>Die er&#x017F;te i&#x017F;t die des <hi rendition="#g">&#x017F;tändi&#x017F;chen</hi> Bildungswe&#x017F;ens. Ihr <hi rendition="#g">er&#x017F;tes</hi><lb/>
Princip i&#x017F;t, daß der &#x017F;pezielle Beruf <hi rendition="#g">Grundlage, Organ</hi> und <hi rendition="#g">Ziel<lb/>
der Bildung</hi> &#x017F;ein &#x017F;oll. Die&#x017F;es Prinzip gewinnt &#x017F;eine Ge&#x017F;talt durch<lb/>
die Kirche, welche zuer&#x017F;t das gei&#x017F;tige Leben von dem äußern &#x017F;cheidet, und<lb/>
&#x017F;eine Förderung zu einem &#x017F;ittlichen Berufe macht. Einmal &#x017F;elb&#x017F;tändig<lb/>
da&#x017F;tehend und als Stand anerkannt und mächtig, entwickelt die&#x017F;e gei&#x017F;tige<lb/>
Welt die Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft. Zu dem Berufe des Glaubens tritt der des<lb/></p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[27/0055] die überhaupt dazu beſtimmt war, die Freiheit da zu vertreten, wo die ganze übrige Geſellſchaft ſie aufgegeben, während ſie ſie ſtets da be- kämpfte, wo die letztere ſie forderte. Dieſe große hiſtoriſche Thatſache tritt uns nun nirgends deutlicher entgegen, als in der Geſchichte des Bildungsweſens. Dieſe Geſchichte läßt ſich nun auf ihre einfachſten Grundlagen zurückführen. VI. In der Epoche der Geſchlechterordnung, welche bis zum Mittel- alter herrſcht, finden wir das Weſen der alten Geſchlechterbildung ein- fach wieder, ſogar mit den Anklängen der allgemeinen Bildung in Dicht- kunſt und Wiſſenſchaft aus der griechiſchen Welt (Troubadours, Volks- dichter, Sängerkämpfe) und der römiſchen (Rechtspflege durch die Herren und Freien.) Selbſt die Waffen, die Waffenſpiele und die Waffen- pflicht ordnen ſich nach den Geſchlechterklaſſen. Allein das, was wir das öffentliche Bildungsweſen genannt haben, gibt es hier ſo wenig als in der Geſchlechterordnung Griechenlands und Roms. Der Staat iſt noch nicht ſelbſtändig gegenüber der Geſellſchaft; er hat zwar eine Verfaſſung, aber er hat noch keine Verwaltung. Er beſteht nur noch als Organiſation der Heeresmacht und als Würde des Königthums. Die Pflege und Bildung bleibt daher Sache der Geſchlechter und der Einzelnen; eine Verwaltung, ein öffentliches Recht derſelben gibt es nicht, und ihre öffentliche Geltung beſteht nur in der bevorrechteten Ausübung der Waffen nach den Geſchlechterbegriffen der Freien und Unfreien. Eine ganz andere Geſtalt tritt ein in der ſtändiſchen Welt. Dieſe aber iſt bei den germaniſchen Völkern weſentlich von den orientaliſchen verſchieden; während bei den letzteren nur die geſellſchaftlichen Stände herrſchen, bildet ſich bei jenen die ſelbſtändige Staatsgewalt gleich an- fangs mit einem feſten, aber noch undefinirten Bewußtſein ihrer wahren Aufgabe heraus, und der tiefe Gegenſatz, der darin liegt, erſcheint nun im Bildungsweſen ſo gut als in allen andern Gebieten des Staats- lebens. Darum muß man zwei große Geſtaltungen des letzteren neben- einander, und zum Theil einander gegenüberſtellen. Die erſte iſt die des ſtändiſchen Bildungsweſens. Ihr erſtes Princip iſt, daß der ſpezielle Beruf Grundlage, Organ und Ziel der Bildung ſein ſoll. Dieſes Prinzip gewinnt ſeine Geſtalt durch die Kirche, welche zuerſt das geiſtige Leben von dem äußern ſcheidet, und ſeine Förderung zu einem ſittlichen Berufe macht. Einmal ſelbſtändig daſtehend und als Stand anerkannt und mächtig, entwickelt dieſe geiſtige Welt die Wiſſenſchaft. Zu dem Berufe des Glaubens tritt der des

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre05_1868
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre05_1868/55
Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 5. Stuttgart, 1868, S. 27. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre05_1868/55>, abgerufen am 10.05.2024.