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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 5. Stuttgart, 1868.

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V. Der Charakter des Bildungswesens in den Hauptstaaten Europas.

Bei dem ungeheuren, das gesammte Volksleben umfassenden Um-
fang, und bei der großen tiefgehenden Verschiedenheit des Bildungs-
wesens im Einzelnen in den Hauptstaaten Europas wird es nun als
eine der wesentlichen Bedingungen des Verständnisses des letzteren an-
gesehen werden müssen, daß man den Charakter des Bildungswesens
in jedem dieser Staaten vorerst so bestimmt als möglich feststelle.

In der That nämlich erscheint das Bildungswesen eines jeden
Staates bei aller Verschiedenheit und scheinbaren Zufälligkeit im Ein-
zelnen dennoch als ein Ganzes, dessen innere Gleichartigkeit uns in
überraschender Weise entgegentritt, sowie man dasselbe einerseits auf
die elementaren Grundformen des Bildungswesens, andrerseits auf die
Grundkräfte zurückführt, welche wir oben bezeichnet haben. Erst in
dieser Einheit ist eine Vergleichung des Ganzen möglich. Hält man
fest, daß die wirkliche Gestalt des Bildungswesens von diesen Momenten
beherrscht wird, so leuchtet es ein, daß alle wahre Vergleichung erst
da beginnt, wo man wirkliches Leben aus der Wirkung jener Kräfte
hervorgehen sieht. Und darum mag es uns wohl verstattet sein, das,
was wir unter dem "Charakter" zu denken haben, hier genauer zu
bestimmen.

Der Charakter des inneren Staatslebens überhaupt besteht nämlich
in dem Verhältniß, in welchem der Begriff und die thätige Idee des
Staats zu den gesellschaftlichen Ordnungen in demselben stehen. Es
ist gezeigt worden, wie beide ein wesentlich verschiedenes Princip haben;
in dem Kampf dieser beiden Principien besteht das innere Staatsleben
überhaupt, und aus ihr geht beständig die ganze Gestalt der Verwal-
tung hervor. Das Bildungswesen ist aber ein Theil der Verwaltung.
Und es ergibt sich daraus, daß das Bildungswesen eines Staates stets
denselben Charakter hat, wie seine ganze Verwaltung, und daß es
mithin einen wesentlichen Theil der inneren Geschichte desselben aus-
macht und bedeutet.

Das nun macht die Darstellung des Bildungswesens zwar nicht
leichter, wohl aber ist es der einzige Weg, um die Auffassung desselben
vor derjenigen Einseitigkeit zu bewahren, welche da glaubt, die Sache
selbst erfaßt zu haben, wenn sie die äußern Formen und die einzelnen
gesetzlichen Bestimmungen kennt. Hier ist daher der Punkt, auf wel-
chem der höhere Standpunkt der Verwaltungslehre allein der Darstellung
des Bildungswesens ihre innere Einheit und ihre wahre Bedeutung
gibt, und die Stelle, auf welcher die Gesellschaftswissenschaft in diesen

V. Der Charakter des Bildungsweſens in den Hauptſtaaten Europas.

Bei dem ungeheuren, das geſammte Volksleben umfaſſenden Um-
fang, und bei der großen tiefgehenden Verſchiedenheit des Bildungs-
weſens im Einzelnen in den Hauptſtaaten Europas wird es nun als
eine der weſentlichen Bedingungen des Verſtändniſſes des letzteren an-
geſehen werden müſſen, daß man den Charakter des Bildungsweſens
in jedem dieſer Staaten vorerſt ſo beſtimmt als möglich feſtſtelle.

In der That nämlich erſcheint das Bildungsweſen eines jeden
Staates bei aller Verſchiedenheit und ſcheinbaren Zufälligkeit im Ein-
zelnen dennoch als ein Ganzes, deſſen innere Gleichartigkeit uns in
überraſchender Weiſe entgegentritt, ſowie man daſſelbe einerſeits auf
die elementaren Grundformen des Bildungsweſens, andrerſeits auf die
Grundkräfte zurückführt, welche wir oben bezeichnet haben. Erſt in
dieſer Einheit iſt eine Vergleichung des Ganzen möglich. Hält man
feſt, daß die wirkliche Geſtalt des Bildungsweſens von dieſen Momenten
beherrſcht wird, ſo leuchtet es ein, daß alle wahre Vergleichung erſt
da beginnt, wo man wirkliches Leben aus der Wirkung jener Kräfte
hervorgehen ſieht. Und darum mag es uns wohl verſtattet ſein, das,
was wir unter dem „Charakter“ zu denken haben, hier genauer zu
beſtimmen.

Der Charakter des inneren Staatslebens überhaupt beſteht nämlich
in dem Verhältniß, in welchem der Begriff und die thätige Idee des
Staats zu den geſellſchaftlichen Ordnungen in demſelben ſtehen. Es
iſt gezeigt worden, wie beide ein weſentlich verſchiedenes Princip haben;
in dem Kampf dieſer beiden Principien beſteht das innere Staatsleben
überhaupt, und aus ihr geht beſtändig die ganze Geſtalt der Verwal-
tung hervor. Das Bildungsweſen iſt aber ein Theil der Verwaltung.
Und es ergibt ſich daraus, daß das Bildungsweſen eines Staates ſtets
denſelben Charakter hat, wie ſeine ganze Verwaltung, und daß es
mithin einen weſentlichen Theil der inneren Geſchichte deſſelben aus-
macht und bedeutet.

Das nun macht die Darſtellung des Bildungsweſens zwar nicht
leichter, wohl aber iſt es der einzige Weg, um die Auffaſſung deſſelben
vor derjenigen Einſeitigkeit zu bewahren, welche da glaubt, die Sache
ſelbſt erfaßt zu haben, wenn ſie die äußern Formen und die einzelnen
geſetzlichen Beſtimmungen kennt. Hier iſt daher der Punkt, auf wel-
chem der höhere Standpunkt der Verwaltungslehre allein der Darſtellung
des Bildungsweſens ihre innere Einheit und ihre wahre Bedeutung
gibt, und die Stelle, auf welcher die Geſellſchaftswiſſenſchaft in dieſen

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[39/0067] V. Der Charakter des Bildungsweſens in den Hauptſtaaten Europas. Bei dem ungeheuren, das geſammte Volksleben umfaſſenden Um- fang, und bei der großen tiefgehenden Verſchiedenheit des Bildungs- weſens im Einzelnen in den Hauptſtaaten Europas wird es nun als eine der weſentlichen Bedingungen des Verſtändniſſes des letzteren an- geſehen werden müſſen, daß man den Charakter des Bildungsweſens in jedem dieſer Staaten vorerſt ſo beſtimmt als möglich feſtſtelle. In der That nämlich erſcheint das Bildungsweſen eines jeden Staates bei aller Verſchiedenheit und ſcheinbaren Zufälligkeit im Ein- zelnen dennoch als ein Ganzes, deſſen innere Gleichartigkeit uns in überraſchender Weiſe entgegentritt, ſowie man daſſelbe einerſeits auf die elementaren Grundformen des Bildungsweſens, andrerſeits auf die Grundkräfte zurückführt, welche wir oben bezeichnet haben. Erſt in dieſer Einheit iſt eine Vergleichung des Ganzen möglich. Hält man feſt, daß die wirkliche Geſtalt des Bildungsweſens von dieſen Momenten beherrſcht wird, ſo leuchtet es ein, daß alle wahre Vergleichung erſt da beginnt, wo man wirkliches Leben aus der Wirkung jener Kräfte hervorgehen ſieht. Und darum mag es uns wohl verſtattet ſein, das, was wir unter dem „Charakter“ zu denken haben, hier genauer zu beſtimmen. Der Charakter des inneren Staatslebens überhaupt beſteht nämlich in dem Verhältniß, in welchem der Begriff und die thätige Idee des Staats zu den geſellſchaftlichen Ordnungen in demſelben ſtehen. Es iſt gezeigt worden, wie beide ein weſentlich verſchiedenes Princip haben; in dem Kampf dieſer beiden Principien beſteht das innere Staatsleben überhaupt, und aus ihr geht beſtändig die ganze Geſtalt der Verwal- tung hervor. Das Bildungsweſen iſt aber ein Theil der Verwaltung. Und es ergibt ſich daraus, daß das Bildungsweſen eines Staates ſtets denſelben Charakter hat, wie ſeine ganze Verwaltung, und daß es mithin einen weſentlichen Theil der inneren Geſchichte deſſelben aus- macht und bedeutet. Das nun macht die Darſtellung des Bildungsweſens zwar nicht leichter, wohl aber iſt es der einzige Weg, um die Auffaſſung deſſelben vor derjenigen Einſeitigkeit zu bewahren, welche da glaubt, die Sache ſelbſt erfaßt zu haben, wenn ſie die äußern Formen und die einzelnen geſetzlichen Beſtimmungen kennt. Hier iſt daher der Punkt, auf wel- chem der höhere Standpunkt der Verwaltungslehre allein der Darſtellung des Bildungsweſens ihre innere Einheit und ihre wahre Bedeutung gibt, und die Stelle, auf welcher die Geſellſchaftswiſſenſchaft in dieſen

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 5. Stuttgart, 1868, S. 39. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre05_1868/67>, abgerufen am 21.11.2024.