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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 5. Stuttgart, 1868.

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Innerhalb derselben nun hat jeder der großen Staaten seine eigen-
thümliche Stellung.

Der Charakter des englischen Lebens zunächst besteht darin, daß
die ständische Gesellschaftsordnung hier vielleicht am strengsten in ganz
Europa erhalten ist und in der geselligen Welt gilt, daß aber die höhere
gesellschaftliche Klasse keine staatlichen Verwaltungsrechte besitzt. Die
freie staatsbürgerliche Gesellschaftsordnung ist hier nur bis zur Aufhebung
der öffentlichen Vorrechte der Grundherren gelangt; sie steht noch auf
dem rein negativen Standpunkt des freien einzelnen Individuums. Zu
einem positiven Walten, und damit zu einem selbständigen Eingreifen
in die Lebenssphäre des Einzelnen im Namen der Gesammtentwicklung
ist England noch nicht gelangt. Daher fehlt ihm einerseits die orga-
nische Entwicklung der Staatsidee zu einem selbstthätigen Verwaltungs-
körper, andrerseits die organische Gesetzgebung. In England ist alles
und jedes auf sich selbst angewiesen, und Englands Freiheit besteht
wesentlich in der rechtlichen Befreiung jeder individuellen Rechtssphäre
von dem Einflusse jedes andern. Das ist Englands Charakter auf
allen Punkten, und so auch der seines öffentlichen Bildungswesens.

In Frankreich hat dagegen die staatsbürgerliche Gesellschaft zwar
gesiegt, aber ihr Sieg in der französischen Revolution war der der
Gewalt. Und Gewalt erzeugt Gewalt; denn daß jedes Ding das ihm
Gleichartige mit all seinen Folgen wieder erzeuge, das ist die wahre
und furchtbare Gerechtigkeit aller Geschichte. Der gewaltsame Sieg
jener Gesellschaft bedingte, daß die Regierung als organische Ver-
treterin derselben selbst der Gewalt bedurfte, und die Alleinherrschaft
unter den Formen der Freiheit an sich riß. Frankreich ist daher das
Land der Macht der Verwaltung, und damit auch das Land, in
welchem die Staatsgewalt für sich alle Aufgaben der Verwaltung in
Anspruch nimmt. Während England das Land ist, wo die Staats-
verwaltung dem Einzelnen zu viel überläßt, ist Frankreich dasjenige,
wo ihm zu wenig überlassen wird; während England zeigt, wie viel
der kräftige Einzelne für und durch sich selbst vermag ohne öffentliche
Hülfe, hat Frankreich zu lehren, was die Regierung durch ihre Gewalt
zu Stande bringt, indem sie die Einzelnen in der Selbstverwaltung
und dem Vereinswesen fast ganz ausschließt. Während in England
daher eine staatliche Organisation der Verwaltung fast gänzlich fehlt,
ist in Frankreich jede öffentliche Gewalt ein staatliches Organ. Während
England daher der eigentlichen Gesetzgebung ermangelt, und das öffent-
liche Recht der Verwaltung wesentlich nur die Gränzen vorschreibt,
innerhalb deren sich die Selbstbestimmung der Einzelnen zu bewegen
hat, ist in Frankreich vielmehr alles durch die Gesetzgebung und

Innerhalb derſelben nun hat jeder der großen Staaten ſeine eigen-
thümliche Stellung.

Der Charakter des engliſchen Lebens zunächſt beſteht darin, daß
die ſtändiſche Geſellſchaftsordnung hier vielleicht am ſtrengſten in ganz
Europa erhalten iſt und in der geſelligen Welt gilt, daß aber die höhere
geſellſchaftliche Klaſſe keine ſtaatlichen Verwaltungsrechte beſitzt. Die
freie ſtaatsbürgerliche Geſellſchaftsordnung iſt hier nur bis zur Aufhebung
der öffentlichen Vorrechte der Grundherren gelangt; ſie ſteht noch auf
dem rein negativen Standpunkt des freien einzelnen Individuums. Zu
einem poſitiven Walten, und damit zu einem ſelbſtändigen Eingreifen
in die Lebensſphäre des Einzelnen im Namen der Geſammtentwicklung
iſt England noch nicht gelangt. Daher fehlt ihm einerſeits die orga-
niſche Entwicklung der Staatsidee zu einem ſelbſtthätigen Verwaltungs-
körper, andrerſeits die organiſche Geſetzgebung. In England iſt alles
und jedes auf ſich ſelbſt angewieſen, und Englands Freiheit beſteht
weſentlich in der rechtlichen Befreiung jeder individuellen Rechtsſphäre
von dem Einfluſſe jedes andern. Das iſt Englands Charakter auf
allen Punkten, und ſo auch der ſeines öffentlichen Bildungsweſens.

In Frankreich hat dagegen die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft zwar
geſiegt, aber ihr Sieg in der franzöſiſchen Revolution war der der
Gewalt. Und Gewalt erzeugt Gewalt; denn daß jedes Ding das ihm
Gleichartige mit all ſeinen Folgen wieder erzeuge, das iſt die wahre
und furchtbare Gerechtigkeit aller Geſchichte. Der gewaltſame Sieg
jener Geſellſchaft bedingte, daß die Regierung als organiſche Ver-
treterin derſelben ſelbſt der Gewalt bedurfte, und die Alleinherrſchaft
unter den Formen der Freiheit an ſich riß. Frankreich iſt daher das
Land der Macht der Verwaltung, und damit auch das Land, in
welchem die Staatsgewalt für ſich alle Aufgaben der Verwaltung in
Anſpruch nimmt. Während England das Land iſt, wo die Staats-
verwaltung dem Einzelnen zu viel überläßt, iſt Frankreich dasjenige,
wo ihm zu wenig überlaſſen wird; während England zeigt, wie viel
der kräftige Einzelne für und durch ſich ſelbſt vermag ohne öffentliche
Hülfe, hat Frankreich zu lehren, was die Regierung durch ihre Gewalt
zu Stande bringt, indem ſie die Einzelnen in der Selbſtverwaltung
und dem Vereinsweſen faſt ganz ausſchließt. Während in England
daher eine ſtaatliche Organiſation der Verwaltung faſt gänzlich fehlt,
iſt in Frankreich jede öffentliche Gewalt ein ſtaatliches Organ. Während
England daher der eigentlichen Geſetzgebung ermangelt, und das öffent-
liche Recht der Verwaltung weſentlich nur die Gränzen vorſchreibt,
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[41/0069] Innerhalb derſelben nun hat jeder der großen Staaten ſeine eigen- thümliche Stellung. Der Charakter des engliſchen Lebens zunächſt beſteht darin, daß die ſtändiſche Geſellſchaftsordnung hier vielleicht am ſtrengſten in ganz Europa erhalten iſt und in der geſelligen Welt gilt, daß aber die höhere geſellſchaftliche Klaſſe keine ſtaatlichen Verwaltungsrechte beſitzt. Die freie ſtaatsbürgerliche Geſellſchaftsordnung iſt hier nur bis zur Aufhebung der öffentlichen Vorrechte der Grundherren gelangt; ſie ſteht noch auf dem rein negativen Standpunkt des freien einzelnen Individuums. Zu einem poſitiven Walten, und damit zu einem ſelbſtändigen Eingreifen in die Lebensſphäre des Einzelnen im Namen der Geſammtentwicklung iſt England noch nicht gelangt. Daher fehlt ihm einerſeits die orga- niſche Entwicklung der Staatsidee zu einem ſelbſtthätigen Verwaltungs- körper, andrerſeits die organiſche Geſetzgebung. In England iſt alles und jedes auf ſich ſelbſt angewieſen, und Englands Freiheit beſteht weſentlich in der rechtlichen Befreiung jeder individuellen Rechtsſphäre von dem Einfluſſe jedes andern. Das iſt Englands Charakter auf allen Punkten, und ſo auch der ſeines öffentlichen Bildungsweſens. In Frankreich hat dagegen die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft zwar geſiegt, aber ihr Sieg in der franzöſiſchen Revolution war der der Gewalt. Und Gewalt erzeugt Gewalt; denn daß jedes Ding das ihm Gleichartige mit all ſeinen Folgen wieder erzeuge, das iſt die wahre und furchtbare Gerechtigkeit aller Geſchichte. Der gewaltſame Sieg jener Geſellſchaft bedingte, daß die Regierung als organiſche Ver- treterin derſelben ſelbſt der Gewalt bedurfte, und die Alleinherrſchaft unter den Formen der Freiheit an ſich riß. Frankreich iſt daher das Land der Macht der Verwaltung, und damit auch das Land, in welchem die Staatsgewalt für ſich alle Aufgaben der Verwaltung in Anſpruch nimmt. Während England das Land iſt, wo die Staats- verwaltung dem Einzelnen zu viel überläßt, iſt Frankreich dasjenige, wo ihm zu wenig überlaſſen wird; während England zeigt, wie viel der kräftige Einzelne für und durch ſich ſelbſt vermag ohne öffentliche Hülfe, hat Frankreich zu lehren, was die Regierung durch ihre Gewalt zu Stande bringt, indem ſie die Einzelnen in der Selbſtverwaltung und dem Vereinsweſen faſt ganz ausſchließt. Während in England daher eine ſtaatliche Organiſation der Verwaltung faſt gänzlich fehlt, iſt in Frankreich jede öffentliche Gewalt ein ſtaatliches Organ. Während England daher der eigentlichen Geſetzgebung ermangelt, und das öffent- liche Recht der Verwaltung weſentlich nur die Gränzen vorſchreibt, innerhalb deren ſich die Selbſtbeſtimmung der Einzelnen zu bewegen hat, iſt in Frankreich vielmehr alles durch die Geſetzgebung und

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 5. Stuttgart, 1868, S. 41. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre05_1868/69>, abgerufen am 21.11.2024.