als Grundlage der Herstellung des wahren Kornpreises fordert zum Theil in Paradoxen (wie P. II: Ou l'on fait voir que plus on en- levera de bles en France, et moins on aura a craindre les ex- tremes chertes). Zu einem System gelangt Boisguillebert jedoch so wenig, als sein Zeitgenosse Vauban in seiner Deime royale (1698), eine Arbeit, welche nicht bloß ein für die damalige Zeit hochwichtiges System der Staatseinnahmen vertrat, sondern durch die an den großen Mathematiker der Befestigungskunst erinnernde Genauigkeit seiner Auf- zeichnungen über die bestehenden Grundlasten in den Seigneuries die Kosten des Landbaus, die Schätzungs- und Verkehrspreise der Grund- stücke und des Korns eines der bedeutendsten -- leider sehr wenig be- nutztes -- historisches Document bildet. Beiden Männern aber ist das gemeinsam, was eigentlich die Kraft der physiokratischen Schule aus- machte: das Verständniß der Bedeutung der Landwirthschaft neben der Industrie; hält man sie neben die eigentlichen Physiokraten, so erkennt man unzweifelhaft, daß die Grundgedanken der letzteren durch- aus nicht neu, sondern nur eine organische Formulirung der Beobach- tungen und Ergebnisse waren, die schon im Anfange des 18. Jahr- hunderts feststanden. Denn beide sind in gleicher Weise für die Befreiung des Handels und der inneren Produktion; vor allem aber ist beiden das große sociale Bewußtsein lebendig, das die wichtigste Thatsache der ganzen physiokratischen Schule bildet. Boisguillebert ver- steht es bereits, die Klasse der Reichen von der der Armen zu scheiden und darauf eine Reihe von Beobachtungen über die Kornpreise zu gründen (so namentlich Traite des Grains, ch. VI). Vauban dagegen ist schon in seiner ganzen Arbeit von dem Bewußtsein durchdrungen, "que le meme peuple qu'on accable et qu'on meprise est le veri- table soutien de l'Etat." Schon hier aber wendet sich die große sociale Frage nicht eben den Gesetzen der Nationalökonomie oder der Gesellschaftslehre, sondern dem "Staate" zu; in ihm, seinem Begriffe, seinen Kräften und seinen Verpflichtungen culminirt diese wissenschaft- liche Richtung, ohne es klar zu wissen und doch die folgende Zeit mit sich fortreißend. Denn es ist der Charakter der französischen Entwicklung überhaupt, der hier in demselben Geiste wie unter Colbert, wenn auch von einem andern Standpunkte aus, vertreten wird. Das Gewicht jener unverkennbaren Thatsachen wendete aber naturgemäß den Blick von der abstrakten Theorie ab, und vielleicht hätte schon damals die Verwaltung eine neue Bahn eingeschlagen, wenn nicht Laws Experi- mente wieder alle Vorstellungen verwirrt und die Gedanken und Hoff- nungen einseitig auf das Geldwesen zurückgerichtet hätten. Die ersten Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts vergessen in dem Papierschwindel
als Grundlage der Herſtellung des wahren Kornpreiſes fordert zum Theil in Paradoxen (wie P. II: Ou l’on fait voir que plus on en- lèvera de blés en France, et moins on aura à craindre les ex- trêmes chertés). Zu einem Syſtem gelangt Boisguillebert jedoch ſo wenig, als ſein Zeitgenoſſe Vauban in ſeiner Dîme royale (1698), eine Arbeit, welche nicht bloß ein für die damalige Zeit hochwichtiges Syſtem der Staatseinnahmen vertrat, ſondern durch die an den großen Mathematiker der Befeſtigungskunſt erinnernde Genauigkeit ſeiner Auf- zeichnungen über die beſtehenden Grundlaſten in den Seigneuries die Koſten des Landbaus, die Schätzungs- und Verkehrspreiſe der Grund- ſtücke und des Korns eines der bedeutendſten — leider ſehr wenig be- nutztes — hiſtoriſches Document bildet. Beiden Männern aber iſt das gemeinſam, was eigentlich die Kraft der phyſiokratiſchen Schule aus- machte: das Verſtändniß der Bedeutung der Landwirthſchaft neben der Induſtrie; hält man ſie neben die eigentlichen Phyſiokraten, ſo erkennt man unzweifelhaft, daß die Grundgedanken der letzteren durch- aus nicht neu, ſondern nur eine organiſche Formulirung der Beobach- tungen und Ergebniſſe waren, die ſchon im Anfange des 18. Jahr- hunderts feſtſtanden. Denn beide ſind in gleicher Weiſe für die Befreiung des Handels und der inneren Produktion; vor allem aber iſt beiden das große ſociale Bewußtſein lebendig, das die wichtigſte Thatſache der ganzen phyſiokratiſchen Schule bildet. Boisguillebert ver- ſteht es bereits, die Klaſſe der Reichen von der der Armen zu ſcheiden und darauf eine Reihe von Beobachtungen über die Kornpreiſe zu gründen (ſo namentlich Traité des Grains, ch. VI). Vauban dagegen iſt ſchon in ſeiner ganzen Arbeit von dem Bewußtſein durchdrungen, „que le même peuple qu’on accable et qu’on méprise est le véri- table soutien de l’État.“ Schon hier aber wendet ſich die große ſociale Frage nicht eben den Geſetzen der Nationalökonomie oder der Geſellſchaftslehre, ſondern dem „Staate“ zu; in ihm, ſeinem Begriffe, ſeinen Kräften und ſeinen Verpflichtungen culminirt dieſe wiſſenſchaft- liche Richtung, ohne es klar zu wiſſen und doch die folgende Zeit mit ſich fortreißend. Denn es iſt der Charakter der franzöſiſchen Entwicklung überhaupt, der hier in demſelben Geiſte wie unter Colbert, wenn auch von einem andern Standpunkte aus, vertreten wird. Das Gewicht jener unverkennbaren Thatſachen wendete aber naturgemäß den Blick von der abſtrakten Theorie ab, und vielleicht hätte ſchon damals die Verwaltung eine neue Bahn eingeſchlagen, wenn nicht Laws Experi- mente wieder alle Vorſtellungen verwirrt und die Gedanken und Hoff- nungen einſeitig auf das Geldweſen zurückgerichtet hätten. Die erſten Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts vergeſſen in dem Papierſchwindel
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als Grundlage der Herſtellung des wahren Kornpreiſes fordert zum
Theil in Paradoxen (wie P. II: Ou l’on fait voir que plus on en-
lèvera de blés en France, et moins on aura à craindre les ex-
trêmes chertés). Zu einem Syſtem gelangt Boisguillebert jedoch ſo
wenig, als ſein Zeitgenoſſe Vauban in ſeiner Dîme royale (1698),
eine Arbeit, welche nicht bloß ein für die damalige Zeit hochwichtiges
Syſtem der Staatseinnahmen vertrat, ſondern durch die an den großen
Mathematiker der Befeſtigungskunſt erinnernde Genauigkeit ſeiner Auf-
zeichnungen über die beſtehenden Grundlaſten in den Seigneuries die
Koſten des Landbaus, die Schätzungs- und Verkehrspreiſe der Grund-
ſtücke und des Korns eines der bedeutendſten — leider ſehr wenig be-
nutztes — hiſtoriſches Document bildet. Beiden Männern aber iſt das
gemeinſam, was eigentlich die Kraft der phyſiokratiſchen Schule aus-
machte: das Verſtändniß der Bedeutung der Landwirthſchaft neben
der Induſtrie; hält man ſie neben die eigentlichen Phyſiokraten, ſo
erkennt man unzweifelhaft, daß die Grundgedanken der letzteren durch-
aus nicht neu, ſondern nur eine organiſche Formulirung der Beobach-
tungen und Ergebniſſe waren, die ſchon im Anfange des 18. Jahr-
hunderts feſtſtanden. Denn beide ſind in gleicher Weiſe für die
Befreiung des Handels und der inneren Produktion; vor allem aber
iſt beiden das große ſociale Bewußtſein lebendig, das die wichtigſte
Thatſache der ganzen phyſiokratiſchen Schule bildet. Boisguillebert ver-
ſteht es bereits, die Klaſſe der Reichen von der der Armen zu ſcheiden
und darauf eine Reihe von Beobachtungen über die Kornpreiſe zu
gründen (ſo namentlich Traité des Grains, ch. VI). Vauban dagegen
iſt ſchon in ſeiner ganzen Arbeit von dem Bewußtſein durchdrungen,
„que le même peuple qu’on accable et qu’on méprise est le véri-
table soutien de l’État.“ Schon hier aber wendet ſich die große
ſociale Frage nicht eben den Geſetzen der Nationalökonomie oder der
Geſellſchaftslehre, ſondern dem „Staate“ zu; in ihm, ſeinem Begriffe,
ſeinen Kräften und ſeinen Verpflichtungen culminirt dieſe wiſſenſchaft-
liche Richtung, ohne es klar zu wiſſen und doch die folgende Zeit mit
ſich fortreißend. Denn es iſt der Charakter der franzöſiſchen Entwicklung
überhaupt, der hier in demſelben Geiſte wie unter Colbert, wenn auch
von einem andern Standpunkte aus, vertreten wird. Das Gewicht
jener unverkennbaren Thatſachen wendete aber naturgemäß den Blick
von der abſtrakten Theorie ab, und vielleicht hätte ſchon damals die
Verwaltung eine neue Bahn eingeſchlagen, wenn nicht Laws Experi-
mente wieder alle Vorſtellungen verwirrt und die Gedanken und Hoff-
nungen einſeitig auf das Geldweſen zurückgerichtet hätten. Die erſten
Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts vergeſſen in dem Papierſchwindel
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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 7. Stuttgart, 1868, S. 32. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre07_1868/50>, abgerufen am 03.12.2024.
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