nannten uns "Karaiba" mit deutlicher Betonung des "a"; das Wort lässt sich aus ihrer Sprache erklären als "nicht wie wir", während der Gegensatz "wie wir" Karale heisst. Doch wollen wir die recht unsichere Etymologie beiseite lassen, es kann uns genügen, dass das Wort ein in unserm Sinn karaibisches ist, von den Tupi des Kulisehu in der schon verkürzten Form "karai" -- nicht in der Form "karyb" der Lingoa geral! -- übernommen wurde und nach Allem für uns "Karaibe" und nicht, wie man sich jetzt vielfach zu schreiben gewöhnt hat, "Karibe" lauten muss. Karaiben sind am obern Schingu die Bakairi und die Nahuqua. Ihre Sprache ist grundverschieden von dem Tupi und die Lieblings- hypothese mehrerer ausgezeichneten Forscher, dass die Tupi und die Karaiben Verwandte seien, ist durch die beiden Schinguexpeditionen endgültig beseitigt worden; die Wurzelwörter der beiden Sprachen zeigen keine Uebereinstimmung.
Die Nu-Aruak zerfallen in die Unterabteilungen der Nu-Stämme und der Aruak. "Nu-" bedeutet das Leitfossil dieser Stämme, das für die meisten von ihnen höchst charakteristische Pronominalpräfix der ersten Person, dem wir von Bolivien und vom Matogrosso bis zu den Kleinen Antillen begegnen. Die Nu-Aruak sehen wir in den Guyanas in inniger Berührung mit den Karaiben; auf den Kleinen Antillen, wo die Aruak von den Karaiben überfallen und vergewaltigt worden waren, wäre ohne die Vernichtung bringende Ankunft der Europäer aller Wahrscheinlichkeit nach eine wirkliche Verschmelzung zu Stande gekommen: der Pater Raymond Breton hat uns 1665 ein Wörterbuch der Inselkaraiben überliefert, dessen indianisch-französischer Teil, leider nur dieser, durch das Verdienst von Julius Platzmann in einer Facsimile-Ausgabe allgemein zugänglich geworden ist (Leipzig 1892), und hat sich redlich bemüht, die Wörter der karaibischen Männer und die der aruakischen Weiber, wo sie verschieden lauteten, auseinander zu halten, durch seine Zusammenstellung aber bewiesen, dass durchaus nicht mehr, wie bereits oben erwähnt, zwei Sprachen selbstständig nebeneinander gesprochen wurden, sondern dass die karaibischen Männer den Stoff und Bau ihrer alten "Muttersprache" ganz gewaltig durch die neue "Sprache ihrer Mütter" hatten verändern lassen.
An dem weit entfernten Kulisehu haben wir das genaue Spiegelbild der Verhältnisse in den Guyanas angetroffen. Die Mehinaku, Kustenau, Waura und Yaulapiti sind Nu-Aruak; ihr Einfluss machte sich bei den Nahuqua, die mehrere Mehinaku-Weiber aufgenommen hatten, in Sprache und Kulturschatz deutlich geltend.
Die Stämme des Schingu-Quellgebiets sind also nach der linguistischen Untersuchung folgendermassen zu klassifizieren (die Zahl der Ortschaften in Klammern):
nannten uns „Karáiba“ mit deutlicher Betonung des „a“; das Wort lässt sich aus ihrer Sprache erklären als »nicht wie wir«, während der Gegensatz »wie wir« Karále heisst. Doch wollen wir die recht unsichere Etymologie beiseite lassen, es kann uns genügen, dass das Wort ein in unserm Sinn karaibisches ist, von den Tupí des Kulisehu in der schon verkürzten Form „karaí“ — nicht in der Form „karyb“ der Lingoa geral! — übernommen wurde und nach Allem für uns »Karaibe« und nicht, wie man sich jetzt vielfach zu schreiben gewöhnt hat, »Karibe« lauten muss. Karaiben sind am obern Schingú die Bakaïrí und die Nahuquá. Ihre Sprache ist grundverschieden von dem Tupí und die Lieblings- hypothese mehrerer ausgezeichneten Forscher, dass die Tupí und die Karaiben Verwandte seien, ist durch die beiden Schingúexpeditionen endgültig beseitigt worden; die Wurzelwörter der beiden Sprachen zeigen keine Uebereinstimmung.
Die Nu-Aruak zerfallen in die Unterabteilungen der Nu-Stämme und der Aruak. »Nu-« bedeutet das Leitfossil dieser Stämme, das für die meisten von ihnen höchst charakteristische Pronominalpräfix der ersten Person, dem wir von Bolivien und vom Matogrosso bis zu den Kleinen Antillen begegnen. Die Nu-Aruak sehen wir in den Guyanas in inniger Berührung mit den Karaiben; auf den Kleinen Antillen, wo die Aruak von den Karaiben überfallen und vergewaltigt worden waren, wäre ohne die Vernichtung bringende Ankunft der Europäer aller Wahrscheinlichkeit nach eine wirkliche Verschmelzung zu Stande gekommen: der Pater Raymond Breton hat uns 1665 ein Wörterbuch der Inselkaraiben überliefert, dessen indianisch-französischer Teil, leider nur dieser, durch das Verdienst von Julius Platzmann in einer Facsimile-Ausgabe allgemein zugänglich geworden ist (Leipzig 1892), und hat sich redlich bemüht, die Wörter der karaibischen Männer und die der aruakischen Weiber, wo sie verschieden lauteten, auseinander zu halten, durch seine Zusammenstellung aber bewiesen, dass durchaus nicht mehr, wie bereits oben erwähnt, zwei Sprachen selbstständig nebeneinander gesprochen wurden, sondern dass die karaibischen Männer den Stoff und Bau ihrer alten »Muttersprache« ganz gewaltig durch die neue »Sprache ihrer Mütter« hatten verändern lassen.
An dem weit entfernten Kulisehu haben wir das genaue Spiegelbild der Verhältnisse in den Guyanas angetroffen. Die Mehinakú, Kustenaú, Waurá und Yaulapiti sind Nu-Aruak; ihr Einfluss machte sich bei den Nahuquá, die mehrere Mehinakú-Weiber aufgenommen hatten, in Sprache und Kulturschatz deutlich geltend.
Die Stämme des Schingú-Quellgebiets sind also nach der linguistischen Untersuchung folgendermassen zu klassifizieren (die Zahl der Ortschaften in Klammern):
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0198"n="158"/>
nannten uns „<hirendition="#i">Karáiba</hi>“ mit deutlicher Betonung des „<hirendition="#i">a</hi>“; das Wort lässt sich aus<lb/>
ihrer Sprache erklären als »nicht wie wir«, während der Gegensatz »wie wir«<lb/><hirendition="#i">Karále</hi> heisst. Doch wollen wir die recht unsichere Etymologie beiseite lassen,<lb/>
es kann uns genügen, dass das Wort ein in unserm Sinn karaibisches ist, von<lb/>
den Tupí des Kulisehu in der schon verkürzten Form „<hirendition="#i">karaí</hi>“— nicht in der<lb/>
Form „<hirendition="#i">karyb</hi>“ der Lingoa geral! — übernommen wurde und nach Allem für uns<lb/>
»<hirendition="#g">Karaibe</hi>« und nicht, wie man sich jetzt vielfach zu schreiben gewöhnt hat,<lb/>
»Karibe« lauten muss. Karaiben sind am obern Schingú die <hirendition="#g">Bakaïrí</hi> und die<lb/><hirendition="#g">Nahuquá</hi>. Ihre Sprache ist grundverschieden von dem Tupí und die Lieblings-<lb/>
hypothese mehrerer ausgezeichneten Forscher, dass die Tupí und die Karaiben<lb/>
Verwandte seien, ist durch die beiden Schingúexpeditionen endgültig beseitigt<lb/>
worden; die Wurzelwörter der beiden Sprachen zeigen keine Uebereinstimmung.</p><lb/><p>Die <hirendition="#g">Nu-Aruak</hi> zerfallen in die Unterabteilungen der Nu-Stämme und der<lb/>
Aruak. »Nu-« bedeutet das Leitfossil dieser Stämme, das für die meisten von<lb/>
ihnen höchst charakteristische Pronominalpräfix der ersten Person, dem wir von<lb/>
Bolivien und vom Matogrosso bis zu den Kleinen Antillen begegnen. Die Nu-Aruak<lb/>
sehen wir in den Guyanas in inniger Berührung mit den Karaiben; auf den Kleinen<lb/>
Antillen, wo die Aruak von den Karaiben überfallen und vergewaltigt worden waren,<lb/>
wäre ohne die Vernichtung bringende Ankunft der Europäer aller Wahrscheinlichkeit<lb/>
nach eine wirkliche Verschmelzung zu Stande gekommen: der Pater <hirendition="#g">Raymond<lb/>
Breton</hi> hat uns 1665 ein Wörterbuch der Inselkaraiben überliefert, dessen<lb/>
indianisch-französischer Teil, leider nur dieser, durch das Verdienst von <hirendition="#g">Julius<lb/>
Platzmann</hi> in einer Facsimile-Ausgabe allgemein zugänglich geworden ist<lb/>
(Leipzig 1892), und hat sich redlich bemüht, die Wörter der karaibischen Männer<lb/>
und die der aruakischen Weiber, wo sie verschieden lauteten, auseinander zu<lb/>
halten, durch seine Zusammenstellung aber bewiesen, dass durchaus nicht mehr,<lb/>
wie bereits oben erwähnt, zwei Sprachen selbstständig nebeneinander gesprochen<lb/>
wurden, sondern dass die karaibischen Männer den Stoff und Bau ihrer alten<lb/>
»Muttersprache« ganz gewaltig durch die neue »Sprache ihrer Mütter« hatten<lb/>
verändern lassen.</p><lb/><p>An dem weit entfernten Kulisehu haben wir das genaue Spiegelbild der<lb/>
Verhältnisse in den Guyanas angetroffen. Die <hirendition="#g">Mehinakú, Kustenaú, Waurá</hi><lb/>
und <hirendition="#g">Yaulapiti</hi> sind Nu-Aruak; ihr Einfluss machte sich bei den Nahuquá, die<lb/>
mehrere Mehinakú-Weiber aufgenommen hatten, in Sprache und Kulturschatz<lb/>
deutlich geltend.</p><lb/><p>Die Stämme des Schingú-Quellgebiets sind also nach der linguistischen<lb/>
Untersuchung folgendermassen zu klassifizieren (die Zahl der Ortschaften in<lb/>
Klammern):</p><lb/><list><item><hirendition="#g">Karaiben</hi>: Bakaïrí (8), Nahuquá (9);</item><lb/><item><hirendition="#g">Nu-Aruak</hi>: Mehinakú (3), Waurá (1), Kustenaú (1) Yaulapiti (2);</item><lb/><item><hirendition="#g">Tupí</hi>: Kamayurá (4), Auetö́ (1);</item><lb/><item><hirendition="#g">Isolirt</hi>: trumaí (2).</item></list><lb/></div></div></body></text></TEI>
[158/0198]
nannten uns „Karáiba“ mit deutlicher Betonung des „a“; das Wort lässt sich aus
ihrer Sprache erklären als »nicht wie wir«, während der Gegensatz »wie wir«
Karále heisst. Doch wollen wir die recht unsichere Etymologie beiseite lassen,
es kann uns genügen, dass das Wort ein in unserm Sinn karaibisches ist, von
den Tupí des Kulisehu in der schon verkürzten Form „karaí“ — nicht in der
Form „karyb“ der Lingoa geral! — übernommen wurde und nach Allem für uns
»Karaibe« und nicht, wie man sich jetzt vielfach zu schreiben gewöhnt hat,
»Karibe« lauten muss. Karaiben sind am obern Schingú die Bakaïrí und die
Nahuquá. Ihre Sprache ist grundverschieden von dem Tupí und die Lieblings-
hypothese mehrerer ausgezeichneten Forscher, dass die Tupí und die Karaiben
Verwandte seien, ist durch die beiden Schingúexpeditionen endgültig beseitigt
worden; die Wurzelwörter der beiden Sprachen zeigen keine Uebereinstimmung.
Die Nu-Aruak zerfallen in die Unterabteilungen der Nu-Stämme und der
Aruak. »Nu-« bedeutet das Leitfossil dieser Stämme, das für die meisten von
ihnen höchst charakteristische Pronominalpräfix der ersten Person, dem wir von
Bolivien und vom Matogrosso bis zu den Kleinen Antillen begegnen. Die Nu-Aruak
sehen wir in den Guyanas in inniger Berührung mit den Karaiben; auf den Kleinen
Antillen, wo die Aruak von den Karaiben überfallen und vergewaltigt worden waren,
wäre ohne die Vernichtung bringende Ankunft der Europäer aller Wahrscheinlichkeit
nach eine wirkliche Verschmelzung zu Stande gekommen: der Pater Raymond
Breton hat uns 1665 ein Wörterbuch der Inselkaraiben überliefert, dessen
indianisch-französischer Teil, leider nur dieser, durch das Verdienst von Julius
Platzmann in einer Facsimile-Ausgabe allgemein zugänglich geworden ist
(Leipzig 1892), und hat sich redlich bemüht, die Wörter der karaibischen Männer
und die der aruakischen Weiber, wo sie verschieden lauteten, auseinander zu
halten, durch seine Zusammenstellung aber bewiesen, dass durchaus nicht mehr,
wie bereits oben erwähnt, zwei Sprachen selbstständig nebeneinander gesprochen
wurden, sondern dass die karaibischen Männer den Stoff und Bau ihrer alten
»Muttersprache« ganz gewaltig durch die neue »Sprache ihrer Mütter« hatten
verändern lassen.
An dem weit entfernten Kulisehu haben wir das genaue Spiegelbild der
Verhältnisse in den Guyanas angetroffen. Die Mehinakú, Kustenaú, Waurá
und Yaulapiti sind Nu-Aruak; ihr Einfluss machte sich bei den Nahuquá, die
mehrere Mehinakú-Weiber aufgenommen hatten, in Sprache und Kulturschatz
deutlich geltend.
Die Stämme des Schingú-Quellgebiets sind also nach der linguistischen
Untersuchung folgendermassen zu klassifizieren (die Zahl der Ortschaften in
Klammern):
Karaiben: Bakaïrí (8), Nahuquá (9);
Nu-Aruak: Mehinakú (3), Waurá (1), Kustenaú (1) Yaulapiti (2);
Tupí: Kamayurá (4), Auetö́ (1);
Isolirt: trumaí (2).
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Steinen, Karl von den: Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Berlin, 1894, S. 158. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinen_naturvoelker_1894/198>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.