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Steinen, Karl von den: Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Berlin, 1894.

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denn die lautlichen Erweichungsvorgänge und das Verschwinden der Stammanlaute,
die überall bei den einzelnen Dialekten vorhanden sind, zeigen eine gleich gerichtete,
aber dem Grade und den Grenzen nach überall verschieden abgestufte Ent-
wicklung, zeigen nur Entsprechungen und keine Uebereinstimmungen, können also
erst nach der Abtrennung von dem Grundvolk in Gang gekommen sein. Dennoch
haben schon die Grundvölker die Namen der wichtigsten Nutzpflanzen; sie sind
gänzlich verschieden von einem Grundvolk zum andern, sie sind aber dem einzelnen
Grundstock gemeinsam mit einer grösseren oder geringeren Anzahl der Zweige.
Für die Karaiben glaube ich diese Sätze in meiner Bakairi-Grammatik erwiesen
zu haben, für die Tupi darf ich sie nach neueren Studien gleichfalls behaupten,
für die Nu-Aruak, wo das Material unzulänglich und schwierig ist, enthalte ich
mich jeden Urteils und verweise nur darauf, dass wir aus geschichtlichen und
ethnologischen Daten schliessen müssen, dass die Nu-Aruak sicherlich eine ältere
Kultur besitzen als die Karaiben und gar die Ges, und eine ältere wahrscheinlich
auch als die Tupi, Die Trumai haben ihre Namen für die wichtigsten Nutz-
pflanzen teils von den Nu-Aruak, teils von den Tupi entlehnt.

So haben wir einen Widerspruch gegen die landläufige Auffassung: uralten
Feldbau neben der Weltanschauung des Jägertums. die Bakairi sagten mir,
"unsere Grossväter wussten nichts von Mais und Mandioka, sie assen dafür Erde"
-- wovon die heutigen Indianer nur naschen. In dem Bagadu-Märchen erzählen sie,
dass die Mandioka den Kampbewohnern erst geschenkt worden sei. Man begegnet
im Matogrosso verschiedenen Stufen der Entwicklung nebeneinander: in den Bo-
roro
werden wir einen mächtigen Stamm kennen lernen, dem das Anbauen von
Nährpflanzen ein unverständliches Beginnen war, der ohne Not die für ihn gepflanzten
Mandiokawurzeln, kaum dass es junge, dünne Wurzelstengel waren, eiligst ausriss
und verzehrte -- wir erkennen aus der Sprache und hören auch aus der Ueber-
lieferung, dass die Trumai erst spät in dem Feldbau von ihren Nachbarn unter-
richtet worden sind und finden bei ihnen vortrefflich gehaltene, ausgedehnte
Pflanzungen -- wir sehen endlich die übrigen Schingu-Indianer abhängig von
den Früchten des Feldes, doch in ihrem ganzen Denken und Empfinden von der
Freude am urspünglichen Jägerberuf erfüllt.

Allein der Gang kann sich nicht so abgesetzt stufenweise und mehr oder
minder sprungweise nach dem Schema vollzogen haben. Um dies einzusehen,
müssen wir nur noch einem andern Problem etwas näher treten. Die Schingu-
stämme hatten keine Metalle. Man sagt, sie lebten in der "Steinzeit".

Leider ist das Studium der vormetallischen Perioden ganz vorwiegend an
dem stummen Material der Ausgrabungen herangebildet worden. So hat man
zunächst die Verwirrung der Begriffe entstehen lassen, dass "Steinzeit" und "Prae-
historie" häufig als Ausdrücke gelten, die sich decken, obwohl die Völker, die ihre
Geschichte selbst geschrieben haben, dies erst thaten, als sie die Metalle längst
besassen, und obwohl neben ihnen und zu gleicher Zeit metalllose Völker, "vor-
geschichtliche" mit geschichtlichen zusammen gelebt haben. Dann aber hat man

denn die lautlichen Erweichungsvorgänge und das Verschwinden der Stammanlaute,
die überall bei den einzelnen Dialekten vorhanden sind, zeigen eine gleich gerichtete,
aber dem Grade und den Grenzen nach überall verschieden abgestufte Ent-
wicklung, zeigen nur Entsprechungen und keine Uebereinstimmungen, können also
erst nach der Abtrennung von dem Grundvolk in Gang gekommen sein. Dennoch
haben schon die Grundvölker die Namen der wichtigsten Nutzpflanzen; sie sind
gänzlich verschieden von einem Grundvolk zum andern, sie sind aber dem einzelnen
Grundstock gemeinsam mit einer grösseren oder geringeren Anzahl der Zweige.
Für die Karaiben glaube ich diese Sätze in meiner Bakaïrí-Grammatik erwiesen
zu haben, für die Tupí darf ich sie nach neueren Studien gleichfalls behaupten,
für die Nu-Aruak, wo das Material unzulänglich und schwierig ist, enthalte ich
mich jeden Urteils und verweise nur darauf, dass wir aus geschichtlichen und
ethnologischen Daten schliessen müssen, dass die Nu-Aruak sicherlich eine ältere
Kultur besitzen als die Karaiben und gar die Gēs, und eine ältere wahrscheinlich
auch als die Tupí, Die Trumaí haben ihre Namen für die wichtigsten Nutz-
pflanzen teils von den Nu-Aruak, teils von den Tupí entlehnt.

So haben wir einen Widerspruch gegen die landläufige Auffassung: uralten
Feldbau neben der Weltanschauung des Jägertums. die Bakaïrí sagten mir,
»unsere Grossväter wussten nichts von Mais und Mandioka, sie assen dafür Erde«
— wovon die heutigen Indianer nur naschen. In dem Bagadú-Märchen erzählen sie,
dass die Mandioka den Kampbewohnern erst geschenkt worden sei. Man begegnet
im Matogrosso verschiedenen Stufen der Entwicklung nebeneinander: in den Bo-
roró
werden wir einen mächtigen Stamm kennen lernen, dem das Anbauen von
Nährpflanzen ein unverständliches Beginnen war, der ohne Not die für ihn gepflanzten
Mandiokawurzeln, kaum dass es junge, dünne Wurzelstengel waren, eiligst ausriss
und verzehrte — wir erkennen aus der Sprache und hören auch aus der Ueber-
lieferung, dass die Trumaí erst spät in dem Feldbau von ihren Nachbarn unter-
richtet worden sind und finden bei ihnen vortrefflich gehaltene, ausgedehnte
Pflanzungen — wir sehen endlich die übrigen Schingú-Indianer abhängig von
den Früchten des Feldes, doch in ihrem ganzen Denken und Empfinden von der
Freude am urspünglichen Jägerberuf erfüllt.

Allein der Gang kann sich nicht so abgesetzt stufenweise und mehr oder
minder sprungweise nach dem Schema vollzogen haben. Um dies einzusehen,
müssen wir nur noch einem andern Problem etwas näher treten. Die Schingú-
stämme hatten keine Metalle. Man sagt, sie lebten in der »Steinzeit«.

Leider ist das Studium der vormetallischen Perioden ganz vorwiegend an
dem stummen Material der Ausgrabungen herangebildet worden. So hat man
zunächst die Verwirrung der Begriffe entstehen lassen, dass »Steinzeit« und »Prae-
historie« häufig als Ausdrücke gelten, die sich decken, obwohl die Völker, die ihre
Geschichte selbst geschrieben haben, dies erst thaten, als sie die Metalle längst
besassen, und obwohl neben ihnen und zu gleicher Zeit metalllose Völker, »vor-
geschichtliche« mit geschichtlichen zusammen gelebt haben. Dann aber hat man

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[202/0246] denn die lautlichen Erweichungsvorgänge und das Verschwinden der Stammanlaute, die überall bei den einzelnen Dialekten vorhanden sind, zeigen eine gleich gerichtete, aber dem Grade und den Grenzen nach überall verschieden abgestufte Ent- wicklung, zeigen nur Entsprechungen und keine Uebereinstimmungen, können also erst nach der Abtrennung von dem Grundvolk in Gang gekommen sein. Dennoch haben schon die Grundvölker die Namen der wichtigsten Nutzpflanzen; sie sind gänzlich verschieden von einem Grundvolk zum andern, sie sind aber dem einzelnen Grundstock gemeinsam mit einer grösseren oder geringeren Anzahl der Zweige. Für die Karaiben glaube ich diese Sätze in meiner Bakaïrí-Grammatik erwiesen zu haben, für die Tupí darf ich sie nach neueren Studien gleichfalls behaupten, für die Nu-Aruak, wo das Material unzulänglich und schwierig ist, enthalte ich mich jeden Urteils und verweise nur darauf, dass wir aus geschichtlichen und ethnologischen Daten schliessen müssen, dass die Nu-Aruak sicherlich eine ältere Kultur besitzen als die Karaiben und gar die Gēs, und eine ältere wahrscheinlich auch als die Tupí, Die Trumaí haben ihre Namen für die wichtigsten Nutz- pflanzen teils von den Nu-Aruak, teils von den Tupí entlehnt. So haben wir einen Widerspruch gegen die landläufige Auffassung: uralten Feldbau neben der Weltanschauung des Jägertums. die Bakaïrí sagten mir, »unsere Grossväter wussten nichts von Mais und Mandioka, sie assen dafür Erde« — wovon die heutigen Indianer nur naschen. In dem Bagadú-Märchen erzählen sie, dass die Mandioka den Kampbewohnern erst geschenkt worden sei. Man begegnet im Matogrosso verschiedenen Stufen der Entwicklung nebeneinander: in den Bo- roró werden wir einen mächtigen Stamm kennen lernen, dem das Anbauen von Nährpflanzen ein unverständliches Beginnen war, der ohne Not die für ihn gepflanzten Mandiokawurzeln, kaum dass es junge, dünne Wurzelstengel waren, eiligst ausriss und verzehrte — wir erkennen aus der Sprache und hören auch aus der Ueber- lieferung, dass die Trumaí erst spät in dem Feldbau von ihren Nachbarn unter- richtet worden sind und finden bei ihnen vortrefflich gehaltene, ausgedehnte Pflanzungen — wir sehen endlich die übrigen Schingú-Indianer abhängig von den Früchten des Feldes, doch in ihrem ganzen Denken und Empfinden von der Freude am urspünglichen Jägerberuf erfüllt. Allein der Gang kann sich nicht so abgesetzt stufenweise und mehr oder minder sprungweise nach dem Schema vollzogen haben. Um dies einzusehen, müssen wir nur noch einem andern Problem etwas näher treten. Die Schingú- stämme hatten keine Metalle. Man sagt, sie lebten in der »Steinzeit«. Leider ist das Studium der vormetallischen Perioden ganz vorwiegend an dem stummen Material der Ausgrabungen herangebildet worden. So hat man zunächst die Verwirrung der Begriffe entstehen lassen, dass »Steinzeit« und »Prae- historie« häufig als Ausdrücke gelten, die sich decken, obwohl die Völker, die ihre Geschichte selbst geschrieben haben, dies erst thaten, als sie die Metalle längst besassen, und obwohl neben ihnen und zu gleicher Zeit metalllose Völker, »vor- geschichtliche« mit geschichtlichen zusammen gelebt haben. Dann aber hat man

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Zitationshilfe: Steinen, Karl von den: Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Berlin, 1894, S. 202. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinen_naturvoelker_1894/246>, abgerufen am 21.11.2024.