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Steinen, Karl von den: Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Berlin, 1894.

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Verschiedenheiten und Uebereinstimmungen innerhalb derselben Sprachfamilie er-
zeugt haben; dass dabei aber trotz der Veränderungen eine wirkliche Stetigkeit
vorgewaltet hat, geht aus der, zumal bei der Dürftigkeit unseres Materials, über-
raschend grossen Zahl guter Uebereinstimmungen hervor. Wo es möglich ist,
die Lautgesetze festzustellen, sehen wir dieselbe Sicherheit und Regelmässigkeit,
wie wir sie bei unsern europäischen Sprachen finden. Wir können also nur auf
einen trotz gelegentlicher Katastrophen geordneten Entwicklungsgang zurück-
schliessen. Schon die Jägerstämme müssen eine, wenn auch unregelmässigere Art
der Sesshaftigkeit gehabt haben, um die prächtige Technik der Pfeile und Bogen
zu erwerben, nur in dem friedlichen Dahinleben während Generationen können
alsdann die Nutzpflanzen gewonnen sein, und es ist gar nicht nötig, dass es immer
grosse und mächtige Stämme gewesen sind, die einen Fortschritt hervorgebracht
haben. Wir sehen an den Schinguleuten, dass der primitive Feldbau des Fisch-
fangs und der Jagd schon deshalb bedarf, damit er sein Handwerkszeug erhält.
Die Erkenntnis, die sich jetzt in Nordamerika durchringt, dass die ruhelosen Rot-
häute in weit grösserem Umfang sesshaft gewesen sind, als wir ihnen heute zu-
trauen sollten, dass diese wilden Jägerstämme zum Teil das Produkt der von uns
herbeigeführten Umwälzung darstellen, steht in voller Uebereinstimmung mit den
Schlüssen, zu denen wir durch die Erfahrungen am Schingu gedrängt werden.

Es giebt für unsere Indianer -- Verallgemeinerung liegt mir fern -- noch
einen tiefer liegenden und doch recht einfachen Grund, der das Nebeneinander
von blutiger Jagd und stiller Bestellung des Bodens sehr wohl erklärt. Um es
schroff auszudrücken: der Mann hat die Jagd betrieben und währenddess die
Frau den Feldbau erfunden. Die Frauen haben, wie in ganz Brasilien, aus-
schliesslich nicht nur die Zubereitung im Hause, sondern auch den Anbau der
Mandioka in Händen. Sie reinigen den Boden mit spitzen Hölzern vom Unkraut,
legen die Stengelstücke in die Erde, mit denen man die Mandioka verpflanzt und
holen täglich ihren Bedarf, den sie in schwer bepackten Kiepen heimschleppen.
Der Mann pflanzt dagegen den Tabak, den die Frau nicht gebraucht. Am
Schingu hatte die Frau bereits ein kräftiges Wörtlein mitzureden; in primitiveren
Zuständen mag sie wirklich ein Last- und Arbeitstier gewesen sein, noch heute
muss sie bei den meisten Festen und Tiertänzen der Männer fern bleiben. Aber
man überlege den Fall etwas näher. Der Mann ist mutiger und gewandter, ihm
gehört die Jagd und die Uebung der Waffen. Wo also Jagd und Fischfang noch
eine wichtige Rolle spielen, muss, sofern überhaupt eine Arbeitsteilung eintritt, die
Frau sich mit der Sorge um die Beschaffung der übrigen Lebensmittel, mit dem
Transport und der Zubereitung beschäftigen. Die Teilung ist keine der Willkür,
sondern eine der natürlichen Verhältnisse, aber sie hat die nicht genug gewürdigte
Folge, dass die Frau auf ihrem Arbeitsfelde ebenso gut eigene Kenntnisse
erwirbt, wie der Mann auf dem seinen. Notwendig muss sich dies auf jeder
niederen oder höheren Stufe bewähren. Zu der den Mandiokabau mit klugem
Verständnis betreibenden Indianerin findet sich das Gegenstück bereits im reinen

Verschiedenheiten und Uebereinstimmungen innerhalb derselben Sprachfamilie er-
zeugt haben; dass dabei aber trotz der Veränderungen eine wirkliche Stetigkeit
vorgewaltet hat, geht aus der, zumal bei der Dürftigkeit unseres Materials, über-
raschend grossen Zahl guter Uebereinstimmungen hervor. Wo es möglich ist,
die Lautgesetze festzustellen, sehen wir dieselbe Sicherheit und Regelmässigkeit,
wie wir sie bei unsern europäischen Sprachen finden. Wir können also nur auf
einen trotz gelegentlicher Katastrophen geordneten Entwicklungsgang zurück-
schliessen. Schon die Jägerstämme müssen eine, wenn auch unregelmässigere Art
der Sesshaftigkeit gehabt haben, um die prächtige Technik der Pfeile und Bogen
zu erwerben, nur in dem friedlichen Dahinleben während Generationen können
alsdann die Nutzpflanzen gewonnen sein, und es ist gar nicht nötig, dass es immer
grosse und mächtige Stämme gewesen sind, die einen Fortschritt hervorgebracht
haben. Wir sehen an den Schingúleuten, dass der primitive Feldbau des Fisch-
fangs und der Jagd schon deshalb bedarf, damit er sein Handwerkszeug erhält.
Die Erkenntnis, die sich jetzt in Nordamerika durchringt, dass die ruhelosen Rot-
häute in weit grösserem Umfang sesshaft gewesen sind, als wir ihnen heute zu-
trauen sollten, dass diese wilden Jägerstämme zum Teil das Produkt der von uns
herbeigeführten Umwälzung darstellen, steht in voller Uebereinstimmung mit den
Schlüssen, zu denen wir durch die Erfahrungen am Schingú gedrängt werden.

Es giebt für unsere Indianer — Verallgemeinerung liegt mir fern — noch
einen tiefer liegenden und doch recht einfachen Grund, der das Nebeneinander
von blutiger Jagd und stiller Bestellung des Bodens sehr wohl erklärt. Um es
schroff auszudrücken: der Mann hat die Jagd betrieben und währenddess die
Frau den Feldbau erfunden. Die Frauen haben, wie in ganz Brasilien, aus-
schliesslich nicht nur die Zubereitung im Hause, sondern auch den Anbau der
Mandioka in Händen. Sie reinigen den Boden mit spitzen Hölzern vom Unkraut,
legen die Stengelstücke in die Erde, mit denen man die Mandioka verpflanzt und
holen täglich ihren Bedarf, den sie in schwer bepackten Kiepen heimschleppen.
Der Mann pflanzt dagegen den Tabak, den die Frau nicht gebraucht. Am
Schingú hatte die Frau bereits ein kräftiges Wörtlein mitzureden; in primitiveren
Zuständen mag sie wirklich ein Last- und Arbeitstier gewesen sein, noch heute
muss sie bei den meisten Festen und Tiertänzen der Männer fern bleiben. Aber
man überlege den Fall etwas näher. Der Mann ist mutiger und gewandter, ihm
gehört die Jagd und die Uebung der Waffen. Wo also Jagd und Fischfang noch
eine wichtige Rolle spielen, muss, sofern überhaupt eine Arbeitsteilung eintritt, die
Frau sich mit der Sorge um die Beschaffung der übrigen Lebensmittel, mit dem
Transport und der Zubereitung beschäftigen. Die Teilung ist keine der Willkür,
sondern eine der natürlichen Verhältnisse, aber sie hat die nicht genug gewürdigte
Folge, dass die Frau auf ihrem Arbeitsfelde ebenso gut eigene Kenntnisse
erwirbt, wie der Mann auf dem seinen. Notwendig muss sich dies auf jeder
niederen oder höheren Stufe bewähren. Zu der den Mandiokabau mit klugem
Verständnis betreibenden Indianerin findet sich das Gegenstück bereits im reinen

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[214/0258] Verschiedenheiten und Uebereinstimmungen innerhalb derselben Sprachfamilie er- zeugt haben; dass dabei aber trotz der Veränderungen eine wirkliche Stetigkeit vorgewaltet hat, geht aus der, zumal bei der Dürftigkeit unseres Materials, über- raschend grossen Zahl guter Uebereinstimmungen hervor. Wo es möglich ist, die Lautgesetze festzustellen, sehen wir dieselbe Sicherheit und Regelmässigkeit, wie wir sie bei unsern europäischen Sprachen finden. Wir können also nur auf einen trotz gelegentlicher Katastrophen geordneten Entwicklungsgang zurück- schliessen. Schon die Jägerstämme müssen eine, wenn auch unregelmässigere Art der Sesshaftigkeit gehabt haben, um die prächtige Technik der Pfeile und Bogen zu erwerben, nur in dem friedlichen Dahinleben während Generationen können alsdann die Nutzpflanzen gewonnen sein, und es ist gar nicht nötig, dass es immer grosse und mächtige Stämme gewesen sind, die einen Fortschritt hervorgebracht haben. Wir sehen an den Schingúleuten, dass der primitive Feldbau des Fisch- fangs und der Jagd schon deshalb bedarf, damit er sein Handwerkszeug erhält. Die Erkenntnis, die sich jetzt in Nordamerika durchringt, dass die ruhelosen Rot- häute in weit grösserem Umfang sesshaft gewesen sind, als wir ihnen heute zu- trauen sollten, dass diese wilden Jägerstämme zum Teil das Produkt der von uns herbeigeführten Umwälzung darstellen, steht in voller Uebereinstimmung mit den Schlüssen, zu denen wir durch die Erfahrungen am Schingú gedrängt werden. Es giebt für unsere Indianer — Verallgemeinerung liegt mir fern — noch einen tiefer liegenden und doch recht einfachen Grund, der das Nebeneinander von blutiger Jagd und stiller Bestellung des Bodens sehr wohl erklärt. Um es schroff auszudrücken: der Mann hat die Jagd betrieben und währenddess die Frau den Feldbau erfunden. Die Frauen haben, wie in ganz Brasilien, aus- schliesslich nicht nur die Zubereitung im Hause, sondern auch den Anbau der Mandioka in Händen. Sie reinigen den Boden mit spitzen Hölzern vom Unkraut, legen die Stengelstücke in die Erde, mit denen man die Mandioka verpflanzt und holen täglich ihren Bedarf, den sie in schwer bepackten Kiepen heimschleppen. Der Mann pflanzt dagegen den Tabak, den die Frau nicht gebraucht. Am Schingú hatte die Frau bereits ein kräftiges Wörtlein mitzureden; in primitiveren Zuständen mag sie wirklich ein Last- und Arbeitstier gewesen sein, noch heute muss sie bei den meisten Festen und Tiertänzen der Männer fern bleiben. Aber man überlege den Fall etwas näher. Der Mann ist mutiger und gewandter, ihm gehört die Jagd und die Uebung der Waffen. Wo also Jagd und Fischfang noch eine wichtige Rolle spielen, muss, sofern überhaupt eine Arbeitsteilung eintritt, die Frau sich mit der Sorge um die Beschaffung der übrigen Lebensmittel, mit dem Transport und der Zubereitung beschäftigen. Die Teilung ist keine der Willkür, sondern eine der natürlichen Verhältnisse, aber sie hat die nicht genug gewürdigte Folge, dass die Frau auf ihrem Arbeitsfelde ebenso gut eigene Kenntnisse erwirbt, wie der Mann auf dem seinen. Notwendig muss sich dies auf jeder niederen oder höheren Stufe bewähren. Zu der den Mandiokabau mit klugem Verständnis betreibenden Indianerin findet sich das Gegenstück bereits im reinen

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Zitationshilfe: Steinen, Karl von den: Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Berlin, 1894, S. 214. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinen_naturvoelker_1894/258>, abgerufen am 21.11.2024.