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Steinen, Karl von den: Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Berlin, 1894.

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Kulisehu-Tafel II bei dem Nahuquaporträt. Während der Hals mehrfach einer
Stange ähnelt, geht hier die Schulterlinie wie auch bei Perrot, Kulisehu I, quer
durch die Mundgegend. Sie verbreitert sich zum Fünffachen der Hüftbreite, die
allerdings in der ersten Auflage nebenan sogar auf einen Punkt zusammenschrumpft.
Die Beine kommen überall am schlechtesten fort. In der schlimmsten Missgeburt,
Kulisehu II links unten, fehlen sie, nach der sonstigen Lage der Sexualia zu
urteilen, und die Zehen sitzen am Rumpf. Man könnte, wenn nur dieses eine
Bildnis vorläge, die Seitenlängsstriche auch für Beine erklären, die in der Achsel-
höhe entsprängen, allein der Rumpf ist seltsamer Weise bei allen Kulisehuporträts
unten nicht geschlossen, ja bei meinem und Wilhelm's Porträt, Kulisehu I,
auch nicht der Kopf! Nur der Nahuqua behandelt, wenigstens in seiner ersten
Aufnahme, den Leib als ein Dreieck. Die Seitenkonturen des Rumpfes schwenken,
ohne sich zu vereinigen, im Winkel nach aussenhin ab -- bei Wilhelm, Kulisehu I,
fast horizontal -- erhalten nach kurzem Verlauf, ohne Knie, ohne Fuss, am Ende
jederseits ein Strichelchen angesetzt, und diese dreizehigen Hühnerläufe sind
dann menschliche, sind meine Beine. "Du gleichst dem Geist, den du begreifst,
nicht mir!" Bei ihrer Kürze sind die Beine meist noch ungleich, auch wo der
Rumpf geschlossen ist, vgl. den fidelen Wilhelm, Bororo I.

Die Zahl der Finger und Zehen verdient besondere Aufmerksamkeit.
Sollte Jemand von uns, der Jäger ist, einen Hirschkopf skizzieren, so wird er
darauf bedacht sein, ihn mit einer bestimmten Geweihform, welche immer ihm
grade vorschweben mag, auszustatten. Ein beliebiger Anderer dagegen achtet
kaum auf ein Weniger oder Mehr der Sprossen, nicht einmal, wenn er ein vor-
handenes Vorbild flüchtig abzeichnet, er ist zufrieden, wenn er eine Anzahl
Sprossen in einer sehr fragwürdigen Art der Verästelung dem Kopf aufgesetzt
hat. Nur wird es seinem Anspruch an ein Hirschgeweih nicht genügen, zwei
Gabeln zu zeichnen, er wird mindestens je drei Sprossen anbringen. Ebenso
wenn ich eine kleine Tanne schematisiere, so sind hier mein Minimum drei Paar
an einem Vertikalstrich symmetrisch angesetzter Schrägstriche, das Ganze unten
durch eine Horizontallinie abgeschlossen; zwei Paar würden schon ein Bäumchen,
aber noch kein Tännchen sein. Also ohne dass ich zähle, liefere ich doch meiner
innern Anschauung gemäss ein Minimum von Teileinheiten. Unsere auf die
Fünfzahl der Finger früh eingedrillten Kinder werden ihr schon bei Zeichnungen
gerecht, die sonst die gröbsten Sünden enthalten, und wo sie noch nicht daran
denken, die Hand wiederzugeben, zeichnen sie bereits richtig fünf Finger. Bei
Zeichnungen der Naturvölker, begegnen wir der Unsicherheit über die Fingerzahl
und namentlich der Dreizahl der Finger mit einer Regelmässigkeit, dass wir hier
wie bei dem Hirschgeweih und der Tanne ein Gesetz anerkennen müssen. Sie
haben sicherlich nicht 1, 2, 3 nachgezählt, und was zu Grunde liegt, kann nur
sein, dass sie sich gedrängt fühlen, mehr als zwei Striche zu liefern, um ihre
vage innere Anschauung wenigstens soweit zu bestimmen, dass keine Gabelung
herauskommt.


Kulisehu-Tafel II bei dem Nahuquáporträt. Während der Hals mehrfach einer
Stange ähnelt, geht hier die Schulterlinie wie auch bei Perrot, Kulisehu I, quer
durch die Mundgegend. Sie verbreitert sich zum Fünffachen der Hüftbreite, die
allerdings in der ersten Auflage nebenan sogar auf einen Punkt zusammenschrumpft.
Die Beine kommen überall am schlechtesten fort. In der schlimmsten Missgeburt,
Kulisehu II links unten, fehlen sie, nach der sonstigen Lage der Sexualia zu
urteilen, und die Zehen sitzen am Rumpf. Man könnte, wenn nur dieses eine
Bildnis vorläge, die Seitenlängsstriche auch für Beine erklären, die in der Achsel-
höhe entsprängen, allein der Rumpf ist seltsamer Weise bei allen Kulisehuporträts
unten nicht geschlossen, ja bei meinem und Wilhelm’s Porträt, Kulisehu I,
auch nicht der Kopf! Nur der Nahuquá behandelt, wenigstens in seiner ersten
Aufnahme, den Leib als ein Dreieck. Die Seitenkonturen des Rumpfes schwenken,
ohne sich zu vereinigen, im Winkel nach aussenhin ab — bei Wilhelm, Kulisehu I,
fast horizontal — erhalten nach kurzem Verlauf, ohne Knie, ohne Fuss, am Ende
jederseits ein Strichelchen angesetzt, und diese dreizehigen Hühnerläufe sind
dann menschliche, sind meine Beine. »Du gleichst dem Geist, den du begreifst,
nicht mir!« Bei ihrer Kürze sind die Beine meist noch ungleich, auch wo der
Rumpf geschlossen ist, vgl. den fidelen Wilhelm, Bororó I.

Die Zahl der Finger und Zehen verdient besondere Aufmerksamkeit.
Sollte Jemand von uns, der Jäger ist, einen Hirschkopf skizzieren, so wird er
darauf bedacht sein, ihn mit einer bestimmten Geweihform, welche immer ihm
grade vorschweben mag, auszustatten. Ein beliebiger Anderer dagegen achtet
kaum auf ein Weniger oder Mehr der Sprossen, nicht einmal, wenn er ein vor-
handenes Vorbild flüchtig abzeichnet, er ist zufrieden, wenn er eine Anzahl
Sprossen in einer sehr fragwürdigen Art der Verästelung dem Kopf aufgesetzt
hat. Nur wird es seinem Anspruch an ein Hirschgeweih nicht genügen, zwei
Gabeln zu zeichnen, er wird mindestens je drei Sprossen anbringen. Ebenso
wenn ich eine kleine Tanne schematisiere, so sind hier mein Minimum drei Paar
an einem Vertikalstrich symmetrisch angesetzter Schrägstriche, das Ganze unten
durch eine Horizontallinie abgeschlossen; zwei Paar würden schon ein Bäumchen,
aber noch kein Tännchen sein. Also ohne dass ich zähle, liefere ich doch meiner
innern Anschauung gemäss ein Minimum von Teileinheiten. Unsere auf die
Fünfzahl der Finger früh eingedrillten Kinder werden ihr schon bei Zeichnungen
gerecht, die sonst die gröbsten Sünden enthalten, und wo sie noch nicht daran
denken, die Hand wiederzugeben, zeichnen sie bereits richtig fünf Finger. Bei
Zeichnungen der Naturvölker, begegnen wir der Unsicherheit über die Fingerzahl
und namentlich der Dreizahl der Finger mit einer Regelmässigkeit, dass wir hier
wie bei dem Hirschgeweih und der Tanne ein Gesetz anerkennen müssen. Sie
haben sicherlich nicht 1, 2, 3 nachgezählt, und was zu Grunde liegt, kann nur
sein, dass sie sich gedrängt fühlen, mehr als zwei Striche zu liefern, um ihre
vage innere Anschauung wenigstens soweit zu bestimmen, dass keine Gabelung
herauskommt.


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[254/0308] Kulisehu-Tafel II bei dem Nahuquáporträt. Während der Hals mehrfach einer Stange ähnelt, geht hier die Schulterlinie wie auch bei Perrot, Kulisehu I, quer durch die Mundgegend. Sie verbreitert sich zum Fünffachen der Hüftbreite, die allerdings in der ersten Auflage nebenan sogar auf einen Punkt zusammenschrumpft. Die Beine kommen überall am schlechtesten fort. In der schlimmsten Missgeburt, Kulisehu II links unten, fehlen sie, nach der sonstigen Lage der Sexualia zu urteilen, und die Zehen sitzen am Rumpf. Man könnte, wenn nur dieses eine Bildnis vorläge, die Seitenlängsstriche auch für Beine erklären, die in der Achsel- höhe entsprängen, allein der Rumpf ist seltsamer Weise bei allen Kulisehuporträts unten nicht geschlossen, ja bei meinem und Wilhelm’s Porträt, Kulisehu I, auch nicht der Kopf! Nur der Nahuquá behandelt, wenigstens in seiner ersten Aufnahme, den Leib als ein Dreieck. Die Seitenkonturen des Rumpfes schwenken, ohne sich zu vereinigen, im Winkel nach aussenhin ab — bei Wilhelm, Kulisehu I, fast horizontal — erhalten nach kurzem Verlauf, ohne Knie, ohne Fuss, am Ende jederseits ein Strichelchen angesetzt, und diese dreizehigen Hühnerläufe sind dann menschliche, sind meine Beine. »Du gleichst dem Geist, den du begreifst, nicht mir!« Bei ihrer Kürze sind die Beine meist noch ungleich, auch wo der Rumpf geschlossen ist, vgl. den fidelen Wilhelm, Bororó I. Die Zahl der Finger und Zehen verdient besondere Aufmerksamkeit. Sollte Jemand von uns, der Jäger ist, einen Hirschkopf skizzieren, so wird er darauf bedacht sein, ihn mit einer bestimmten Geweihform, welche immer ihm grade vorschweben mag, auszustatten. Ein beliebiger Anderer dagegen achtet kaum auf ein Weniger oder Mehr der Sprossen, nicht einmal, wenn er ein vor- handenes Vorbild flüchtig abzeichnet, er ist zufrieden, wenn er eine Anzahl Sprossen in einer sehr fragwürdigen Art der Verästelung dem Kopf aufgesetzt hat. Nur wird es seinem Anspruch an ein Hirschgeweih nicht genügen, zwei Gabeln zu zeichnen, er wird mindestens je drei Sprossen anbringen. Ebenso wenn ich eine kleine Tanne schematisiere, so sind hier mein Minimum drei Paar an einem Vertikalstrich symmetrisch angesetzter Schrägstriche, das Ganze unten durch eine Horizontallinie abgeschlossen; zwei Paar würden schon ein Bäumchen, aber noch kein Tännchen sein. Also ohne dass ich zähle, liefere ich doch meiner innern Anschauung gemäss ein Minimum von Teileinheiten. Unsere auf die Fünfzahl der Finger früh eingedrillten Kinder werden ihr schon bei Zeichnungen gerecht, die sonst die gröbsten Sünden enthalten, und wo sie noch nicht daran denken, die Hand wiederzugeben, zeichnen sie bereits richtig fünf Finger. Bei Zeichnungen der Naturvölker, begegnen wir der Unsicherheit über die Fingerzahl und namentlich der Dreizahl der Finger mit einer Regelmässigkeit, dass wir hier wie bei dem Hirschgeweih und der Tanne ein Gesetz anerkennen müssen. Sie haben sicherlich nicht 1, 2, 3 nachgezählt, und was zu Grunde liegt, kann nur sein, dass sie sich gedrängt fühlen, mehr als zwei Striche zu liefern, um ihre vage innere Anschauung wenigstens soweit zu bestimmen, dass keine Gabelung herauskommt.

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Zitationshilfe: Steinen, Karl von den: Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Berlin, 1894, S. 254. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinen_naturvoelker_1894/308>, abgerufen am 24.11.2024.