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Steinen, Karl von den: Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Berlin, 1894.

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Dass man jedoch alle "ungewöhnlichen" Dinge einfach durch Zauberei erklären
kann, liegt eben daran, dass der Begriff der Gesetzmässigkeit fehlt. Man ist noch
nicht in der Lage, scharf zu sehen Ja, je ungewöhnlicher der Vorgang ist, desto
lieber hört man von ihm erzählen und desto fester wird er deshalb geglaubt.

Bei Weitem der wichtigste Fall von dem Mangel begrifflicher Scheidewände,
der unserm Empfinden und Denken gleichzeitig am schwersten zugänglich ist,
betrifft das Verhältnis des Menschen zu den Tieren und der einzelnen
Tiergattungen zu einander
. Wir sagen, der Eingeborene anthropomorphisiert
in seinen "Märchen", er lässt die Tiere reden und handeln wie Menschen. Das
ist von unserm Standpunkt aus richtig, aber wenn wir glauben wollten, er statte
die Tiere nur zu dem Zweck, eine hübsche Geschichte zu erzählen, mit mensch-
lichen Eigenschaften aus, so wäre das ein gewaltiges Missverstehen, es hiesse
nicht mehr und nicht weniger, als ihm all sein Glauben und Wissen wegdisputieren.
Sein Glauben: denn in die wunderbaren Geschichten, die er von den Tieren be-
richtet, setzt er dasselbe Vertrauen, wie jeder überzeugte Christ in die Wunder
der Bibel; sein Wissen: denn er könnte die ihn umgebende Welt ohne seine
Märchentiere ebenso wenig begreifen als der Physiker die Kraftzentren ohne Stoff-
atome -- si parva licet componere magnis.

Wir müssen uns die Grenzen zwischen Mensch und Tier voll-
ständig wegdenken
. Ein beliebiges Tier kann klüger oder dümmer, stärker
oder schwächer sein als der Indianer, es kann ganz andere Lebensgewohnheiten
haben, allein es ist in seinen Augen eine Person genau so wie er selbst, die
Tiere sind wie die Menschen zu Familien und Stämmen vereinigt, sie haben ver-
schiedene Sprachen wie die menschlichen Stämme, allein Mensch, Jaguar, Reh,
Vogel, Fisch, es sind alles nur Personen verschiedenen Aussehens und verschiedener
Eigenschaften. Man braucht nur ein Medizinmann, der Alles kann, zu sein, so kann
man sich von einer Person in die andere verwandeln, so versteht man auch alle
Sprachen, die im Wald oder in der Luft oder im Wasser gesprochen werden. Der
tiefere Grund für diese Anschauung liegt darin, dass es noch keine ethische
Menschlichkeit
giebt; es giebt ein Schlechtsein und Gutsein nur in dem groben
Sinn, dass man Andern Unangenehmes oder Angenehmes zufügt, aber die sittliche
Erkenntnis und das ideale, weder durch Aussicht auf Lohn, noch durch Furcht vor
Strafe geleitete Wollen fehlt ganz und gar. Wie sollte da eine unübersteigliche Kluft
zwischen Mensch und Tier angenommen werden? Die äusserliche Betrachtung
der Lebensgewohnheiten, auf die sich der Indianer beschränkt, kann dem Menschen
höchstens die Stellung des primus inter pares zuweisen. Das Tier hat freilich
nicht Pfeil und Bogen und Maisstampfer, aber das ist auch der Hauptunterschied
in den Augen des Indianers, und deshalb entstehen die Männer aus Pfeilen, die
Frauen aus Maisstampfern, doch hat es z. B. auch ebenso wie der Mensch wichtige
Werkzeuge wie Zähne und Klauen, die er ihm ja erst wegnimmt.

Es fehlt dem Indianer ferner unsere Abgrenzung der Arten gegeneinander, inso-
fern sich die eine nicht mit der andern vermischt. Dieser Unterschied, den die Er-

Dass man jedoch alle »ungewöhnlichen« Dinge einfach durch Zauberei erklären
kann, liegt eben daran, dass der Begriff der Gesetzmässigkeit fehlt. Man ist noch
nicht in der Lage, scharf zu sehen Ja, je ungewöhnlicher der Vorgang ist, desto
lieber hört man von ihm erzählen und desto fester wird er deshalb geglaubt.

Bei Weitem der wichtigste Fall von dem Mangel begrifflicher Scheidewände,
der unserm Empfinden und Denken gleichzeitig am schwersten zugänglich ist,
betrifft das Verhältnis des Menschen zu den Tieren und der einzelnen
Tiergattungen zu einander
. Wir sagen, der Eingeborene anthropomorphisiert
in seinen »Märchen«, er lässt die Tiere reden und handeln wie Menschen. Das
ist von unserm Standpunkt aus richtig, aber wenn wir glauben wollten, er statte
die Tiere nur zu dem Zweck, eine hübsche Geschichte zu erzählen, mit mensch-
lichen Eigenschaften aus, so wäre das ein gewaltiges Missverstehen, es hiesse
nicht mehr und nicht weniger, als ihm all sein Glauben und Wissen wegdisputieren.
Sein Glauben: denn in die wunderbaren Geschichten, die er von den Tieren be-
richtet, setzt er dasselbe Vertrauen, wie jeder überzeugte Christ in die Wunder
der Bibel; sein Wissen: denn er könnte die ihn umgebende Welt ohne seine
Märchentiere ebenso wenig begreifen als der Physiker die Kraftzentren ohne Stoff-
atome — si parva licet componere magnis.

Wir müssen uns die Grenzen zwischen Mensch und Tier voll-
ständig wegdenken
. Ein beliebiges Tier kann klüger oder dümmer, stärker
oder schwächer sein als der Indianer, es kann ganz andere Lebensgewohnheiten
haben, allein es ist in seinen Augen eine Person genau so wie er selbst, die
Tiere sind wie die Menschen zu Familien und Stämmen vereinigt, sie haben ver-
schiedene Sprachen wie die menschlichen Stämme, allein Mensch, Jaguar, Reh,
Vogel, Fisch, es sind alles nur Personen verschiedenen Aussehens und verschiedener
Eigenschaften. Man braucht nur ein Medizinmann, der Alles kann, zu sein, so kann
man sich von einer Person in die andere verwandeln, so versteht man auch alle
Sprachen, die im Wald oder in der Luft oder im Wasser gesprochen werden. Der
tiefere Grund für diese Anschauung liegt darin, dass es noch keine ethische
Menschlichkeit
giebt; es giebt ein Schlechtsein und Gutsein nur in dem groben
Sinn, dass man Andern Unangenehmes oder Angenehmes zufügt, aber die sittliche
Erkenntnis und das ideale, weder durch Aussicht auf Lohn, noch durch Furcht vor
Strafe geleitete Wollen fehlt ganz und gar. Wie sollte da eine unübersteigliche Kluft
zwischen Mensch und Tier angenommen werden? Die äusserliche Betrachtung
der Lebensgewohnheiten, auf die sich der Indianer beschränkt, kann dem Menschen
höchstens die Stellung des primus inter pares zuweisen. Das Tier hat freilich
nicht Pfeil und Bogen und Maisstampfer, aber das ist auch der Hauptunterschied
in den Augen des Indianers, und deshalb entstehen die Männer aus Pfeilen, die
Frauen aus Maisstampfern, doch hat es z. B. auch ebenso wie der Mensch wichtige
Werkzeuge wie Zähne und Klauen, die er ihm ja erst wegnimmt.

Es fehlt dem Indianer ferner unsere Abgrenzung der Arten gegeneinander, inso-
fern sich die eine nicht mit der andern vermischt. Dieser Unterschied, den die Er-

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[351/0415] Dass man jedoch alle »ungewöhnlichen« Dinge einfach durch Zauberei erklären kann, liegt eben daran, dass der Begriff der Gesetzmässigkeit fehlt. Man ist noch nicht in der Lage, scharf zu sehen Ja, je ungewöhnlicher der Vorgang ist, desto lieber hört man von ihm erzählen und desto fester wird er deshalb geglaubt. Bei Weitem der wichtigste Fall von dem Mangel begrifflicher Scheidewände, der unserm Empfinden und Denken gleichzeitig am schwersten zugänglich ist, betrifft das Verhältnis des Menschen zu den Tieren und der einzelnen Tiergattungen zu einander. Wir sagen, der Eingeborene anthropomorphisiert in seinen »Märchen«, er lässt die Tiere reden und handeln wie Menschen. Das ist von unserm Standpunkt aus richtig, aber wenn wir glauben wollten, er statte die Tiere nur zu dem Zweck, eine hübsche Geschichte zu erzählen, mit mensch- lichen Eigenschaften aus, so wäre das ein gewaltiges Missverstehen, es hiesse nicht mehr und nicht weniger, als ihm all sein Glauben und Wissen wegdisputieren. Sein Glauben: denn in die wunderbaren Geschichten, die er von den Tieren be- richtet, setzt er dasselbe Vertrauen, wie jeder überzeugte Christ in die Wunder der Bibel; sein Wissen: denn er könnte die ihn umgebende Welt ohne seine Märchentiere ebenso wenig begreifen als der Physiker die Kraftzentren ohne Stoff- atome — si parva licet componere magnis. Wir müssen uns die Grenzen zwischen Mensch und Tier voll- ständig wegdenken. Ein beliebiges Tier kann klüger oder dümmer, stärker oder schwächer sein als der Indianer, es kann ganz andere Lebensgewohnheiten haben, allein es ist in seinen Augen eine Person genau so wie er selbst, die Tiere sind wie die Menschen zu Familien und Stämmen vereinigt, sie haben ver- schiedene Sprachen wie die menschlichen Stämme, allein Mensch, Jaguar, Reh, Vogel, Fisch, es sind alles nur Personen verschiedenen Aussehens und verschiedener Eigenschaften. Man braucht nur ein Medizinmann, der Alles kann, zu sein, so kann man sich von einer Person in die andere verwandeln, so versteht man auch alle Sprachen, die im Wald oder in der Luft oder im Wasser gesprochen werden. Der tiefere Grund für diese Anschauung liegt darin, dass es noch keine ethische Menschlichkeit giebt; es giebt ein Schlechtsein und Gutsein nur in dem groben Sinn, dass man Andern Unangenehmes oder Angenehmes zufügt, aber die sittliche Erkenntnis und das ideale, weder durch Aussicht auf Lohn, noch durch Furcht vor Strafe geleitete Wollen fehlt ganz und gar. Wie sollte da eine unübersteigliche Kluft zwischen Mensch und Tier angenommen werden? Die äusserliche Betrachtung der Lebensgewohnheiten, auf die sich der Indianer beschränkt, kann dem Menschen höchstens die Stellung des primus inter pares zuweisen. Das Tier hat freilich nicht Pfeil und Bogen und Maisstampfer, aber das ist auch der Hauptunterschied in den Augen des Indianers, und deshalb entstehen die Männer aus Pfeilen, die Frauen aus Maisstampfern, doch hat es z. B. auch ebenso wie der Mensch wichtige Werkzeuge wie Zähne und Klauen, die er ihm ja erst wegnimmt. Es fehlt dem Indianer ferner unsere Abgrenzung der Arten gegeneinander, inso- fern sich die eine nicht mit der andern vermischt. Dieser Unterschied, den die Er-

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Zitationshilfe: Steinen, Karl von den: Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Berlin, 1894, S. 351. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinen_naturvoelker_1894/415>, abgerufen am 21.11.2024.