Indem nun der Geist die durch solches fortdauernde Sich- Versenken der Thätigkeit in immer mehr Sein organisch ent- standene reale Welt durch eine ebenfalls organische Entwicke- lung geistig reproduciren soll, befindet sich diese zur realen Ent- wickelung in einer entgegengesetzten Richtung. Denn während in der realen Entwickelung der allgemeinste Gegensatz der Ausgangspunkt war, von dem aus sie durch die immer wachsende Besonderheit des Seins endlich zum Individuum gelangte, "geht hingegen die geistige Entwickelung der Begriffe von der sinnlichen Anschauung aus, in der sich die Dinge in ihrer letzten Besonderheit als Individuen und nicht als zu einer Einheit verbundene Gegensätze, sondern als in sich iden- tische Dinge darstellen; und es ist die Natur des Geistes, daß er strebt, alle Besonderheiten des Seins wieder frei zu machen und in ein Allgemeines zurückzuführen. Was also in der Entwickelung der Dinge das Erste ist, wird in der geistigen das Letzte sein, und umgekehrt."
"Der assimilirende Vorgang, durch welchen der Geist die reale Welt in sich aufnimmt, wird aber nur dadurch möglich, daß in dem Realen und in dem Geiste ein beiden Gemeinsa- mes liegt. Dieses Gemeinsame ist nun nichts anderes als die Thätigkeit, welche in der Entwickelung der realen Welt das Erste und Allgemeinste ist, und zugleich das eigentliche Wesen des Geistes ausmacht; und der Geist erkennt in der Thätigkeit, die ihm in der realen Welt entgegentritt, sein eigenes Wesen." In wiefern hätte denn aber hierdurch der Geist irgend etwas, was ihn besonders zur Erkenntniß fähig macht? Daß in ihm Thätigkeit ist, versteht sich von selbst, da in allen Dingen Thätigkeit ist. Auch im Stein, im Metall ist Thätigkeit; also müßten einerseits auch diese Dinge Erkenntniß haben. Aber auch andererseits ist nicht einzusehen, wie das Wesen des Gei- stes vorzugsweise und mehr als das Wesen der übrigen Dinge in der Thätigkeit liege, nicht im Sein; denn "je weiter sich die Dinge in der Besonderheit entwickeln," d. h. je mehr sie sich von der obersten Allgemeinheit, der umfassendsten Gattung ent- fernen und der Realität, dem Individuum nähern, "desto mehr wird in ihnen das Sein das vorwaltende Moment;" also ist im Thier mehr Sein als in der Materie, im Säugethier mehr als im Thier, am meisten in diesem individuellen Löwen. Der Geist
§. 34. Arten der Begriffe.
Indem nun der Geist die durch solches fortdauernde Sich- Versenken der Thätigkeit in immer mehr Sein organisch ent- standene reale Welt durch eine ebenfalls organische Entwicke- lung geistig reproduciren soll, befindet sich diese zur realen Ent- wickelung in einer entgegengesetzten Richtung. Denn während in der realen Entwickelung der allgemeinste Gegensatz der Ausgangspunkt war, von dem aus sie durch die immer wachsende Besonderheit des Seins endlich zum Individuum gelangte, „geht hingegen die geistige Entwickelung der Begriffe von der sinnlichen Anschauung aus, in der sich die Dinge in ihrer letzten Besonderheit als Individuen und nicht als zu einer Einheit verbundene Gegensätze, sondern als in sich iden- tische Dinge darstellen; und es ist die Natur des Geistes, daß er strebt, alle Besonderheiten des Seins wieder frei zu machen und in ein Allgemeines zurückzuführen. Was also in der Entwickelung der Dinge das Erste ist, wird in der geistigen das Letzte sein, und umgekehrt.“
„Der assimilirende Vorgang, durch welchen der Geist die reale Welt in sich aufnimmt, wird aber nur dadurch möglich, daß in dem Realen und in dem Geiste ein beiden Gemeinsa- mes liegt. Dieses Gemeinsame ist nun nichts anderes als die Thätigkeit, welche in der Entwickelung der realen Welt das Erste und Allgemeinste ist, und zugleich das eigentliche Wesen des Geistes ausmacht; und der Geist erkennt in der Thätigkeit, die ihm in der realen Welt entgegentritt, sein eigenes Wesen.“ In wiefern hätte denn aber hierdurch der Geist irgend etwas, was ihn besonders zur Erkenntniß fähig macht? Daß in ihm Thätigkeit ist, versteht sich von selbst, da in allen Dingen Thätigkeit ist. Auch im Stein, im Metall ist Thätigkeit; also müßten einerseits auch diese Dinge Erkenntniß haben. Aber auch andererseits ist nicht einzusehen, wie das Wesen des Gei- stes vorzugsweise und mehr als das Wesen der übrigen Dinge in der Thätigkeit liege, nicht im Sein; denn „je weiter sich die Dinge in der Besonderheit entwickeln,“ d. h. je mehr sie sich von der obersten Allgemeinheit, der umfassendsten Gattung ent- fernen und der Realität, dem Individuum nähern, „desto mehr wird in ihnen das Sein das vorwaltende Moment;“ also ist im Thier mehr Sein als in der Materie, im Säugethier mehr als im Thier, am meisten in diesem individuellen Löwen. Der Geist
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§. 34. Arten der Begriffe.
Indem nun der Geist die durch solches fortdauernde Sich-
Versenken der Thätigkeit in immer mehr Sein organisch ent-
standene reale Welt durch eine ebenfalls organische Entwicke-
lung geistig reproduciren soll, befindet sich diese zur realen Ent-
wickelung in einer entgegengesetzten Richtung. Denn
während in der realen Entwickelung der allgemeinste Gegensatz
der Ausgangspunkt war, von dem aus sie durch die immer
wachsende Besonderheit des Seins endlich zum Individuum
gelangte, „geht hingegen die geistige Entwickelung der Begriffe
von der sinnlichen Anschauung aus, in der sich die Dinge in
ihrer letzten Besonderheit als Individuen und nicht als zu
einer Einheit verbundene Gegensätze, sondern als in sich iden-
tische Dinge darstellen; und es ist die Natur des Geistes, daß
er strebt, alle Besonderheiten des Seins wieder frei zu machen
und in ein Allgemeines zurückzuführen. Was also in der
Entwickelung der Dinge das Erste ist, wird in der
geistigen das Letzte sein, und umgekehrt.“
„Der assimilirende Vorgang, durch welchen der Geist die
reale Welt in sich aufnimmt, wird aber nur dadurch möglich,
daß in dem Realen und in dem Geiste ein beiden Gemeinsa-
mes liegt. Dieses Gemeinsame ist nun nichts anderes als die
Thätigkeit, welche in der Entwickelung der realen Welt das
Erste und Allgemeinste ist, und zugleich das eigentliche Wesen
des Geistes ausmacht; und der Geist erkennt in der Thätigkeit,
die ihm in der realen Welt entgegentritt, sein eigenes Wesen.“
In wiefern hätte denn aber hierdurch der Geist irgend etwas,
was ihn besonders zur Erkenntniß fähig macht? Daß in ihm
Thätigkeit ist, versteht sich von selbst, da in allen Dingen
Thätigkeit ist. Auch im Stein, im Metall ist Thätigkeit; also
müßten einerseits auch diese Dinge Erkenntniß haben. Aber
auch andererseits ist nicht einzusehen, wie das Wesen des Gei-
stes vorzugsweise und mehr als das Wesen der übrigen Dinge
in der Thätigkeit liege, nicht im Sein; denn „je weiter sich die
Dinge in der Besonderheit entwickeln,“ d. h. je mehr sie sich
von der obersten Allgemeinheit, der umfassendsten Gattung ent-
fernen und der Realität, dem Individuum nähern, „desto mehr
wird in ihnen das Sein das vorwaltende Moment;“ also ist im
Thier mehr Sein als in der Materie, im Säugethier mehr als im
Thier, am meisten in diesem individuellen Löwen. Der Geist
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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 84. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/122>, abgerufen am 21.11.2024.
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